WIENER ERSTAUFFÜHRUNG MANON 1890
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Zur Erstaufführung von „Manon“ 1890 an der Wiener Hofoper – Teil 1

Am 19. November 1890 fand die Erstaufführung von Jules Massenets „Manon“ an der Wiener Hofoper statt. Die Aufführung wurde zu einem Erfolg für die Sänger und dem anwesenden Komponisten. Nachfolgend eine ausführliche Werkeinführung samt kürzerer Aufführungsbesprechung aus der „Wiener Abendpost“.

„Zu den Stoffen, welche große literarische Berühmtheit erlangt haben, zählt die Liebesgeschichte einer der schönsten unter den galanten Damen Frankreichs zur Zeit Ludwig XV., der Manon Lescaut, mit dem Chevalier Desgrieux, welche der Abbé Prevost in seinem Roman „Histoire de Manon Lescaut et Chevalier Desgrieux“ meisterhaft erzählt hat. Im schlichten und doch so ergreifenden Selbstbekenntnis läßt der Verfasser den Chevaier zum Leser sprechen. Nichts, keine Verirrung, kein Verbrechen bleibt verschwiegen. Desgrieux wird Falschspieler und betrügt mit seiner Geliebten im Bunde deren Anbeter, Alles aus einer Liebesleidenschaft, die ungeachtet ihrer lasterhaften Umhüllung doch mächtig an das Herz rührt. In allen Sünden erscheint Desgrieux im schönen Lichte ritterlicher Romantik, bei aller Schuld bleibt Manon reizvoll. Stofflich ist Manon mit Carmen verwandt; wir sehen hier wie dort eine von Haus aus edle männliche Natur dem Zauber des Weiblichen erliegen und die eigene Ehre dabei einbüßen. Doch tritt uns Manon viel weicher, schmiegsamer entgegen als ihre wilde Schwester Carmen. Carmen läßt einfach den Geliebten fallen und stößt ihn mit brutalster Herzensrohheit gänzlich von sich, als sie ihn satt hat und ihre heiße Sinnlichkeit einem anderen Manne zuwendet. Manon jedoch hört nie auf, Desgrieux zu lieben. Sie verläßt ihn sogar, um ihrer Sucht nach dem Glanze des Lebens, nach Juwelen und Freudenfesten, zu frönen, und doch denkt sie in den Armen anderer Begünstigter liebend an ihren Chevalier Desgrieux. Sie ist der gefährlich Typus galanter Frauen, denn sie vereinigt Liederlichkeit mit Gefühl.

Die Librettisten der Massenet’schen Oper, Meilhac und Gille, haben mit gutem Blicke die Dankbarkeit des Manon-Stoffes für musikalisch-dramatische Verwerthung erkannt. Wenn in Frankreich, dem Lande der Galanterie, allerdings auch noch die Popularität der historisch gewordenen Gestalt der Manon Lescaut hinzutritt, um den Eindruck einer dramatischen Bearbeitung noch zu steigern, so ist das allgemeine Menschliche des Buches doch auch für nichtfranzösische Zuhörer von zwingendem Interesse. Die Herren Meilhac und Gille haben aus dem Manon-Stoffe ein treffliches Libretto zugeschnitten, die epische Breite des Romanes zu sechs wirksamen Bildern gekürzt und damit dem Compositeur, der übrigens, wie wir hören, zuerst den Plan zur musikalischen Dramatisierung des Prevost’schen Romans gefaßt und seine Idee den Librettisten an die Hand gegeben haben soll, den halben Erfolg von vornherein gesichert. Doch sehen wir uns das Buch der Oper näher an.

