ANNA BOLENA

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Wiener Staatsoper
Premiere
2. April 2011


Dirigent: Evelino Pidò

Inszenierung: Eric Génovèse
Bühnenbild: Jacques Gabel
Kostüme: Claire Sternberg und
Luisa Spinatelli
Licht: Bertrand Couderc
Choreographie: Johannes Haider

Enrico VIII - Ildebrando D`Arcangelo
Anna Bolena - Anna Netrebko
Lord Riccardo Percy - Francesco Meli
Giovanna Seymour - Elina Garanca
Lord Rochefort - Dan Paul Dumitrescu
Smeton - Elisabeth Kulman
Sir Hervey - Peter Jelosits


„Üppiger musikalischer Genuss “

(Dominik Troger)

Die Erstaufführung von Gaetano Donizettis „Anna Bolena“ im Haus am Ring wurde musikalisch zu einem großen Erfolg. Die Inszenierung dieses Königinnen-Dramas um eine Gemahlin des englischen Königs Heinrich VIII. fand geteilte Zustimmung.

Üppigen musikalischen Genuss versprach die Besetzung schon im Vorfeld – aber dass dann musikalisch wirklich so eine Donizetti’sche „Cremetorte“ serviert werden würde, konnte den sänger(innen)lüsternen Wiener Opernfans nur recht sein. Und die historisierenden Kostüme passten dazu wie Zuckergussfiguren, die vor allem Anna Bolena (mehrere verschiedene Kostüme!) und Giovanna Seymour in das Licht eines cineastisch durchkonzipierten HDTV-Historiendramas rückten.

Dafür musste wohl beim Bühnenbild gespart werden, das sich – von dezentem Blaugrau durchschimmert – als magerer Torso einer von Arkaden durchbrochenen Galerie zeigte, der sich auf der Drehbühne je nach Szene ein Stück weiter bewegte. Ein Thron und ein Bett waren die einzigen „Requisiten“ – und das Bett war nicht einmal ein „Himmelbett“.

Regisseur Eric Génovèse beschränkte sich in seiner Erstarbeit für die Staatsoper auf ein Grundarrangement, und er rückte Anna Bolena alias Anna Netrebko immer wieder in die Pose eines Magazincovers, das High-society-Damen adäquate Mode mit auf Hochglanz gebrachten Fotos verspricht. Ansonsten zeigte Génovèse, dass man auf einem Thron sitzen kann, vor ihm knien oder auch „sich an ihn klammern“ – und ein Bett ist natürlich bestens dazu geeignet, um es mit „Anna“ als Sängerinnemodell der Extraklasse zu „drapieren“: ein bisschen lasziv erotisch in schwarzem Kleid und mit hellem Dekolleté zu einer Ohnmacht hingestreckt.

Für die Großaufnahme von Fernsehkameras mag ein passendes Gesicht zum passenden Kostüm dem Zuseher emotionale Nähe vermitteln, in der totalen Perspektive eines Opernhauses wären aber auch noch andere Tugenden gefragt gewesen, als das Organisieren von Auf- und Abtritten. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht meiner Meinung in diesem Fall nicht darum, ob dem Regisseur eine „besondere“ Interpretation eingefallen wäre, sondern es geht darum, wie und ob man einem Publikum szenisch im Libretto definierte „Charaktere“ begreifbar machen kann (und dergleichen kann im Straßengewand ebenso wie im historischen Kostüm geschehen).

Szenische Akzente sind in dieser Produktion rar: Zu Beginn streicht die ihm Thron sitzende Anna Bolena dem ständchensingenden Pagen Smeton ein paar Mal über die Wangen. Ob sie für ihn Gefühle empfindet? Im Finale fällt der Vorhang, bevor sich eine aus den Arkaden herausentwickelte, stilisierte Guillotine bis zu Annas Genick herabsenkt. (Möglicherweise der wenig bequemen, liegenden Position wegen, verzichtete Netrebko auf einen, den Schluss krönenden Spitzenton? Dass sie es kann, hat sie schon im Finale des ersten Aktes hören lassen.) Der einzige Farbfleck auf der Bühne in diesem graublauen Einerlei ist eine meterlange Schleppe, mit der die Königin zu Beginn ihrer Wahnsinnsszene die Bühne betritt. Diese weiße Schleppe ist auf den letzten Metern rot gefärbt. Selbst in dieser Szene ist die Personenführung sehr statisch und „händeringend“. Ein psychologischer Realismus wird tunlichst vermieden.

Das gemessene „Auf-die-Bühne-schreiten“ des Chores lässt sich aus einem Interview mit dem Regisseur im Programmheft ableiten: Hier spricht er davon, dass der Umgang mit der „etwas passiven Funktion des Chores“ nicht einfach wäre. Die Herausforderung war ihm jedenfalls bewusst. Doch wie ich Gesprächen entnehmen konnte, waren viele Besucher mit Génovèses Minimalkonzept sehr zufrieden, weil es der Musik und dem Libretto nicht in die Quere kam und optisch keine Irritationen auslöste. Die Vorherrschaft der Musik wurde in keiner Sekunde angetastet.

