LUCIO SILLA

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Theater an der Wien
Wiener Festwochen

14. Mai 2005

Dirigent: Nikolaus Harnoncourt

Inszenierung: Claus Guth
Bühnebild & Kostüme: Christian Schmidt
Licht: Manfred Voss

Concentus Musicus Wien
Arnold Schönberg Chor

Lucio Silla - Kurt Streit
Giunia - Patricia Petibon
Cecilio -
Bernarda Fink
Cinna - Annette Dasch
Celia -
Martina Janková
Aufidio - Cornel Frey


Vom Wahnsinn der Diktatur
(Dominik Troger)

Grimmig blickt den Besuchern des Theaters an der Wien Lucius Cornelius Sulla Felix vom Umschlag des Programmheftes entgegen. Ein willensstarker Mann, vorgeschobene Backenknochen, die Augen, aus denen Entschlusskraft lodert, von dichten Brauen umschattet – ein Mann der Verantwortung oder ein Mann des Wahnsinns?

[1] Sullas Abdankung am Höhepunkt seiner Macht, ein Diktator, der in Pension geht, das ist eine der seltsamsten Geschichten, die die antike Historie überliefert hat. Was sie verursacht haben mag, quält Studenten im Alte Geschichte-Seminar. Jedenfalls scheint sie, aus dem Blickwinkel eines republikanisch gesinnten Römers betrachtet, nicht ganz absurd. Allerdings, wenige Jahrzehnte später, im Rom der ersten Kaiser, mochte man darüber schon die Stirn gerunzelt haben. Für die Apologeten der Aufklärung im 18. Jahrhundert muss dieses historisch verbriefte Geschehen jedoch ein äußerst ansprechendes Beispiel gewesen sein: konnte man damit doch jeden Herrscher in die Pflicht nehmen. Sulla hat sich von seinem Amt nicht korrumpieren lassen. Das, was getan werden musste, wurde notwendigerweise getan, nicht aus Machtallüren oder zur fürstliche Unterhaltung. Auch den Herrscher regiere also die Tugend der Gerechtigkeit – und – als Gnadengeschenk göttlicher Salbung – das Erbarmen.

[2] Lucio Silla nennt diese Tugenden selbst am Schluss von Mozarts gleichnamiger Oper, die der 16-jährige Komponist für Mailand verfasst hat: „Gerechtigkeit“ und „Erbarmen“. Silla feiert seinen größten Triumph, den „Sieg über das eigene Herz.“ Diese Selbsterkenntnis wird im Laufe eines langen Opernabends schwer errungen. Silla ist von Zweifeln geplagt, seine Liebe zu Giunia bringt ihn an den Rand der Raserei. Groß ist die Verlockung, mit Gewalt zu nehmen, was sich widersetzt. Es gibt „schlechte“ und „gute“ Ratgeber, die sich um den Diktator scharen. Groß ist die Gefahr, die falschen Entscheidungen zu treffen. Doch der Mensch hat die Fähigkeit, sich zu bessern: „Tugend ist machbar!“ Silla fühlt seine Verantwortlichkeit als Herrscher, er entscheidet sich letztlich für den „guten Rat“ – und sorgt dafür, dass Cecilio und Giunia ein Paar werden. Es sind gerade die besonderen Herrscherqualitäten Sillas, die den Ausschlag geben und die Wendung zum Positiven herbeiführen.

[3] Folgt man der Inszenierung von Claus Guth, dann deutet sich das Mienenspiel von Lucius Cornelius Sulla Felix' Marmorbüste anders. Eine indifferente Gefühlswelt waltet in ihm, unausgeglichen und fahrig. Vielleicht hat Guth an Lucio Silla typische Bordeline-Symptome entdeckt? Dass den römischen Diktator eine massive psychische Beeinträchtigung quält, ist für das Publikum schwer zu übersehen. Wenn er mit seinen Emotionen gar nicht mehr aus noch ein kann, beginnt er sich in die Arme zu schneiden. Er sucht seine Identität im Schmerz, hält die Faust in Glutnester – aber nicht aus Standhaftigkeit, sondern aus Verzweiflung. Niemand ist vor Sillas Wankelmut sicher: er verurteilt zum Tode, er begnadigt, er streut sich sühnend Asche über das Haupt, er kommt, als alle die frohe Rettung und nahe Hochzeit feiern, als Schlusspunkt wieder zu Tür herein – und Licht aus! Hat Silla jetzt abgedankt? Wird das Ende revidiert? Sillas „Sieg über das eigene Herz“ wird zu einer stark angezweifelten Metaphorik aus längst vergangenen Zeiten, und es liegt bei der Zuhörerschaft sich einen Reim darauf zu machen.

