LA STRANIERA
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Theater an der Wien
14. Jänner 2015
Premiere

Dirigent: Paolo Arrivabeni

Inszenierung: Christof Loy
Bühne: Annette Kurz
Kostüme: Ursula Renzenbrink
Licht: Franck Evin

ORF Radio-Symphonieorchester
Arnold Schönberg-Chor

Koproduktion mit dem Opernhaus Zürich

Alaide - Edita Gruberova
Isoletta - Theresa Kronthaler

Graf Arturo - Dario Schmunck
Baron Valdeburgo - Franco Vasallo
Osburgo - Vladimir Dmitruk
Prior - Stefan Cerny
Montolino - Martin Snell

„Belcanto-Rarität
(Dominik Troger)

Für die erste Wiener Opernpremiere im neuen Jahr sorgte das Theater an der Wien. Vincenzo Bellinis selten gespielte “La straniera” wurde dem Publikum in einer Koproduktion mit der Oper Zürich sogar szenisch geboten. Ein wagemutiges Unterfangen.

Die 1829 uraufgeführte „Fremde” war Komponisten wie Verdi und Wagner ein Begriff. Das Werk erfreute sich ein paar Jahrzehnte lang einiger Beliebtheit, um dann einem kollektiven Vergessen anheim zu fallen. Möglicherweise wurde die „Straniera“, die bereits 1831 in Wien erstmals gespielt wurde (allerdings mit deutschem Libretto), seit dem 19. Jahrhundert in dieser Stadt nicht mehr szenisch aufgeführt. Insofern gebührt dem Theater der Wien Dank für das Auffüllen dieser opernhistorischen Lücke. Den Inhalt der Oper kann man hier nachlesen: www.operinwien.at/werkverz/bellini/astra.htm (Bericht zur ersten konzertantem Aufführung im Musikverein am 8. 2. 2013; dazu nach unten scrollen.)

Auch wenn die Ausführung der „Straniera“ bei Bellini den Status eines noch etwas unausgegorenen Experiments hat, so scheint das damalige Publikum die Geschichte einer geheimnisvollen begehrenswerten Frau, über die man(n) wenig weiß, und die in einer Einöde haust, durchaus mit romantisch-phantastischer Erotik erfüllt zu haben. Vielleicht haben Bellini und sein Librettist Felice Romani einen „Zeitnerv“ getroffen, die Unsicherheit der Jugend im restaurativen Zeitalter nach den napoleonischen Kriegen, ihr Verlangen nach zumindest emotionaler Selbstverwirklichung, sowie die ohnehin für jede Generation neu anzutretende Entdeckungsreise vom „Ich” zum geliebten „Du” – die in diesem Fall freilich für alle Beteiligten fatal endet, für den Tenor sogar im Selbstmord.

Interessant ist in diesem Zusammenhang das Quartett gegen Schluss der Oper, wenn die vier Hautprotagonisten jeder für sich ihre Seelenqualen artikulieren, und die Zuhörerschaft vielleicht ein wenig das Seziermesser spürt, mit dem einst auch Mozart und da Ponte in der „Cosi“ in den Seelen junger Liebender herumgeschnitten haben. Musikalisch besitzt diese Oper außerdem einen fragmentarischen Zug, der sich die letzte Erfüllung versagt, und der mit seinem oft an den Tag gelegten rezitativischen Gehabe wenig dazu beiträgt, die dramaturgischen Schwächen des Librettos zu verdecken. Schließlich hat Bellini dem tenoralen Liebhaber nicht einmal eine ordentliche Arie komponiert. Das mag zu denken geben. Dieser Arturo ist offensichtlich die überspannteste Figur in dieser Geschichte, der seinen Gefühlen unterliegt, die keine Mittel und Wege mehr findet, sie mittels einer herkömmlichen musikalischen „Form“ zu beherrschen.

Im Programmheft tritt Regisseur Christof Loy zur Ehrenrettung der Oper an, in dem er sogar handlungsmotivische Verbindungen zwischen „La straniera“ und „Tristan und Isolde“ anspricht. Dass sich Wagner einiges von Bellini abgeschaut hat, ist bekannt. Und das Grundthema der an gesellschaftlichen Normen scheiternden individuellen Liebeswünsche durchzieht die Oper des 19. Jahrhunderts ohnehin wie ein roter Faden. Aber in einer szenischen Aufführung treten die „Zufälle“ des Librettos viel stärker zu Tage - und Loy hat sich erst gar nicht darum bemüht, dagegen anzukämpfen oder eine politische Deutung zu suchen, die zwangsweise Bellinis leidenschaftlichen Gefühlskosmos negiert hätte.

