DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG
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Premiere
Staatsoper
4. Dezember 2022

Dirigent: Philippe Jordan

Inszenierung: Keith Warner
Bühne: Boris Kudlicka
Kostüme: Kaspar Glaner
Licht: John Bishop
Video: Akhila Krishnan
Choreographie: Karl Alfred Schreiner

Hans Sachs - Michael Volle
Sixtus Beckmesser - Wolfgang Koch
Veit Pogner - Georg Zeppenfeld
Fritz Kothner
- Martin Häßler
Kunz Vogelsang -
Jörg Schneider
Konrad Nachtigall -
Stefan Astakhov
Balthasar Zorn -
Lukas Schmidt
Ulrich Eißlinger -
Ted Black
Augustin Moser - Robert Bartneck
Hermann Ortel - Nikita Ivasechko
Hans Schwarz - Dan Paulm Dumitrescu
Hans Foltz -
Evgeny Solodovnikov
Walther von Stolzing - David Butt Philip
David - Michael Laurenz
Eva - Hamma-Elisabeth Müller
Magdalene - Christina Bock
Nachtwächter - Peter Kellner

Der Kobold (stumme Rolle) - Josef Borbely


Zwischen Trauer, Traum und Wahn

(Dominik Troger)

Nach fast fünfzig Jahren hat sich die Wiener Staatsoper eine Neuproduktion von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ gegönnt. Mit viel Introspektion und wenig Pathos drehen der Regisseur Keith Warner und Michael Volle als Sänger des Sachs die „Meistersinger“ in die Richtung unverfänglicher Privatheit, gewürzt mit einer moralisch angehauchten Schlussutopie.

Im Jahr 1975 durfte man sich an der Staatsoper natürlich noch an Wagners Szenenanweisungen halten. Das „Bilderbuch-Nürnberg“ der Produktion von Otto Schenk in der Ausstattung von Jürgen Rose war naives, historisierendes, stimmungsvolles, handwerklich ausgezeichnetes „Operntheater“, bei dem man als Publikum in freudiger Annahme des Gebotenen nicht dazu verleitet wurde, sich eigene Gedanken zu machen. Ganz im Gegenteil: Im Finale wurde die Zuhörerschaft quasi selbst zum Teil der jubelnden Menge, angezündet vom muskalischen Pathos mit dem Wagner sein Werk so wirkungsmächtig ausklingen lässt.

Christine Mielietz hat in den 1990er-Jahren an der Volksoper die gesellschaftpolitische Situation etwas zugespitzt, die „kunstrevolutionäre“ Befreiung der pedantisch-eigenbrötlerischen Meister durch Sachs und Stolzing, unter Zustimmung der Nürnberger Bevölkerung, wurde mit dem unvergesslichen technischen Effekt der Hebung des Orchestergrabens im Schlussbild optisch eindrucksvoll unterstrichen. Die Meister hatten dabei die Kritik am „Nationalen“ auszubaden, die Prügelszene im Finale des zweiten Aufzugs war von elementarer Wucht und großes Theater.

Aber gemessen an der Wiener Staatsoper im Jahr 2022 fühlen sich solche „Reminiszenzen“ fast ein wenig „suspekt“ an. Der gesellschaftpolitische Sprengstoff hat sich zur Innenschau gewandelt, Hans Sachs erledigt drei Aufzüge lang „Trauerarbeit“, sind ihm doch Frau und Kind verstorben. Wäre nicht das Finale – von dem noch die Rede sein wird – könnte man fast von einem Abtriften ins unpolitisch „Biedermeierliche“ sprechen. Keith Warner vermeidet damit geschickt die nationale Klippe – und Sachsens Schlussansprache wird zum privaten Akt zwischen ihm und Stolzing.

Warner macht die „Meistersinger“ zur Selbsttherapie von Hans Sachs. Der Verlust naher Familienangehöriger will verarbeitet sein. Wenn sich der Vorhang öffnet (das Vorspiel bleibt dankenswerterweise uninszeniert) befindet sich Hans Sachs bereits auf der Bühne, er schreibt, er dichtet, er scheint sich nicht wohl zu fühlen. Sachs erlebt zwischen Traum und Wahn die Geschichte von Stolzings Werbelied und Evas süße Verlockung. Die Ereignisse kulminieren in einer lauen Juninacht, wenn die aufeinander einprügelnden Nürnberger den Nachtwächter fliehen, der kostümiert als Dürers „Tod“ seine zweite Runde macht und verhalten die Sense schwingt. Fühlt Sachs wie es ihm die Kehle zuschnürt? Kein Wunder wenn er am Beginn des dritten Aufzugs griesgrämig in einer modernen Ausgabe der Schedlschen Weltchronik von 1493 blättert.