Im Posthotel von Amiens tafeln zwei Pariser Lebemänner, die Herren Guillot-Morfontaine und de Brétigny drei lustigen Pariserinnen (das Buch nennt sie Poussette, Javotte und Rosette). Manon kommt mit der Postkutsche an; sie ist zu sehr dem Vergnügen ergeben, darum schicken sie ihre Eltern ins Kloster. Mit neidischer Bewunderung sieht sie die schönen Toiletten und glänzenden Juwelen der drei tafelnden Pariserinnen und läßt sich lachend die verliebten Anträge des reichen Guillot, der ihr seinen Wagen anbietet, gefallen. Da tritt Desgrieux auf; er sieht Manon und verliebt sich sofort auf das heftigste in sie. Halb aus Liebe, halb aus Sehnsucht nach dem verlockenden Leben der großen Stadt gibt sie dem Drängen des Liebenden nach und will mit ihm nach Paris fliehen. Dabei entwickelt sie zum ersten Male ihre verhängnisvollen Talente. „Vielleicht durch Zufall, daß es sich leichter macht, mit einem Wagen, dem Wagen eines Herrn, der vorher mich verliebt angelacht – rächen Sie sich – nun, den Wagen nehmen wir“ räth sie ihrem Chevalier, der auch sofort mit seiner schönen Beute in Guillots Kutsche davon fährt. In einem bescheidenen Zimmer in der Rue Vivienne in Paris führen Manon und Desgrieux , von aller Welt zurückgezogen, ein seliges Liebesleben. Desgrieux schreibt an seinen Vater; er bittet ihn um Verzeihung und zugleich um seinen Segen zur Vereinigung mit der Geliebten. Doch schon hat ihn Manon betrogen; sie nimmt hinter seinem Rücken Geschenke von dem reichen Herrn von Brétigny, den wir bereits in Amiens kennen gelernt haben, und als – ein abgekartetes Spiel – Manons Cousin, der Gardist Lescaut, mit dem als Soldat verkleideten Brétigny tobend in das Zimmer tritt, um mit erheuchelter Entrüstung von Desgrieux Rechenschaft für die gekränkte Familienehre zu verlangen, ist der arme Chevalier bereits der Dupierte. Brétigny hat dem alten Desgrieux den Aufenthalt seines Sohnes verrathen, der noch am selben Tage mit Gewalt in das väterliche Haus zurückgebracht werden soll. Manon erfährt den Plan, sie schwankt und – schweigt zu Desgrieux, der gewaltsam aus ihren Armen entführt wird. Beim eine großen Volksfeste im Cours la Reine erscheint Manon an Brétigny’s Arm; dabei erfährt sie aus einem Zwiegespräch zwischen Brétigny und dem alten Desgrieux, daß ihr Chevalier in Saint Sulpice weilt und Priester werden will. Heiß lodert die Liebe in ihrem Herzen wieder auf; sie eilt nach St. Sulpice. Desgrieux wird so sehr von seiner Leidenschaft überwältigt, daß er mit Manon aus dem Seminar entflieht. Nun wird er Spieler unter Anleitung des Gardisten Lescaut, des bösen Vetters von Manon, denn die Geliebte braucht viel Geld. Im transylvanischen Hotel, der berüchtigsten Spielhölle des alten Paris, wagt unser Chevalier mit dem reichen Guillot, den wir auch schon von Amiens her kennen, ein hohes Spiel, bei dem Lescaut dem Liebhaber seiner Cousine die falschen Karten in den Aermel steckt. Guillot, der alles verliert, beschuldigt wüthend Desgrieux des Falschspiels. Großer Aufruhr; die Polizei erscheint und verhaftet das Liebespaar. Manon wird mit liederlichen Dirnen nach Havre transportiert, um in die französische Strafkolonie nach Amerika eingeschifft zu werden. Lescaut besticht die escortirenden Soldaten, Manon wird frei. Doch trägt sie schon die Züge des Todes; sie stirbt in den Armen des verzweifelten Desgrieux.

Die Musik Massenets zu „Manon“ vereinigt den Ernst der tragischen mit der leichtgeschürzten Sprache der komischen Oper, ja selbst der Operette. Manons Ariette „Folget dem Ruf, so lieblich zu hören“ im dritten Acte beim Volksfeste, die allerdings ganz im Style der Gluck’schen „Alceste“ anhebt, schlägt sofort im Refrain in ein Couplet „Nützet die schönen jungen Tage“ um, welches durch die Wiederholung der leichtfertigen Melodie im Chore vollständig Offenbach’sches Gepräge bekommt. Die Streichung dieser Nummer würde dem Werke entschieden zugutekommen.