Diese „La straniera“-Produktion spielt deshalb den Kostümen nach in der Entstehungszeit der Oper. Sie spielt in einem theaterähnlichen, holzgetäfelten Saal. Lange (Galgen-)Schnüre hängen von der Decke, dann und wann wird ein Prospekt aufgezogen, im Hintergrund sieht man, wenn sich der Vorhang öffnet, eine Küstenlandschaft wie ein Ansichtskartenmotiv. Der wesentlichste Eingriff des Regisseurs passiert schon am Beginn, wenn sich Arturo erhängt – was nicht unbedingt zur fröhlichen Einleitung des hochzeitgestimmten Chores passt, aber eine Art Kreislauf gescheiterter Verehelichungen in Gang bringt: Steht am Schluss doch wieder Arturos Selbstmord, nachdem er erneut Isoletta „davon gelaufen“ ist. Loy hat die ganze Geschichte als Reihe traumatischer Erlebnisse gedeutet, wie er im Programmheft erläutert, im Sinne der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Das Publikum hat trotzdem gelacht, als Alaide dem entsetzten Arturo offenbarte, er habe gerade ihren Bruder gemeuchelt.

Die Oper wurde und wird derzeit natürlich wegen Edita Gruberova gespielt, die am Theater an der Wien abwechselnd mit Marlis Petersen die Aufführungsserie bestreitet. Edita Gruberovas Sopran benötigte diesmal nur wenige Minuten, um auf Betriebstemperatur zu kommen – den einleitenden „Vokalisen" der Alaide lauschte man nicht ohne einer gewissen Sorge, wobei sich die Sängerin an diesem Abend aber insgesamt in einer deutlich besseren Form befand, als in der von mir zuletzt gehörten „Roberto Devereux“-Vorstellung an der Staatsoper im Oktober. Die Stimme war elastischer, punktete mit einigen nach wie vor betörend gesponnenen Pianophrasen, und ließ die Sängerin auch beim sicher gesetzten und lang gehaltenen hohen Schlusston im Finale nicht im Stich. Die Tiefe hob sich allerdings wieder deutlich ab, dunkler gefärbt und schon recht „deklamatorisch" gebraucht. Jedenfalls siegte an diesem Abend die Kunst doch noch über die angesammelten Karrierejahre – und solange dieses Spiel der Kräfte einigermaßen in Balance bleibt, werden die Verehrerinnen und Verehrer der Sängerin in der Lage sein, sich das aus der Erinnerung zu ergänzen, was ihnen sonst vielleicht schon abgehen würde. Allerdings scheint die Tagesverfassung inzwischen eine so große Rolle zu spielen, dass jeder Abend einer wohlwollenden Zuhörerschaft erneut das Gefühl vermittelt, als spiele sie um hohe Einsätze beim Roulette.

Um das „Phänomen-Gruberova“ gruppierte sich eine Sängerschar, die mehr den Status-quo eines beflissenen, aber weniger außergewöhnlichen Operngesanges vertrat. Dario Schmunck hat Anfang der 2000er-Jahre in der Volksoper den Lyonel „geschmachtet“. Die Stimme ist seither kräftiger geworden und hat dabei nicht an Raffinement zugelegt. Dass der Bariton von Franco Vassalo eine gute und kräftige Höhe besitzt, davon konnte sich jetzt auch das Publikum des Theaters an der Wien überzeugen. Beide Sänger sind Bellinis Belcanto-Lyrik wohl schon etwas entwachsen. Theresa Kronthaler sang und spielte ein hübsche, im Finale Agilität und Leidenschaft verbreitende Isoletta. Der junge Tenor Vladimir Dmitruk sang einen passend intriganten Orburgo und Stefan Cerny lieh der kleinen Rolle des Prior überzeugend seinen schlanken, kräftigen Bass. Martin Snell war ein etwas trockener Montolino.

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Paolo Arrovabeni hauchte Bellinis Musik zu wenig Leben ein. Der Arnold Schönberg Chor steuerte sanges- und spielfreudig das Volk der Bretagne bei. Nach zwei Stunden und drei Vierteln gab es viel Applaus für die Sänger, allen voran für Edita Gruberova (was die Applausdauer sogar über die Viertelstunde hinaus verlängerte) – und deutlich weniger Beifall für Regie, Dirigenten und Orchester. Der laute Buhruf gegen die Orchesterleitung und offenbar ein paar „schüchterne“ gegen die Primadonna seien der Vollständigkeit halber erwähnt (von meinem Platz aus waren letztere nicht eindeutig zu hören).