Die surreale Vermischung von Traum, Wahn und Wirklichkeit erlebt auf der Festwiese ihren Höhepunkt. Sachs bleibt im Übergang zum Festwiesen-Bild auf der Bühne, von Wahnvorstellungen gepeinigt, von singenden Zunftmitgliedern umkreist, geneckt, vielleicht sogar bedroht. Die Bäcker, als nahrungsflehende Bettler kostümiert, mögen symbolisch für Sachsens zerrüttetes Seelenleben stehen, sehnt er sich doch nach Hoffnung und Liebe wie nach einem Stück Brot. Dann wird das Wettsingen arrangiert und Sachs ist am Rand der Verzweiflung. Aber bald wird sich die Bühne verdunkeln, das breite Podium, auf dem Beckmesser und Stolzing ihre Künste darzubieten haben, wird sich teilen und einen Blick auf ein Familiengrab freigeben. Sachs neigt sich trauernd hinab – und die verstorbene Gemahlin des Schusters betritt die Bühne, stumm, betritt das Podium, stumm, geht wieder ab. Das ist natürlich ein seltsamer Moment in all der vorfreudigen Festwiesenromantik. Aber ist es für Sachs der Moment der Seelenheilung?

Nach dem Sängerwettstreit reizt das unwürdige Verhalten von Stolzing Sachs bis aufs Blut. Er vergisst sich, er gerät in Rage, und er sagt dem Junker deutlich, welche Ehre es bedeutet „Meister“ zu sein. Das Volk wird ausgeblendet – die „nationale“ Verfehlung von Sachs wird zur unreflektiert geäußerten „Wutrede“ umgemünzt, einer kollektiven Wirkungskraft enthoben. Aber dann taucht der Chor wieder auf und belehrt Sachs und das Publikum: Es gibt nicht nur „deutsche“ Kunst! Bücher werden in die Höhe gehalten, Franz Kafka, Thomas Mann, James Joyce, Pirandello, Dante, Bildbände von Leonardo da Vinci, Chagall und viele weitere mehr. Sachs wird an seine Verfehlung erinnert, nur an die „deutsche“ Kunst gedacht zu haben – und das Publikum natürlich auch.

Diese finale Geste schwankt zwischen bedrängender Zeigefingermoral und dem Versuch, eine über alle Grenzen hinweg mögliche Versöhnung der Menschen durch die Kunst anzudeuten. Es ist wohl eine Utopie, zu der Sachs als Endziel seines menschlichen Reifungsprozesses gelangt, eine Utopie, die ihm in Selbsterkenntnis (auch über seine „nationale Verfehlung“) zuwächst. Werden nicht auch Bücher mit kyrillischer Schrift gezeigt? Wäre es nicht schön, wenn die Kunst wirklich die ganze Welt retten könnte?

Warner erweitert mit diesem Finale Wagners Blickwinkel, nimmt ihm aber auch viel an Pathos. Überhaupt tritt die Frage des Standes und die soziale Komponente bei Warners „Meistersinger“-Exegese stark in den Hintergrund. Wenn sich Ritter Stolzing im hellen Anzug im ersten Aufzug einem Hans Sachs im dunklen Anzug mit schwarzem Mascherl gegenübersieht und einer mit fast freimaurerischer „Viktorianik“ (Keith Warner ist Londoner) ausstaffierten Meistersingergesellschaft, dann spürt man wenig von diesem spannungsgeladenen Gegensatz zwischen handwerklich-bürgerlicher Zunftgemeinschaft und einem Adel, der seinen Reichtum quasi „ererbt“ hat. Das Gemeinschaftserlebnis des Volkes auf der Festwiese bedeutet bei Wagner doch auch eine Versöhnung der Stände, ein Akzeptieren der Gegenwart und der Eigenschaften des jeweils anderen. Die Zeichnung von Stolzing ist bei Warner überhaupt etwas schematisch ausgefallen, er konnte ihm beispielsweise kaum Ironie abgewinnen (das war bei Mielitz ganz anders).

