OTTO WEININGER ÜBER WAGNER |
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Nachfolgende Gedanken zum Werk Richard Wagners von Otto Weiniger (1880-1903) entstammen im wesentlichen Notizen, die Weininger im Zeitraum 1902-03 gemacht hat – kurz vor seinem Selbstmord in einem Zimmer in Beethovens Sterbehaus Anfang Oktober 1903. Weininger war nicht nur Autor von „Geschlecht und Charakter“, sondern auch ein glühender Wagner-Verehrer und hat 1902 in Bayreuth einer Aufführung des „Parsifal“ beigewohnt. Seine Überlegungen sind zumindest ein interessantes Zeitdokument der Wagner-Rezeption um 1900.
Noch nie hat eine Kunst das Kunstverlangen irgend einer Zeit so völlig zu fesseln und so ganz und gar auszufüllen vermocht, wie die Schöpfungen Wagners. Alle Bestrebungen zur Hervorrufung einer neuen Literatur, zur Begründung einer neuen Kunst nehmen sich vor dem, was wir in seinen Werken bewundern, wie gemacht und unwahr aus. Daß diese gänzliche Befriedigung von so vielen nur bei Wagner gefunden wird, entspricht der wohl unbezweifelbaren Tatsache, daß es nie zuvor einen Menschen von so ungeheuer gewaltigem Bedürfnis des Ausdruckes gegeben hat als ihn. Der ihm hierin am nächsten kommt, ist, wie Wagner selbst stets empfunden hat, Beethoven; und auch dieser bleibt hier weit hinter ihm zurück. Nur darum aber findet beinahe ein jeder bei Wagner das, was der Erfüllung am nächsten kommt; denn er hatte selbst den höchsten Begriff vom Kunstwerk, den je ein Künstler gefaßt, und die größte Forderung an sich gestellt, die je ein Schaffender zu stellen gewagt. Die gleiche Vollendung, das gleiche Erfülltsein atmet darum von einem gewissen Zeitpunkt an (von „Lohengrin" bis zum „Parsifal") alles, was er geschaffen; und das Eigentümliche gerade der Wagnerschen Motive, ist auch musikalisch ein Maximum von Dichtigkeit, wenn ich so sagen darf; sie sind nie verdünnt, sondern sagen immer alles. Die höchste Prägnanz und Konzentration und Unwiderstehlichkeit seiner Melodien, die weiteste Entfernung von allem Sauerstoffmangel, das Gegenteil aller Luftverdünntheit und Leerheit an Masse, das kennzeichnet die Motive Wagners selbst dort, wo er über Bergesgipfeln schwebt und am Gletscher sich berauscht und jene Höhenluft atmet, für die niemand so viel Sinn hatte wie er. Ich
verstehe zu wenig von der Lehre der Musik, um in ihrer Sprache genau bezeichnen
zu können, woran dieses Eigenartige der Wagnerschen Musik gerade
in ihren Melodien liegt. Wagners Musik ist aber eben durch all das eigentümlich,
um was sie mehr ist als Mathematik, was sie alles noch ist außer
einer Sprache von Raum und Zeit; wie hier die ganze Physik des Weltalls
resorbiert ist in die Mathematik, oder die Mathematik nur zum Mittel der
Physik geworden. Wagner ist der Mensch mit dem größten Naturempfinden,
das je ein Mensch besessen hat: Gegen sein „Rheingold“ gehalten,
verblassen selbst Goethes Lieder von allem Wasser in Nebel, Wolke und
Fluß. Wohl mag zu den Sternen Beethoven im Scherzo der neunten Symphonie
(das Wagner, eben darum, wohl gänzlich mißverstanden hat) ein
tieferes Verhältnis offenbart haben als Wagner im „Tannhäuser“,
vielleicht Schubert den Bach, Weber das Dämonische des Waldes besser
verstanden haben; aber ein Naturgefühl von solcher Intensität
und in einem Umfang, der die, ganze Erde, alles in ihrer Fläche,
ihrem Inneren beherrscht, ist noch in keinem Menschen in einem Ausmaße
verwirklicht gewesen wie hier. Motive
der Rheintöchter: Motiv
aus der Götterdämmerung, 3. Akt, Anfang: Motiv