[4] Es ist schon klar, dass hier eine Sicht der Dinge waltet, die für das Jahr 1772 in Mailand unvorstellbar scheint – und es ist auch klar, dass man es hier mit einem Werk zu tun hat, das über die reine Repräsentationsform der opera seria hinausgeht, dass Mozart in neue Tiefenschichten des Individuums vorstößt und die schematische Gefühlsrhetorik einer Operngattung im „Ich-Aufbruch“ des herannahenden „Sturm und Drang“-Zeitalters neu zu deuten vermag. Jene maßgebende Züricher-Produktion aus dem Jahre 1981 von Jean-Pierre Ponelle (ebenfalls unter der musikalischen Leitung von Nikolaus Harnoncourt) – die in Folge sowohl im Theater an der Wien im Rahmen eines Festwochengastspiels als auch 1991 an der Staatsoper zu sehen gewesen war – hatte auf diese „Diskrepanz“ noch ganz anders reagiert. Ponelle hatte sich für ein Dekor im 18. Jahrhundert entschieden, für eine Art von „höfischem Theater“, auf dem die großen „antiken“ Konflikte, zwischen „Tod“ und „Leben“ abgehandelt werden. Als Bühnenhintergrund dienten alte Stiche, in denen – zusammen mit den Kostümen – die Handlung mehr als „historisches Tableaux“ dargeboten wurde. Ponelle dazu im Originalton: „Es sind wohlerzogene Puppen am Mailänder Hof, denen eine Dosis ‘Sturm und Drang‘ durch die Adern fließt.“ Nun, da hat sich Guth schon viel tiefer auf die Psychologie verlegt – und damit (ohne den Begriff der „Werktreue“ hier anwenden zu wollen), zwar weniger nach dem Mailänder Hofe im Jahr 1772 geschielt, als vielmehr nach einem spannenden, neuen Kapitel der „Lucio Silla“-Rezeption.

[5] Lucio Silla hat eine Spiellänge von rund vier Stunden – im Theater an der Wien, einiger Striche wegen, sind es etwa dreieinhalb. Die relativ kurze Pause war für diese dreieinhalb Stunden zu knapp bemessen, aber ansonsten war die Aufführung in jeder Hinsicht beispielgebend. Hoch liegt die Latte für alle nachfolgenden Produktion, die das Label „Mozartjahr 2006“ tragen werden. Guth hat eine formulierungsfreudige Bühnensprache entwickelt, von Nikolaus Harnoncourt kongenial musikalisch geführt. In einem etwas modernisierten, aber zeitlos kargen und heruntergewirtschafteten Bühnen-Rom träumt Lucio Silla von einer monumentalen Architektur, einmal wandert sogar der Entseuchungsdienst durch die Straßen. Die Menschen leiden unter der Diktatur, die beständige Bedrohung und der ununterdrückbare Wunsch nach Selbstbestimmung verleiten sie zu einer intensiven emotionalen Verausgabung. Von der ersten Sekunde an beherrscht eine starke Spannung die Szene. Keine Bewegung, keine Note wird dem Zufall überlassen, hinter jeder Phrase spürt man eine sinngebende Kraft. Musik wird dabei zu einer Art von Sprache in höherem Sinn, sie lässt jeglichen „repräsentativen Charakter“ hinter sich. Das zeigt sich besonders deutlich am Umgang mit den Koloraturen, also mit jenem Zierrat, den man meist nur als filigranes, auf den Effekt berechnetes Beiwerk mehr in artistischem Sinne zur Kenntnis nimmt. An diesem Abend erfährt man, dass Koloraturen „lachen“ und „weinen“ können, dass sie fähig sind, als erstickende Schmerzensschreie den ZuhörerInnen unter die Haut zu fahren. Alle Musik ist hier eingebunden in die Handlung auf der Bühne. Guth hat den Schematismus der Arien sorgfältig in Personenregie aufgelöst. Die Wiederholungen werden plötzlich zu einem Monolog, der die Befindlichkeit der jeweiligen Figur nicht nur statisch festhält, etwa im Sinne eines eingeschobenen Konzertstückes, sondern jeden für sich als Erkenntnisprozess begreift, der die Handlung wieder ein Stück weiterbringt. Zugleich zeichnet die Musik ein subtiles Psychogramm, belebt sich die Spannung durch das feine Verändern von Nuancen immer wieder aufs Neue. Statik war ein Fremdwort an diesem Abend.