Die Handlungszeit ist übrigens nicht festgelegt, sie schwankt zwischen 19. Jahrhundert und den 1950er-1960er-Jahren. Nach Beckmessers Kostüm zu schließen hat Keith Warner bis zu St. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band assoziiert. Beckmesser saß dann auch ganz lonely und zerknirscht auf den Stufen des Podestes, während Stolzing sein Preislied „trällerte“. Die historische „Abmischung" war nicht immer gelungen, und die songcontestartigen Bewertung der beiden Sänger mit hochgehaltenen Zahlenschildchen buche ich mal auf „britischen Humor“.

Das Bühnenbild war eher einfach gehalten. Die Schusterstube war zum Beispiel praktikabel mit beweglichen Requisiten eingerichtet und mit in der Luft schwebenden Möbelstücken als ein Ort von „surrealer Werkstatt“ gekennzeichnet. Das „Nürnberg“ des zweiten Aufzugs war zumindest zeitweilig als bühnenbreite, alte Ansicht im Hintergrund gegenwärtig. Der zweite Aufzug und die von Warner eingeführte Figur des Kobolds legte als Sachs irritierendes Element zudem flüchtige Fährten zu Shakespeares „Sommernachtstraum“. Große bewegliche Kulissentürme, inwendig mit leicht psychodelischen Mustern ausstaffiert (weiß mit schwarzen Linien), deuteten nicht nur Häuser, sondern genauso den Wahn an, der am Schluss des zweiten Aufzugs wortwörtlich in Großbuchstaben von der Bühne lachte: „W“ „A“ „H“ „N“. Solche „Verschriftlichungen“ sind beliebte szenische Stimittel, langsam sollte man über ihre Entbehrlichkeit diskutieren. Der erste Aufzug mit vielen, auf Rollen gestellten Tafeln, die Notenlinien und jeweils den Namen eines Meister verzeichneten, waren ebenfalls praktikabel. Nicht gut gelöst war das Vorsingen Stolzings, er links am Bühnenrand, Beckmesser zu weit rechts platziert. Dass Stolzing mit dem Sessel, auf den er steigen sollte, fast umgefallen wäre, war ein Premierenhoppalla.

Im Theater an der Wien hat sich das Publikum bereits seit vielen Jahren mit Keith Warners Produktionen angefreundet. Warner ist ein seriöser Künstler mit einem leicht absurden Schuss Humor, der sein Handwerk bestens versteht. Er ist keiner von den „Chefideologen“, die leider an vielen Häusern an den höchsten Stellen sitzen, vor allem auch in der Dramaturgie. Wer in den letzten Ausgaben der Staatsopern-Publikumszeitschrift die Serie über moderne „Wagner-Regie“ gelesen hat, weiß, worauf ich anspiele. Es überrascht vor diesem Hintergrund, dass Warner überhaupt an die Wiener Staatsoper eingeladen wurde.

Dazu passt ein interessanter Aspekt: Keith Warner hätte 2020 in Prag die „Meistersinger“ inszenieren sollen, die Produktion wurde aber wegen COVID abgesagt und sollte durch „Tristan und Isolde“ ersetzt werden – das verraten einem tschechische Zeitungen und Google Translate. Bei den langen Vorlaufzeiten im Opernbetrieb ist es sehr seltsam, dass ein Regisseur für das Jahr 2020 in Prag „Meistersinger“ zusagt, um bereits 2022 eine Neuproduktion desselben Werkes an der Wiener Staatsoper zu wagen. Angeblich haben Keith Warners für Prag geplante „Meistersinger“ relativ kurzfristig den Weg an die Wiener Staatsoper gefunden, um die ursprünglich geplante Neuinszenierung zu ersetzen. Beim Schlussvorhang haben sich Dirigent Philippe Jordan und Keith Warner jedenfalls herzlich umarmt, beide schienen glücklich über den weitgehend starken und sehr positiven Publikumszuspruch zu sein.

Musikalisch machte der Abend zwar viel Freude, wer allerdings zu vergleichen beginnt, wird relativ bald an die Grenzen seines Enthusiasmus stoßen. Aber ist es nicht verpönt, Vergleiche zu ziehen, weil man damit der „erlebten Gegenwart“ ihren Reiz nehmen und Künstlern Unrecht tun könnte? Außerdem wurden die „Meistersinger“ an der Staatsoper zehn Jahre lang nicht mehr gespielt. Man muss also ein wenig in der Vergangenheit graben. Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass Wolfgang Koch im Haus am Ring jetzt Kothner, Sachs und Beckmesser gesungen hat. Er war damals (einspringender Weise) vielleicht ein zu junger Sachs. Jetzt ist er ein vielleicht zu wenig markanter Beckmesser? Die beiden Szenen mit Sachs im zweiten und dritten Aufzug waren amüsant, ein karikaturhafter Zuschnitt wurde vermieden, aber Beckmesser hätte sich auch etwas „Intellektueller“ geben können. Es fehlte zudem ein wenig der „Charakter“ in der Stimme, um sich gesanglich stärker von Sachs abzuheben.