am Schluß der Götterdämmerung: Das Baßmotiv des Orchesters in „Tristan", 3. Akt, nach jener furchtbaren Prostration vor der Schönheit, bei den Worten: „Und Kurwenal, wie, du sähst sie nicht?" usw., ist das größte Motiv des Todes, das je erdacht worden ist. Es liegt darin der scheinbar aktive Verzicht auf das Leben, auf die Freiheit, das in Wahrheit schon die passive Hingabe und Gefangenschaft ist; das Einswerden des Willens mit den Trieben, sein Kapitulieren vor diesen; es ist Identifikation mit dem eigenen Schicksal, der Punkt, an dem Wille in Trieb, Freiheit in Unfreiheit übergebt, sich an sie knüpft, sich ihr übergibt. Zum Parsifal Der
Mensch empfindet allem Unmoralischen der ganzen Natur, der ganzen Geschichte
gegenüber eine tiefe Schuld; denn Welt und Mensch sind Wechselbegriffe,
alles Übel in der Welt ist nur durch den Menschen, mit dem Menschen
da. Dieses Gefühl ist das Gefühl, das in Jesus Christus am lebendigsten
war, so lebendig, daß er diese Schuld mit dem Tode büßen
und die Welt entsühnen wollte, indem er für alle diese Schuld,
seine Schuld, auch die Strafe erleiden wolIte. In ihm ist das Gefühl,
der universellen Verantwortlichkeit, das Gefühl, welches die ganze
Welt tragen will, die Genialität, der Wille, am, größten
gewesen. In Bayreuth wird der „Parsifal" gespielt, als ob man ihn dort verstünde; wer Glück mit den Sängern hat, kann dort das einzige erleben: eine Vorführung eines Kunstwerkes, bei dem die Darstellung nicht stört. So stark ist die Nachwirkung Richard Wagners, so intensiv hat er den anderen einzuprägen gewußt, was er wollte. Als besonders großartig habe ich diese Regie im zweiten Akte empfunden, in der Szene zwischen Kundry und Parsifal. Gerade wie hier die Leidenschaft gedämpft, die Farben nicht dick und doch bengalisch-grell sind, die Gebärden einfacher, mehr gezeichnet als gemimt, ohne Othello-Verzerrungen, gerade das hat mich so stark angesprochen. So tritt der symbolische Charakter des Ganzen mit tiefer Deutlichkeit hervor. Wer die Bilder des Buonaventura Genelli (in Berlin und München) kennt, wird mich hier am besten verstehen. Die lange Kleidung und Schleppe der Kundry, ihre vorgehaltenen Arme und ihr vorgebeugter Körper bei der Bitte an Parsifal erinnern an jene Bilder. Wo so viel Raum wäre für leidenschaftliche Rufe und Bewegungen, erscheint alles gedämpft, gemalt, wie als ein Glasgemälde auf einem Kirchenfenster; das Rot brennt und das Grün funkelt; und doch hält der Mensch den Atem an. Das Orchester – eine reinste Orgel aus seligster Höhe, nicht aus der Tiefe! Woher, fragt der Hörer zitternd? aber ... wohin? Die Moralität des Mannes empfindet den Geschlechtsverkehr als Sünde (Verwundung des Amfortas durch den Speer). Das Weib hat keinen Sinn mehr, wenn der Mann keusch ist; dagegen wehrt es sich; es ruft unmerklich das Gefühl zur Mutter in Parsifal wach („wann dann ihr Arm dich wütend umschlang ...“), hält ihm auch die von Wagner früher festgehaltene ErIösung des Mannes durch die Liebe als Möglichkeit vor. Kundry in „Parsifal" (das Sehnen ist's, das ihn verhindert, zum Gral, d. i. zum Sittlichen, Göttlichen zu kommen): das ist der „Fluch der Kundry". Das alles stellt Wagner hoch über Goethe, dessen letztes Wort doch nur das vom „Ewig-Weiblichen", die Erlösung des Mannes durch das Weib, war. Kundry müßte freilich schon im 2. Akte sterben, da Parsifal ihr widersteht. Die Fußsalbung durch Maria Magdalena. Evang. Joh. 12, 3 ff. 8, 3 ff. Parsifal und Klingsor: das Transsexuelle und das Sexuelle, im Mann, auf 2 Personen verteilt. Das Weib als Sklavin des Sexuellen im Manne (Klingsor), Vgl. „Geschlecht und Charakter". Gral und Speer sind „verwandt“, wie Licht und Gravitation, wie das Etwas und sein Spiegel, das Nichts. Das Nichts ist nur der Reflex des Etwas, und es für real zu halten, das ist der Sündenfall. Diese letzte Identität, das Nicht-Sein des Nichts, muß schließlich erkannt werden. Auch der Empfindung liegt das Ding an sich zugrunde. Klingsor will das Sittliche nicht im Kampfe erobern und behaupten, sondern durch