[6] Viel zu selten gehen musikalischer und darstellerischer Ausdruck mit solcher Intensität Hand in Hand. Das gilt für alle Ausführenden, inklusive dem Arnold Schönberg Chor und natürlich dem Concentus Musicus, mit fesselndem, akribischem und akzentuiertem Vortrag. Auf der Bühne standen im Mittelpunkt der „Lucio Silla“ von Kurt Streit, mit exemplarischem Exhibitionismus und untadeligem Gesang sowie die „Giulia“ von Patricia Petibon, mit expressivem Gesang und beredtem Augenspiel. Dabei hatte Streit wohl die darstellerisch schwierigere Aufgabe zu bewältigen: das Wippschaukelspiel des Borderliners, die drastische Bühnenaktion, die schnell als regiebedingte Mutwilligkeit ausgelegt werden könnte. Streit ist auch im gesanglichen Ausdruck exquisit, seine Stil passt ideal in dieses Inszenierungsumfeld, eine intelligente Charakterstudie, technisch einwandfrei umgesetzt – und schwindelfrei noch dazu: die beklemmende Wirkung seines Balanceaktes auf den Gefühlshaushalt der Zuschauer, wenn er sich im ersten Bühnenstock aus dem Bullaugen-Fenster lehnt und schwankend die Nachwehen eines Trinkgelages austariert. Patricia Petibon verfolgt die „Dramatisierung des Ziergesanges“ mit kühnem Einsatz. Ihre Bühnenerscheinung ist insgesamt charismatisch, perfekt die genau abgestimmte Gestik und Mimik, das verzweiflungsvolle Spiel der Blicke. Ihr Gesang wird zum Seismographen, zeigt all die seelischen Erschütterungen an, von denen Giunias Herz erbebt.

[7] Trotzdem (oder gerade deshalb) würde ich sie nicht als explizite Gesangsartistin bezeichnen, in dieser Hinsicht hat mich Martina Jankova (Celia) mit den klareren Koloraturen mehr überzeugt. Guth hat eine ihrer Arien zu einem fast tänzerischen Solo genützt: Celia in Erwartung von Liebeserfüllung, ein weißer Schleier, Blütenblätter, eine schwerelose, ganz „unbarocke“ Opernchoreographie, getragen von der luftigen Leichtigkeit erhofften Glücks. Grandiose Bühnenmomente. Annette Dasch vermännlichte die Hosenrolle des Cinna mit Autorität und trotzdem mit viel Feingefühl. Die Partie des Cinna ist wichtig für das Gleichgewicht zwischen den Charaktere, zwischen Silla und seiner Schwester, zwischen Giunia und Cecilio. Auch hier überraschte wieder die Ausgewogenheit der Inszenierung, in der sich die künstlerischen Gewichte exakt die Waage hielten. Bernarda Fink warf ihre Liebe, ihre Verzweiflung und ihren Silla-Hass ins Rennen. Auch hier verschmolzen Gesang und Ausdruck zu fesselnder Einheit. Cornel Frey (Aufidio) war ein souveräner Tribun.

[8] Fazit: Was man schon von der Premiere am 12. Mai gehört und in den Zeitungen gelesen hatte, bestätigte sich bis ins Detail: diese Aufführung ist grandios. Deshalb gab es, trotz später Stunde (beinahe 23 Uhr), Bravo-Chöre und oftmaliges Herausklatschen des Ensembles.