KARL KRAUS UND ENRICO CARUSO
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Karl Kraus und Enrico Caruso

Die Tausenden Seiten der „Fackel“ können seit Anfang Jänner 07 online durchwühlt werden. Nachdem hier unlängst des ersten Auftretens von Enrico Caruso am 6.10.1906 an der Wiener Hofoper gedacht worden ist, lag es nahe, die „Fackel“ diesbezüglich zu befragen...

Kraus hat dem Phänomen „Caruso“ wirklich mehr als eine Seite gewidmet – und er hielt sich kein Blatt vor den Mund: „Die Caruso-Sensation präsentierte die Wiener Menschheit auf der tiefsten Kulturstufe.“ Über bösartige Aphorismen zur tenoralen Zweckbestimmung schreitet Kraus weiter zur grundlegenden Gesellschaftskritik und liest der Wiener (High-)Society die Leviten. Schlussendlich vergleicht er den Star mit einem „balzenden Auerhahn“, Kraus scheint tatsächlich nicht viel von ihm gehalten zu haben. Auffallend ist wie Kraus berechtigte Kritik am hochgeputschten „Event“ samt der exorbitanten Preispolitik mit sehr persönlichen Statements würzt, die aus heutiger Sicht zumindest entbehrlich scheinen...

Zur Illustration ein paar Absätze aus der Fackel, Heft 209, 20.10.1906:

„(...) Man hat die Intendanz wegen der ständigen Preiserhöhung, die neulich durchgeführt wurde, heftig angegriffen. Sofern sich die Teuerung auf die Parkett- und Logenpreise bezieht, mit vollstem Unrecht. Kein Schimpf aber wäre stark genug, der eine Hoftheaterbehörde für das Caruso-Treiben treffen müßte. Daß die offizielle Preiserhöhung den Pensionsfonds nähren sollte, vermag an dem peinlichen Eindruck der Affaire nichts zu ändern. Festgestellt ist, daß man durch die Ansetzung von Irrsinnspreisen die Gier des Wiener Luxuspöbels dermaßen aufgepeitscht hat, daß der inoffizielle Kartenhandel zu einer noch nicht dagewesenen Einnahmsquelle erwuchs. Wäre es einem Agioteur von Beruf gelungen, ein Logenbillet zur Caruso-Vorstellung zu ergattern, er hätte für sich und die Seinen, wie die Caruso-Enthusiasten sagen, »ausgesorgt« gehabt. Aber die Berufsagiotage konnte diesmal gegen die Konkurrenz des Publikums nicht aufkommen. Mitglieder der guten Gesellschaft nahmen das Geschäft in die Hand, und man erzählt von Lizitationen, deren eine 2500 Kronen für eine Loge ergeben habe. Den Frauen mag es ziemen, sich um einen Blick aus den schwarzen Augen eines mittelgroßen, kräftigen, wohlgenährten Tenoristen, um einen Ton aus seinem etwas breiten Mund zu balgen. Es bleibt, mag die Szene auch in einem Opernhaus spielen, immer eine Angelegenheit ihres Privatlebens. Widerlich ist die Anwesenheit von Männern bei solchem Spektakel, von erwachsenen Ministern, Generalen, Bankdirektoren, die wahrscheinlich nicht einmal die Entschuldigung homosexueller Anlage haben. Der falsche Hauptmann hat Köpenick erobert, weil er eine Uniform trug. Ein Tenorist hat unsere Stadt erobert, nicht weil er ein guter, nicht einmal weil er ein berühmter, bloß, weil er ein teurer Tenorist ist. Hätte die Hoftheaterintendanz angekündigt, daß Schopenhauer in der Oper seine Abhandlung »Über die Weiber« zu zivilen Preisen vorlesen werde, der Pensionsfonds hätte eine dürftige Einnahme erzielt. Aber wenn der Auerhahn zu erhöhten Preisen balzt, sind die Sitze dreimal überzeichnet.“

