LA TRAVIATA
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Wiener Staatsoper
9.10.2011
Premiere

Dirigent: Bertrand de Billy

Regie: Jean-Francois Sivadier
Bühnenbild: Alexandre de Dardel
Kostüme: Virginie Gervaise
Licht: Philippe Berthomé

Violetta Valery - Natalie Dessay
Alfredo Germont - Charles Castronovo
Giorgio Germont -
Fabio Capitanucci
Flora Bervoix -
Zoryana Kushpler
Annina -
Donna Elle
n
Gastone - Carlos Osuna
Baron Douphol -
Clemens Unterreiner
Marquis d'Obigny - Il Hong
Dottore Grenvil - Dan Paul Dumitrescu
Giuseppe - Dritan Luca
Kommissionär - Wataru Sano
Diener bei Flora - Franz Gruber



Minimalistische „La Traviata“
(Dominik Troger
)

Die „La Traviata“-Premiere an der Wiener Staatsoper verlief insgesamt wenig zufriedenstellend. Die Darstellerin der Violetta kämpfte zweieinhalb Stunden lang um ihre Rolle, und das Regieteam wurde mit vielen Buhrufen bedacht.

„Eigentlich gehe ich damit über meine Grenzen hinaus“, meinte Natalie Dessay, die neue Wiener Violetta in einem Interview mit der PRESSE vor wenigen Tagen, „und ich weiß das natürlich ganz genau. (...) Viele Momente der Violetta liegen sehr tief für meine Stimme.“ In der Publikumszeitschrift der Wiener Staatsoper wird die Sopranistin mit der Aussage zitiert, sie wollte die Violetta einmal „wenigstens ausprobieren“.

Der Regisseur des Abends erklärt im Programmheft lang und breit, warum er „Traviata“ als „Theater im Theater“ spielen lässt und stellt eine Probensituation (!) auf die Bühne, die in einem leeren Saal spielt, in dem ein paar Sessel stehen und ein paar „Bildertapeten“ hängen. Sivadiers wortreiche Erklärungen gipfeln in der Bemerkung: „Die Figur der Violetta an sich existiert nicht, (...).“ Daran könnte man jetzt eine Shakespear’schen Monolog über „Sein oder Nicht-Sein“ auf dem Theater knüpfen – aber lassen wir das lieber.

Der Dirigent der Aufführung, Bertrand de Billy, machte in seinen, die Premiere vorbereitenden Interviews klar, dass das Publikum nicht weinen soll, und er sagte falschen „Traditionen“ der Interpretationsgeschichte den Kampf an. Der Staatsoperndirektor holte sich bei einem Kernstück (!) des Repertoires eine halbgare Koproduktion (!) aus Aix-en-Provence ins Haus, die sogar schon im Fernsehen (!) übertragen worden ist.

Mag sein, dass die genannten Punkte für sich allein betrachtet doch noch einen nachvollziehbaren Sinn ergeben – aber in der Summe addierten sich die Nachteile und nicht die Vorteile. Und wenn man das Endergebnis etwas genauer betrachtet, dann lautet das leicht polemisierende Resümee: „Probe“ oder „Parodie“? Aber kann so ein Ergebnis den Erwartungen entsprechen, die man einer Staatsopernpremiere von „La Traviata“ entgegenbringt?

Natalie Dessay ist eine verdiente und beliebte Sängerin. Doch derzeit scheint sie, folgt man den Interviews, die sie gibt, vor allem das Schauspiel zu interessieren. Trotzdem hat sie – wie bereits erwähnt – den Wunsch geäußert, einmal die „Violetta“ zu „probieren“: Sie hat das heuer beim Festival von Aix-en-Provence gemacht. Und Staatsoperndirektor Meyer hat die Produktion gleich nach Wien geholt.

Schon in der Fernsehübertragung aus Aix-en-Provence war zu hören, wie Dessay um diese Rolle kämpfen muss. Es war in dieser Staatsopernpremiere nicht anders. Die Sängerin vermittelte mir das Empfinden einer physischen Anspannung, die sich erst im Schlussbild löste. Dort war Dessays stimmliche Fragilität ein Vorteil, gehüllt in die Klangfarbe einer tödlichen Auszehrung, Basis für ein berührendes Sterben. Aber eine Vorstellung der „Traviata“ besteht nicht nur aus dem letzten Akt. Selbst dort, wo die Sängerin in früheren Jahren ihre Stärken mit lockerer verzierungsfreudiger Koloraturvirtuosität zum Ausdruck gebracht hätte, war diese Anspannung ständiger Begleiter ihres Violetta-Daseins.

