LA TRAVIATA
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Premiere vor Publikum
Staatsoper
5. September 2021

Musikalische Leitung: Nicola Luisotti

Inszenierung: Simon Stone
Bühne: Bob Cousins
Kostüme: Alice Babidge
Licht: James Farncombe
Video: Zakk Hein



Violetta Valery - Pretty Yende
Alfredo Germont - Frédéric Antoun
Giorgio Germont - Ludovic Tézier
Flora Bervoix - Szilvia Vörös
Annina -
Stephanie Maitland
Gaston - Carlos Osuna
Baron Douphol -
Sergey Kaydalov
Marquis d'Obigny - Michael Arivony
Dottore Grenvil - Ilja Kazakov
Giuseppe - Dritan Luca



Social-Media-Violetta
(Dominik Troger
)

Die Pandemie hat die letzte Staatsopernsaison gehörig durcheinander gewirbelt. Einige Neuproduktionen wurden zwar für Streams erarbeitet, werden aber erst jetzt im Haus dem Publikum vorgestellt. Die neue „La traviata“ in der Inszenierung von Simon Stone zählt dazu.

Gestreamt wurde die bis dato einzige Aufführung der von der Pariser Oper nach Wien geholten Neuproduktion im März 2021. Sie musste ein halbes Jahr warten, um endlich vor Publikum gespielt werden zu können. In dieser zeitverzögerten „echten“ Premiere verkörperte wieder Pretty Yende die Violetta, die beiden anderen Hauptrollen wurden aber neu besetzt. Wegen des Gesundheitsnotstandes im Frühjahr hat Frédéric Antoun, der vorgesehene Alfredo, nicht aus Kanada anreisen können, mit dieser Vorstellung feierte er sein Hausdebüt. Ludovic Tézier, als Scarpia in den letzten Wochen vielbeschäftigt, durfte sich vom Bösewicht zum Vater wandeln, dem zu Violettas Leidwesen das Wohlergehen der Familie schwer am Herzen liegt.

Über die Inszenierung wurde schon anlässlich des Streams ausführlich „referiert“ (siehe: Link). Violetta lebt als „Influencerin“ und Clubbing-Ikone in einem modernen Paris. Ob man den Ausbeutungscharakter, dem sich „Influencer“ in Social-Media-Netzwerken unterwerfen, auf Kurtisanentum im weitesten Sinne umlegen kann, das ist natürlich die Frage. Die Idee ist nicht ganz „daneben“, aber natürlich kann man sich an vielen Details stoßen.Es fällt auf, dass Violetta laut Inhaltsangabe im Programmheft als „ein käufliches Wunschobjekt der Pariser Gesellschaft“ charakterisiert wird. Das ist so schön und jugendfrei formuliert, dass es höchsten moralischen Ansprüchen genügt. Aber warum macht sich Papa Germont wegen dieser Beziehung dann solche Sorgen? Würde Violetta als Geheimprostituierte arbeiten, dann wäre man sich über diesen Punkt weniger im Unklaren. Stones Versuch „sozialkritisch“ zu werden, geht übrigens in der Bilderflut der Inszenierung ziemlich unter – und Violetta stirbt an Krebs. (Und wahrscheinlich könnte man stundenlang darüber referieren, ob und wie das Krankheitsbild der Schwindsucht Bestandteil des Librettos, der Musik und von Violettas Persönlichkeit ist. Nur weil die Tuberkulose in Mitteleuropa kaum eine Rolle spielt, ist sie nicht aus der Welt. Die WHO weist im globalen TBC-Report des Jahres 2020 für 2019 weltweit rund 1,4 Mio. Todesfälle und rund 10 Mio. Neuerkrankungen aus.)

Simon Stone arbeitet mit massivem Drehnbüheneinsatz, die Logistik hinter der Szene ist gefordert: ein roter Traktor für ein paar Minuten, ein fesches Auto, diese meterhohe Sektglaspyramide, ein kurzer Aufenthalt im Infusionszimmer, eine Szene mit Krankenbett, der Müllraum von einer Clubbing-Location, eine Telefonzelle mit rauchender Nonne und, und, und. Immer wieder bombardieren große Videowände das Publikum mit überdimensionalen Violetta-Close-ups: ihr Gesicht, ihre belidschatteten Augen, ihr Kopf und Alfredos Kopf in glücklicher Zweisamkeit, dazu gesellen sich Chatverläufe, Instagram u.a.m. Die Bilderflut kann stellenweise sehr störend sein und ablenken – und im Finale schreitet Violetta noch gefühlte Kilometer die Drehbühne ab, ehe sie durch einen von weißem Licht erfüllten Kulissenspalt tränenheischend in den Himmel schreitet.

Pretty Yende verkörpert diese Violetta und die Inszenierung ist stark auf sie abgestellt: jung, sexy, ein weltoffener Charakter. Aber die dunkelcremige Mittellage ihres Soprans erblühte erst spät an diesem Abend, sie rührte in Violettas Schwanengesang endlich auch das nötigen Sentiment. Das Publikum ließ sich davon sofort und gern verzaubern – und Yende schien über den Jubel beim Schlussvorhang ganz beglückt. Gerne hat man darüber den ersten Akt vergessen, in dem Yende nicht so souverän agiert hat. Die gesanglich-virtuose Selbstdarstellung geriet bei nicht immer ganz sicherer Intonation ziemlich schaumgebremst.

Frédéric Antoun feierte mit dieser Vorstellung sein verspätetes Hausdebüt. Er sieht gut aus (fast ein bisschen wie Juan Diego Floréz), er kann nett mit Violetta kuscheln und ermöglicht im dritten Akt ein ideales Turteln am Krankenbett – und dann schwingt sein leicht baritonal gefärbter Tenor in angenehmer Lyrik dahin. Seine nicht sehr große, etwas unelastisch wirkende Stimme besitzt einen festen Kern, ist aber von ihrer Ausprägung wohl noch ein gutes Stück vom Alfredo entfernt. Ich hatte außerdem den Eindruck, das Antoun einigermaßen nervös war. Der kurz plätschernde Applaus nach dem  „De‘ miei bollenti spiriti“ wird sein Selbstvertrauen auch nicht gerade beflügelt haben – und er sang die Cabaletta ohne hohem Schlusston.

Ludovic Tézier war an diesem Abend gesanglich eine Klasse für sich. Er verließ sich vor allem auf seinen strömendem Bariton. Als aktentaschenbewehrter Vater ist er in dieser Produktion der vergessene Trittbrettfahrer des Regiekonzepts. Denn die Skrupel der Germont-Familie hat Simon Stone nicht in den Griff bekommen. Vater Germont sang ebenfalls seine Cabaletta – und nützte sie (im Gegensatz zu seinem Sohn), um das Publikum mitzureißen. Die übrigen Mitwirkenden waren rollendeckend besetzt. Unter bekannte Ensemblemitglieder mischten sich neue Namen, nicht immer zu ihrem Besten. Der Chor musste sich fürs Pariser Nachtleben kostümieren, zum Glück hat er viel besser gesungen, als die geschmacklose Kostümierung hätte erwarten lassen.

Das Staatsopernorchester unter Nicola Luisetti hat schon viel zündendere Verdiabende gespielt und süffiger geklungen. Der erste Akt hinterließ bei mir einen durchwegs enttäuschenden Eindruck, die Aufführung steigerte sich ab dem zweiten Akt. Der Schlussapplaus dauerte rund acht Minuten lang, er war stark, aber nicht enthusiastisch. Das Regieteam war nicht anwesend, also konnte sich bei ihm niemand lautstark beschweren.