Am 16.11.1906 erlebte Enrico Caruso einen seiner peinlichsten Momente. Er wird in New York verhaftet, weil er vor dem Affengehege im Central Park eine Frau unsittlich berührt haben soll. Die Wogen gehen hoch – nicht nur in New York, sondern auch in Wien. Die Wiener Presse, die für Caruso Partei ergreift, wird zum willkommenen Reibebaum für Kraus. Dass er dabei Caruso keine Gerechtigkeit widerfahren lässt, überrascht wenig. Der Sprung vom Wiener Opernhaus zum Affenkäfig ist eine zu verlockende Assoziation (und ein Freund der Wiener Journalistik kann wohl kein Ehrenmann sein). Kraus gibt der Glosse den Titel „Darwinist“.

„(...)Aber die Rückentwickelung des Tenors aus dem Wiener Opernhaus bis zum New-Yorker Affenhaus ist jedenfalls eine interessante biologische Tatsache. Auf der Bühne gehen die exhibitionischen Exzesse über das hohe C nicht hinaus, im Leben muß eine anschaulichere Praxis die Stimmentfaltung ersetzen. Dann wird der Wiener Hofrat, der den Kammersängertitel überbringt, allerdings durch einen Konstabler ersetzt. Wer die Beziehungen zwischen der Tenorstimme und den weiblichen Geschlechtsnerven einigermaßen kennt, hätte sich allerdings schon für eine Verhaftung Carusos im Opernhause aussprechen müssen. Vorausgesetzt natürlich, daß man von der Ansicht ausgeht, daß die Frauen die fast handgreiflichen Zärtlichkeiten des Kehlkopfs als Belästigung empfinden.“ (Die Fackel, Heft 212, 23.11.1906)

In der nächsten Ausgabe (Heft 213, 11.12.1906) fördert Kraus endlich prinzipielle Unterschiede in der Behandlung der Sache zwischen New York und Wien zu Tage, ohne deshalb seine ablehnende Haltung gegenüber Caruso zu ändern.

„(...) Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz der Herr Caruso verurteilt wurde, aber ich vermute, daß nicht die öffentliche Schamhaftigkeit, sondern das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein will, gegen die Handfertigkeit des großen Mannes geschützt werden sollte. In Amerika wahrt man den sexuellen Anspruch der Frau, indem man sie vor sexueller Ansprache schützt. Bei uns dürfen bloß die Herren der Schöpfung ihre Geilheit auf der Straße spazieren führen, dürfen Frauen anpöbeln, die von ihnen nicht beglückt sein wollten, und ein unbeteiligtes Publikum an den Exhibitionen ihrer Luchsaugen teilnehmen lassen. (...)“

Ein Jahr später ist Caruso wieder in Wien – und Kraus serviert seinen Nachschlag (Heft 232-233, 16.10.1907):

„Dank sei Herrn Caruso, daß er Wien, die Stadt, in der die Gemüse und die Gehirne mit Mehl zubereitet werden, so gründlich entlarvt hat! Wir brauchen solche Gelegenheiten, um zu zeigen, daß wir die Bewohner eines großen Affenhauses sind. Wer’s schildern will, wie wir uns darin benehmen, wenn ein berühmter Tenorist die Gnade hat, uns auch nur das Loch in seinem
Überzieher zu zeigen, vermag es nicht. Soll er den Schlachtenbericht der ‚Neuen Freien Presse‘ abschreiben, mit dem ein naiver Tölpel das berühmte Wiener Kunstinteresse als gesellschaftliche Streberei schmierigsten Kalibers denunziert? (...)“

Und so fort.

Im Jahre 1913 (Die Fackel, Heft 381-383, 19.9.1913) wird Caruso noch als Rabenvater entlarvt – und das wars dann.

Operinwien.at-Link: 6. Oktober 1906: Debüt Enrico Carusos in Wien

Zitat zur Online-Nutzung der „Fackel“:
Herausgeber: AAC – Austrian Academy Corpus
Titel: AAC-FACKEL
Untertitel: Online Version: "Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936"
Reihentitel: AAC Digital Edition Nr. 1
URL: http://www.aac.ac.at/fackel
Abrufdatum: 9.1.2007

2007 - © Dominik Troger