Im Ganzen hat Massenet seiner Oper durchgängig musikalische Leitmotive unterlegt, die höchst charakteristisch erfunden und sehr geistreich die ganze Oper hindurch verwoben und verwerthet sind. Manon ist durch zwei Leitmotive – man kann das eine auf die guten, das andere auf die bösen Züge ihres Wesens deuten – musikalisch gezeichnet. Sich selbst führt Manon mit dem schlimmen, nennen wir es das Motiv der Vergnügungssucht, ein. Wie sie auftritt, ertönt es im Orchester, dann singt sie dasselbe recht graziös zu ihrem Cousin („Bedenken Sie die Bewegung“), und immer klingt es im ersten Acte, wenn der weltliche Sinn der Manon wieder auflebt, so als Guillot mit seinen Anträgen das erste Mal zu ihr tritt, als Brétigny sie zuerst sieht und bewundert. Das zweite, sagen wir gute Motiv, singt Manon, um ihrer schlimmen Triebe Herrin zu werden. Wir hören es im ersten Acte bei den Worten „So zeig´ Manon den guten Willen“, und sterbend flüstert es Manon im letzten Acte „Und das ist die Geschichte von Manon Lescaut“. Desgrieux erscheint gleichfalls durch zwei Leitmotive musikalisch geschildert, und auch hier hat der Compositeur gleichsam das gut und das verderbliche Element gezeichnet und gegeneinandergehalten. Bei Desgrieux´ erstem Auftreten hebt im Orchester zuerst das gute Element als rein persönliches Motiv an: Desgrieux ist von seiner verderblichen Liebesleidenschaft noch nicht erfaßt, er freut sich auf das Wiedersehen mit seinem Vater, ein Kind mit reinem Herzen. Er erblickt Manon, wie ein Blitzstrahl ist die Liebe über ihn hereingebrochen; das zweite sinnliche Motiv, Desgrieux` Liebe zu Manon, erklingt zuerst leise verführerisch in der Sologeige, als Desgrieux sich entzückt zu Manon im Gespräche wendet, und steigert sich zu leidenschaftlicher Stärke bei seinen gesungenen Worten: „O holde Zauberin, dich lasse ich nie!“ Durch das ganze Werk ziehen sich die zwei Motive, gleichsam die beiden musikalischen Grundgedanken der Massenet’schen Oper, wie leuchtende Fäden hindurch. Wenn Desgrieux im zweiten Acte mit den reinen Empfindungen des kindlichen Herzens an seinen Vater schreibt, so wird bereits das reizende, von den gestoßenen Sechzehnteln der Geigen anmuthig umspielte Orchestervorspiel und dann fortsetztend die erste (Brief-)Scene durch das sanfte, in der Partitur meist dem Violoncell zugewiesene erste Motiv des Desgrieux beherrscht, das höchst charakteristisch abermals im Orchester erklingt, als Desgrieux seinen Brief dem Lescaut zu lesen giebt, dann als beim Volksfeste der alte Desgrieux von seinem Sohne zu Brétigny spricht. Das zweite Motiv des Desgrieux – wir wollen es das Motiv der Liebesleidenschaft nennen – tritt noch viel öfter auf; es ist das eigentlich herrschende der Oper, die unbezwingliche, unzerstörbare Liebe Desgrieux´ zu Manon. Im Orchester erklingt es, wie Desgrieux zuerst Manon erblickt, melodramatisch, dann gesanglich im folgenden Duett. Im zweiten Acte verwendet es Massenet abermals im Orchester bei dem kurzen Melodram, in welchem Desgrieux der Geliebten erklärt, sie zu seiner Frau zu machen. Ebenso ertönt es bei Desgrieux´ Wiederkehr im zweiten Acte im Orchester und gleich darauf folgend als leidenschaftliche Gesangstelle: „Endlich, Manon, dürfen für uns wir leben.“ In St. Sulpice hören wir es schmerzlich in der Moll-Tonart im Orchester bei den gesprochenen Worten des angehenden Priesters: „Im Leben fand ich Bitterkeit und Ekel.“ Leidenschaftlich verkürzt, zwischen Dur und Moll schwankend, wird das Motiv in der Scene in St. Sulpice zwischen Manon und Desgrieux im Orchester moduliert, bis es bei Manons Worten „Wenn du willst, daß ich leb´ gieb´ mir deine Liebe“ in seiner in seiner ursprünglichen Gestalt mit stürmischer Kraft durchbricht und als orchestrales Nachspiel den Act beschließt: die Liebe zu Manon hat in Desgrieux gesiegt. Ganz gebrochen wie Manon selbst spielt zum letzten Mal das englische Horn im dreifachen Piano das Motiv, als Manon sterbend in ihren letzten Augenblicken sich der Vergangenheit erinnert.

