LUCIO SILLA

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Theater an der Wien
4. März 2006
Wiederaufnahme der Festwochen-Koproduktion vom Mai 2005

Dirigent: Nikolaus Harnoncourt

Inszenierung: Claus Guth
Bühnebild & Kostüme: Christian Schmidt
Licht: Manfred Voss

Concentus Musicus Wien
Arnold Schönberg Chor

Lucio Silla - Michael Schade
Giunia - Patricia Petibon
Cecilio -
Bernarda Fink
Cinna - Annette Dasch
Celia -
Martina Janková
Aufidio - Cornel Frey


Von der Triebhaftigkeit des Diktators
(Dominik Troger)

Die Wiederaufnahme des „Lucio Silla“ im Theater an der Wien hat alle Erwartungen erfüllt. Das ist Musik-Theater intravenös. Über drei Stunden Mozart in aufwühlender, ins Blut gehender Interpretation: sowohl musikalisch als auch szenisch.

Auch das kann der junge Mozart sein: ein emotionsgeladenes Spannungsfeld, von Untergang bedroht, von Liebeshoffnung vorangetrieben, in dem sich die einzelnen Arien wie kleine Dynamos kreiselhaft um sich selber drehen. Diese Arien sind voller sinnlicher Aggression, perpetuieren sich bis zur Erschöpfung, springen eruptiv aus den Rezitativen, in dem sie die Handlung zu neuen und immer neuen Höhepunkten weiterführen. Das erzeugt Energie – und was für eine. Vom ersten Takt der Ouvertüre an bis zum zwiespältigen Ende: keine Note wird hier vergeudet, kein Atemzug verschwendet. Sogar die technische Tücke der Koloratur wird zum selbstverständlichsten Werkzeug menschliches Ausdrucks – ein Erschrecken, ein Seufzen, ein neckisches Spiel unter Verliebten.

Das kraftvolle dramatische Potential, das in diesem Geniestreich eines 16-jährigen steckt, wird in dieser Produktion minutiös bloßgelegt: durch eine „beredte“ musikalische Wiedergabe, durch eine intensive, bis in den Augenaufschlag komponierte Gestik, durch eine exzellente Personenführung und ein genau auf dem Scheitelpunkt der Emotionen plaziertes Regiekonzept. Ich bin in meiner Besprechung der vorjährigen Festwochen-Aufführung auf all diese Fakten im Detail eingegangen, man kann es hier nachlesen: Aufführung vom 14.Mai 2005. Das damals Geschriebene ist getrost auf diese zweite Aufführungsserie anwendbar, auch was die Besetzung betrifft – bis auf eine Ausnahme: in die Rolle des Lucio Silla war diesmal Michael Schade geschlüpft, anstelle von Kurt Streit.

In diese Inszenierung einzusteigen war sicher eine große Herausforderung. Denn die Personenführung ist von einer hohen Detailschärfe und man kann sich nicht mit Standardgesten über die Runden helfen. Mag sein, dass sich Kurt Streit auf die akrobatischen Einlagen im ersten Stock des bullaugenbefensterten „Silla’schen Forums“ intensiver eingelassen hat – das Schwanken über dem Abgrund, eine Parallelisierung von Sillas prekärem Bewusstseinszustand, bedarf nicht nur eines schwindelfreien Organismus – aber es wirkte auch bei Michael Schade bedrohlich genug. Der eigentliche Unterschied zeigte sich woanders: Schade formte seinen Lucio Silla aus naturhafter Getriebenheit. Bei Streit konnte man sich am Schluss noch in einer gewissen Sicherheit wiegen, denn es schien möglich, dass seine Vernunft wirklich obsiegt hätte, dass es ihm gelungen wäre, den Knoten in seinem Denken und Fühlen zu lösen – bei Schade wütete ein animalischer Wahn der (Selbst-)Zerstörung, ein krankhaftes (Selbst-)Zerfleischen, das am Ende der Oper seinen perfiden Höhepunkt erreicht. Dadurch hat sich für mich die regiegewollte Indifferenz dieses Schlussbildes stärker ins eindeutig Negative verschoben.

Doch dieser Unterschied in der Ausführung des Charakters ist nachvollziehbar: Schade besitzt das natürlichere, reichere Timbre, dem der mehr aus dem Intellekt gespeiste Wahnsinn eines Kurt Streit weniger konveniert. Schade kann zwischen liebeswerbendem Schmeicheln und schwellender Zornesader stärker differenzieren, und zwischen geheucheltem Piano und wutverzerrtem Forte. Dazu gesellte sich ein von fleischlicherer Üppigkeit genährtes, cäsarenwahnentstelltes Mienenspiel, das in den sprechenden Augen der Patricia Petibon sein hasserfülltes Gegenüber fand. Da sprangen die Funken auf der Bühne und von dort in den Zuschauerraum – und sie sprangen in den Orchestergraben und aus dem Orchestergraben, wo Nikolaus Harnoncourt und der Concentus Musicus das Geschehen auf der Bühne musikalisch mit hoher Dramatik und nuancenreichen Details nachvollzogen.

Apropos Patricia Petibon, ihre filigrane Erscheinung umgürtete sich mit dem Pathos der Treue und der wahren Liebe. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie singt und spielt wie in Trance, getragen von dieser Rolle und Mozarts Musik, die sich bei ihr in eine Rhetorik der Töne auflöst, die einer Ciceronischen Rede gleichkommt.

Der Applaus am Schluss war bravogeschwängert und heftig.