Entmannung erzwingen, erreichen (der Asket gewordene Verbrecher), um..... Er fühlt nicht, daß er die Idee des Sittlichen damit bereits prostituiert, wenn er sie fertig haben und ihres Besitzes sich erfreuen, und dann irgend etwas beliebiges anderes tun will; er weiß nicht, daß Sittlichkeit ewige Tat, ewige Schöpfung ist. Der Wunsch, Gott zu sein, ist frevelhaft, der Wille, Gott zu werden, nur aktiv zu sein, einzig gut. Klingsors Wunsch ist rein hedonistisch; er will als Gott Ruhe haben vor den eigenen Anfechtungen; indes Gott zwar vollkommen ist, aber eben volIkommen als volIkommen aktiv, niedertretend dem Bösen gegenüber. Klingsor benützt Gott als Mittel zum Zweck, d.h. er bringt ihn in die Zeit. Bedenkt
man, wie das Bewußtsein seiner selbst am stärksten wird nach
einer Schuld, so kann als der Sinn der Erbsünde der aufgefaßt
werden, daß Gott den Spiegel, das Nichts, braucht, um seiner selbst
bewußt zu sein. „Suche dir Gänser die Gans", heißt heirate, aber dann steck, dir nicht das Reich Gottes zum Ziel. „Zum Raum wird hier die Zeit“: hierin liegt, recht dunkel freilich, der Raum als Symbol der Vollendung. Denn wie Zeit zum Raum, so verhält sich das Erdenleben zum Leben nach dem Tode. Das
Motiv der Blumenmädchen ist das Flehen um Existenz. Auftauchen eines
Irrlichtes aus dem Nichts, und Untertauchen. Das Lachen der Kundry geht aufs Judentum. Die metaphysische Schuld des Juden ist Lächeln über Gott. Am Karfreitag, dem Weltentsühnungstag, findet sich von selbst alles zusammen. Kundry ist Symbol alles nur Sinnlichen, nicht Sittlichen in der Natur; mit ihr ist die Natur entsühnt: der Mensch als Erlöser seiner selbst ist Erlöser der Welt. Alle
Schuld als die eigene; Parsifal (Christus) spricht: „Welcher Sünden,
welcher Frevel Schuld Tor: Jesus Abneigung gegen das Judentum wird zur Abneigung gegen die „Gescheitheit", zur Erhebung der Einfalt. Der Speer ist Symbol des Bösen, Parsifal darf ihn nicht führen. Die Welt ist nicht ohne den Menschen; und der Mensch nicht ohne die Welt; es gibt keine Welt, in der nicht der Mensch ist. Der dumpfe Rest des Gefühles für ein Verhängnis über sich (Artur Gerbers Gedicht „Sie sang"), das sind die Schreie der Kundry im 1. und 2. Akte. Dieses Weib, das menschliche Weib, die Dirne (nicht das tierische, die Mutter) haßt den Mann schwach, aber es haßt ihn doch; darum haßt Kundry dumpf den Amfortas, der ihr zu Willen war, weil er sie auf dem Gewissen hat. Psychologie
des Sakrilegs: Alberich-Klingsor. Abschließend noch zwei Zitate aus Weiningers Aufsatz: „Henrik Ibsen und seine Dichtung Peer Gynt“ (Zum 75. Geburtstag des Dichters) "Alter
ist Tod, Jugend ist Leben. Je größer ein Mensch ist, desto
weniger altert er, desto weniger wird sein Wille schwächer im Alter. „Im
Parsifal könnte höchstens das Weib vom Manne erlöst werden
Aber es will diese Erlösung nicht, es wehrt sich gegen sie. Also
hat das Weib für Wagner keine Stätte mehr im Reiche Gottes,
Kundry stirbt an der Schwelle desselben; das Weib kann als Weib nicht
weiter existieren, nachdem es den Gral geschaut hat. Es erschüttert
zu sehen, wie derselbe Wagner, der einst Elisabeth besang, über das
Weib umgelernt hat; ohne tiefen Schmerz wird das kaum sich vollzogen haben.
Er verneint jetzt das Weib durch die Bejahung der völligen Keuschheit
des Mannes. Es ist damit seiner Funktion beraubt, zwecklos geworden in
der Welt, es muß sterben. Die Vergehung des Mannes am Weibe, die
in aller Erotik enthalten ist, hat Ibsen viel tiefer erfaßt und
viel stärker bereut als Wagner; die Sünde des Mannes wider sich
selbst, die in der Geschlechtlichkeit liegt, als dem Wunsche, sich in
den Armen eines Weibes gänzlich vergessen zu können, ist das
Moment, auf welches Wagner schon im 'Tannhäuser‘ sehr viel
und Ibsen sehr wenig Nachdruck legt." |