Brétigny hat gleichfalls sein Motiv oder vielmehr dieses Motiv bedeutet den verführerischen Zauber, welchen Reichthum – in der Person Bretigny´s verkörpert – auf Manon ausübt. Im zweiten Acte wie Bretigny in seiner Maske als Gardist Manon Liebesgeständnisse macht, tritt dieses Motiv zuerst auf, beherrscht in hübscher Steigerung als Cantilene des Baryton das anschließende Quartett, erklingt wieder, als Manon in ihrer Soloscene zwischen Desgrieux und Bretigny, zwischen Liebe und den glänzenden Freuden des Ueberflusses schwankt, und beschließt, gleichsam triumphirend, den zweiten Act: Bretigny hat mit seinem Gelde und seinen Juwelen gesiegt. Endlich ist auch der Gardist Lescaut mit einem bombastischen Leitmotiv versehen worden, mit welchem er bei seinem Auftritte im ersten Acte „Lescaut bin ich“ sich ankündigt, welches ebenso bei seinem polternden Eindringen bei Manon (im zweiten Acte) unruhig im Orchester variirt wird und in Lescauts und Bretigny´s komischem Duettsatze „Sehr klar ist die Sache“ humoristisch ausklingt.

Von jenen Musikstücken der Oper, die – nicht auf Leitmotive gebaut – ein selbstständiges Dasein führen, ist in erster Reihe Desgrieux´ reizend vom Orchester begleitete Traumerzählung im zweiten Acte und sein leidenschaftliches Arioso „Flieh´, o flieh´ , holdes Bild“ im dritten Acte (St. Sulpice) zu nennen. Manons erste Arie „Bedenken Sie die Bewegung“ ist, wenn auch stark raffinirt, doch von liebenswürdiger Wirkung, ihr Monolog „an das Tischchen“ im zweiten Acte von feiner Stimmung. Das Duett zwischen Manon und Desgrieux (in St. Sulpice) schlägt einen Ton schöner Leidenschaftlichkeit an und steigert sich zu starkem dramatischen Effecte. Die ganze Szene ist das musikalisch wertvollste der Oper. Von warmer Sinnlichkeit erfüllt ist die Des-dur-Cantilene, welche Desgrieux im transylvanischen Hotel an Manon singt. Allerdings wird man dabei, wenn auch nicht zu unsanft, an die „Walküre“ gemahnt. Sehr hübsch und flott sind die Ensemblestellen der drei galanten Mädchen, stark italienisch, aber opernhaft wirksam klingt Ensemble und Chor zum Schlusse der Spielszene. Bei dem Klopfen, mit dem die Polizei sich anmeldet und plötzlich den Aufruhr der streitenden Spieler in ängstliche Stille verwandelt, tönen in scharfem Fortissimo die Bläser ein langgehaltenes hohes B aus – eine nicht abzuweisende Reminiscenz an den rettenden Trompetenstoß im „Fidelio“. Eine besondere Eigenthümlichkeit der Massenet’schen „Manon“ ist die häufige Verwendung des Melodram in derselben. Zumeist charakterisirt das Orchester während des Gespräches der handelnden Personen den Sinn und die Bedeutung der Rede durch die beiden Leitmotive des Desgrieux, von denen wir bereits gesprochen haben, so im ersten Acte, als Desgrieux Manon anspricht und an verschiedenen Stellen der Oper, zuletzt bei Manons letzten Gesprochenen Worten in der Sterbescene „Wir reden dann von der Vergangenheit“. Eine breite Stelle nimmt das Melodram im dritten Acte (Volksfest) ein. Die orchestrale Grundlage deselben ist jene hübsche, menuettartige, hinter den Coulissen gespielte Tanzmelodie in G-dur, die nach D-dur und E-moll modulirend und wieder in die Tonart zurückkehrend, Guillots Zusammentreffen mit Pusette, Javotte und Rosette, ferner Manons Annäherung an den alten Desgrieux fein und zierlich begleitet und auch in der gesungenen Scene zwischen Desgrieux père und Manon, in welche das Melodram sich fortsetzt, im Orchester festgehalten wird. Ein glücklicher Zug des letzten Bildes ist die Verwendung der Melodie des Soldatenmarsches. Zuerst hebt im Vorspiele das Orchester unheimlich die Melodie in F-moll zu spielen an, die Soldaten selbst singen ihn lustig im hellen D-dur, während bei dem leidenschaftlichen Zwiegespräche zwischen Desgrieux und Lescaut – es handelt sich um Manons Befreiung – die Melodie wieder in F-moll in der tiefen Lage der beiden Fagotte oder grell in der Höhe in Dur in den Flöten höchst charakteristisch zu hören ist. Auch bei dem Dialog zwischen Lescaut und dem Sergeant wird die Marschmelodie vom Orchester, bald nach Moll modulierend, bald wieder nach Dur zurückleitend, aufgenommen und fortgesetzt. Besonders interessant wird die Begleitung des Orchesters zum Schlusse dieses Dialogs, wenn zwischen dem melodramatisch einsetzenden und immer wieder abbrechenden ersten Tacte der Marschmelodie gehaltene Accorde der Streich-Instrumente in Halbnoten leise und geheimnisvoll chromatisch aufsteigen und wieder gleichsam müde nach abwärts zurücksinken.