Die Buhrufe am Schluss für das Regieteam waren trotzdem unüberhörbar. Sollte hier wirklich für ein „modernes Regiekonzept“ Stimmung gemacht werden oder wollte man Génovèse nur für seine minimalistische Personenführung abstrafen? Jedenfalls kann man diese Produktion noch in 30 Jahren bedenkenlos spielen – vermittelt sie doch den Eindruck, als stünde sie schon seit 50 Jahren auf dem Spielplan.

Musikalisch war es opulent (siehe „Cremetorte“). Eigentlich war da schon mehr Verdi drinnen, als Donizetti vertragen sollte. Das Orchester unter Evelino Pidò spielte mit gesättigtem, federndem Klang und sehr engagiert. Die Ouvertüre ließ in der Wiedergabe die frühe Romantik der italienischen Oper schon weit hinter sich. (Aber es ist schon lange her, dass bei einer Belcanto-Oper an diesem Haus so gepflegt musiziert worden ist.) Man hielt sich laut Programmheft an die neue kritische Ausgabe von Ricordi mit einigen wenigen Strichen.

Diese Art passte bestens zu den Stimmen von Anna Netrebko, Elina Garanca und Elisabeth Kulman – alle drei mit breiter, klangvoller Mittellage ausgestattet und einem reichhaltigen Timbre. Das tauchte Donizettis Schöngesang in luxuriöse Farben voller Noblesse – mit vielleicht sogar ein bisschen zu schön aufpolierter Leidenschaft.

Dass bei Netrebko die breite, leicht dunkel überhauchte Mittellage ein wenig die Koloraturen übertünchen würde, war vorhersehbar gewesen. Genuine lyrische Koloratursoprane singen die Partie mit mehr Verzierungswerk und Höhendrang, aber als Anna Bolena erwächst Netrebko daraus eigentlich ein Vorteil – so wie es sich bei „Lucia“ oder der „Schlafwandlerin“ eher als Nachteil erwiesen hat. Aber spricht Netrebko selbst nicht schon von der „Elsa“ im Lohengrin beziehungsweise den Schritt zu Verdi?

Trotz dieser gesanglichen Luxusbesetzung: Momente voll mitreißender Leidenschaft waren gar nicht so häufig (aber womöglich werden es im Laufe der Premierenserie noch mehr). Elisabeth Kulman sorgte für solche Momente im dritten Bild, bevor sie gezwungener Maßen das Stelldichein zwischen Anna Bolena und Percy mit anhören muss. Das Publikum wollte den Applaus, der Dirigent wollte ihn nicht. Aber das Orchester musste die Überleitung zweimal ansetzen. Das Finale des ersten Aktes erzeugte viel Spannung - und mit ganz besonderer Klangschönheit überwältigte die Szene zwischen Anna Bolena und Giovanna Seymour im zweiten Akt, als die Stimmen von Netrebko und Garanca im Zusammenklang ihre Prachtentfaltung gleichsam „verdoppelten“.

Der das Werk abschließenden Cabaletta fehlte es für meinen Geschmack etwas an Schwung und Ausdruck – und am finalen Spitzenton. Den haben zwar auch andere große „Namen“ nicht gesungen, aber jedes noch so opulente Mahl braucht doch seine ganz besondere Würze?

Von den Herren war noch gar nicht die Rede. Der Percy des Francesco Meli passte gut in den stilistischen Rahmen, den Netrebko, Garanca und Kulman vorgaben. Sein Tenor war mir für Belcanto eine Spur zu hart timbriert, phasenweise sang er in der Höhe mit zuviel Druck, benötigte den ersten Akt, um im zweiten dann zu seiner Form zu finden. Man kann auch diese Partie noch mit ein paar exponierten Höhen verfeinern, was aber offenbar vermieden wurde. Die Stimme tendiert wohl schon zu einem Fachwechsel.

Ildebrando D’Arcangelo sang doch die Premiere, nachdem man für die Generalprobe Giacomo Prestia eingeflogen hatte. Im Programm findet sich ein Bild von Prestia als Premierenbesetzung. D’Arcangelo wurde offenbar rascher wieder gesund als erwartet. Er hatte stimmlich soweit keine Probleme, wirkte auf mich nur im Finale des ersten Aktes ein wenig ermüdet. In Summe vermochte D’Arcangelo die Beweggründe des Königs Heinrich VIII. nicht konturenstark herauszuarbeiten (aber dafür hätte es auch einen anderen Regisseur gebraucht). Als Gegenspieler von Anna Bolena, der die Fäden zieht und alle darin verstrickt, war er von der Bühnenwirkung und Persönlichkeit insgesamt zu leichtgewichtig.

Dan Paul Dumetriscu steuerte kompetent den Lord Rochefort bei, während Peter Jelosits als Sir Hervey nicht so recht in den luxuriösen Stimmenglanz dieser Aufführung passen wollte.

Das Publikum applaudierte rund 18 Minuten lang und war schon recht enthusiastisch. Es gab je einen Blumenwurf für Netrebko und Kulman. Die Buhrufe für das Regieteam wurden bereits analysiert.

Einge Anmerkungen zum Stück findet man: hier.