Aber vielleicht rechtfertigte das künstlerische Ergebnis diesen sängerischen Drahtseilakt? Dessay machte auf mich nicht den Eindruck, als würde sie sich wirklich in dieser Rolle zurechtfinden. Flüchtig und mager huschte sie über die Bühne, das schmale Zerrbild eines Verdi-Soprans, der sich aufopfernd auf der Suche nach einem Glück befindet, das von Anfang an außerhalb seiner Reichweite liegt. In einem Interview mit ÖSTERREICH hat Dessay in kluger Selbsteinschätzung von einer „minimalistischen Traviata“ gesprochen. Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

Charles Castronovo ist ein junger aufstrebender Tenor mit einem leicht baritonalen Timbre. Warum er eine Verdi-Premiere an der Staatsoper singt, erschloss sich mir nach dieser Darbietung allerdings nicht. Für diesen Sänger, dessen fesche Körperlichkeit über die mangelnde Bühnenpräsenz nicht hinwegtäuschen konnte, war die Regie mit ihrer „probensituationssimulierenden“ Personenführung jedenfalls eine ganz schlechte Lösung.

Im ersten Akt klang seine Stimme etwas belegt und nasal. Seine große Chance, die Arie samt zündender Stretta am Beginn des zweiten Aktes, hat er verschenkt. Beides geriet ihm zu leidenschaftslos und zu „bemüht“. Das krönende „hohe C“ blieb ungesungen. Vielleicht fiel es der unsicheren Premierensituation zum Opfer, vielleicht hatte auch de Billy etwas dagegen. (Es soll ja Dirigenten geben, die nur das wollen, was angeblich auch Verdi gewollt hat.) Die Stimmung im Haus war danach sehr kühl und der Szenenapplaus war schmerzhaft kurz.

Der Abend stand im zweiten Akt auf des Messers Schneide – und hätte sich nicht Fabio Capitanucci als schönstimmiger Papa Germont erwiesen, wer weiß, wie es geendet hätte. Leider war auch Capitanucci alles andere als eine väterliche Autorität und blieb im Ausdruck ziemlich blass. Zudem grenzte die regiebedingte Zeichnung des Vater-Sohn-Konfliktes phasenweise schon stark ans Parodistische. Auch so kann man die Bühnenautorität von Sängern aushöhlen. Der Applaus vor der Pause fiel dementsprechend knapp aus.

Für die Tanzeinlage der Zigeunerinnen und Stierkämpfer musste der Chor herhalten. Das hätte beinahe das Fass zum Überlaufen gebracht. Es gab danach ein kurzes, helles Buh, dem sich aber niemand anschloss – nur ein paar Zischer. Im Finale rettete Dessay den Abend.

Genau betrachtet war aber diese Sterbeszene die endgültige Bankrotterklärung des Regiekonzeptes. Wohin mit Violetta? Diese Frage scheint Jean-Francois Sivadier gequält zu haben. Er schickt sie dahin, er schickt sie dorthin, setzt sie mit Alfredo auf den Souffleurkasten. Alle singen schon von ihrem Tod, da steht sie immer noch auf der nahezu leergeräumten Bühne und marschiert brav auf das Publikum zu, ehe sie kurz vor dem Orchestergraben umkippt. Besser er hätte ihr ein ganz großes Bett spendiert.

Bertrand de Billy sorgte mit dem Orchester im ersten Akt für eine elegante Leichtigkeit, die die Festgesellschaft sehr gut charakterisierte. Aber weil er das Seelendrama und die emotionale Erschütterung auch nur mit eleganten Klängen illustrierte, verlor der Abend zunehmend an Substanz und begann rasch langatmig zu werden.

Fazit: Viele Buhrufe für die Inszenierung, sogar de Billy bekam einige Buhrufe ab. Applaus und Bravorufe für die Sängerinnen und Sänger. Aber keine Enthusiasmusstärke. Aus meiner Sicht war diese Aufführung der Tiefpunkt der an sich noch jungen Ära Meyer. Schade, dass es ein Werk betrifft, das häufig gespielt wird, und das in einer zwar etwas verstaubten, aber nach wie vor brauchbaren Produktion vorlag.