Michael Volle hat die breitere, die fülligere Stimme von den beiden, machte davon aber eher sparsam Gebrauch. Er gab sich als weiser, reifender und gereifter Mensch, ein Sachs mit Lebenserfahrung. Volles Sachs ist eloquent, ein mehr rhetorischer Sachs, keiner der sich mit Lust und Laune Wagners großen Tönen ausliefert, sondern der sie mit einer Verhaltenheit mildert, die ihnen das Pathos nimmt. Dergleichen geht natürlich mit dem oben geschilderten Konzept einer unbewältigten Lebenskrise Hand in Hand. Die große Vereinnahmung des Publikums lag ihm eher nicht am Herzen und eine „derbere“ Welt der Handwerker war ihm fremd. Man hätte fast glauben können, dass er seine Boshaftigkeit Beckmesser gegenüber im nächsten Augenblick bereut. Man hat bei den „Meistersingern“ schon mehr gelacht, als an diesem Abend.

David Butt Philip gab einen ordentlichen, sympathischen Stolzing mit zu wenig Strahlkraft im Lyrischen. Sein Tenor benötigte einige „Energie“, um sich mit leicht dunklem Glanz zu öffnen und übers Orchester zu schwingen. Das Preislied ist an diesem Haus schon effektvoller erklungen, aber: siehe Vergleiche und so. Vom Typ und Timbre gut getroffen, stimmlich ein bisschen schmal mit wenig Tiefe unterwegs: die Eva der Hanna-Elisabeth Müller. Christina Bock passte als (zu wenig humorvolle?) Magdalene auf sie auf.

Georg Zeppenfeld war im Gehabe ein seriöser, schönstimmiger Pogner, mehr Vater als Geschäftsmann. Dass er seine Tochter als Preis aussetzt, ob man ihm das abnimmt? Sogar Zeppenfeld hat bereits den Sachs gesungen, wenn auch nicht in Wien. Die Meister hätten insgesamt etwas mehr Kontur gut vertragen. Gesellen-, wenn nicht meisterwürdig, der David von Michael Laurenz, wenn auch bei Spitzentönen eine Spur zu grell. Peter Kellner war als Nachtwächter eine Luxusbesetzung. Der Chor war dem Abend die notwendige wichtige Stütze.

Das Orchester unter Philippe Jordan war ein wenig zu einförmig unterwegs. Wie meist unter ihm mit schönem, leicht dunklem Klang, wenig dynamisch abgestuft, sich im Interpretativen mehr im Hintergrund haltend, der Bühne gegenüber teilweise zu deckend. Der erste Aufzug war im Gesamtvergleich wahrscheinlich der schwächere, das hat auch mit der Inszenierung zu tun. Aber wie immer bei Premieren frisst die Szene viel von der eigenen Aufmerksamkeit weg, und es wäre notwendig, sich eine zweite Vorstellung anzusehen.

Es gab leere Sitzplätze und man hatte nicht das Gefühl, dass das Haus vom Publikum gestürmt würde. Der Stehplatz hätte trotz reduzierter Kartenzahl noch Publikum vertragen und es waren einige Sitzplätze frei geblieben (Krankheiten, die wegen einer Demo unbefriedigende Anfahrtssituation?). Nach der zweiten Pause waren es ein paar freie Sitzplätze mehr. Das Publikum applaudierte demonstrativ beim Erscheinen des Dirigenten. Philipp Jordan hat sich mit seinen klaren Worten zum Regie(un)wesen an den Opernbühnen beim Publikum viel Zustimmung erworben. Am Schluss wurden ihm sogar ein paar Blumensträuße geworfen.

Der Abend dauerte inklusive der beiden Pausen von 17 Uhr bis gegen halb Elf. Es gab – wie erwähnt – einige Buhrufe gegen die Regie, aber ohne starke Wirkung. Die große Mehrheit des Publikums feierte die Vorstellung mit viel Applaus und Bravorufen. Der Schlussbeifall dürfte rund eine Viertelstunde lang gedauert haben.