Interessant ist „Manon“ für alle Fälle. Die Oper hat ein ausgesprochenes Colorit, die Farbe der Zeit Ludwigs XV. Mit Geist und Raffinement hat Massenet seine Musik componirt und combinirt, immer als echter Bühnenkundiger den Ton in den Dienst des dramatischen Vorgangs stellend und dabei manche reizvolle melodische Blüthe pflückend. Ist´s nicht ein Strauß, wird´s doch ein Sträußchen, in dem es allerdings allerlei stark parfumirte Blumen gibt.

Die Aufführung des Werkes war vollendet. Herr Direktor Jahn hat dasselbe mit der größten Sorgfalt und Delicatesse studirt und unübertrefflich geleitet. Es ist nur ein Act der Dankbarkeit und der Wahrheitsliebe zugleich, wenn Massenet so sehr Jahns Leitung und Studium bewundert und vor jedermann zu preisen nicht müde wird. Ausgezeichnet ist Frl. Renard in der Titelrolle. Gesanglich durchwegs reizend, ist diese liebenswürdige Künstlerin gestern von Scene zu Scene gewachsen, um in St. Sulpice die leidenschaftlichen und im Schlußacte der Oper als Sterbende die ergreifendsten Töne anzuschlagen. Meisterhaft sang und spielte Herr van Dyck den Chevalier Desgrieux. Voll Temperament, heißblütig und übervollen Herzens und dabei stets vornehm in jeder Bewegung, hat dieser Künstler eine Gestalt dramatisch geschaffen und mit seiner schönen Stimme und seiner Gesangskunst musikalisch beseelt, wie wir sie uns interessanter und überzeugender gegeben absolut nicht mehr denken können. Sehr liebenswürdig sang und spielte Frl. von Artner die Pousette und wurde dabei von Frl. Standthartner (Javotte) und Frau Kaulich (Rosette) bestens unterstützt. Eine sehr gute komische Figur war Herr Felix als Guillot-Morfontaine. Herr Felix hat mit dieser Rolle einen neuen Beweis seines Talents und seiner großen Verwendbarkeit geliefert. Der derb-bombastische Lescaut des Herrn Sommer und der Brétigny des Herrn Horwitz sind lobenswerthe Leistungen. Mit großer Würde gab Herr Grengg den alten Desgrieux. Orchester und Chor hielten sich prächtig. Sehr hübsche stylvolle Costüme hat Franz Gaul gezeichnet, schöne Decorationen Brioschi gemalt.

Auch die Inscenirung der Oper war sorgfältig und im Ganzen wirksam. Der Compositeur wurde wiederholt vom Publicum, welches das ganze Werk mit großem Interesse, Theile deselben mit gesteigerter Wärme aufnahm, gerufen. Den Haupterfolg hatten die Hauptdarsteller, Frl. Renard und Herr van Dyck. Insbesondere nach der Scene in St.Sulpice wurden sie ungezählte Male von der enthusiastischen Zuhörerschaft an die Rampe gerufen. Der gestrige Abend war ein schmeichelhafter Erfolg für Herrn Massenet, noch mehr aber ein Triumph unserer Hofoper.“
(Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung, 20.11.1890)

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2007 - © Dominik Troger