EUGEN ONEGIN

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Staatsoper
18. Oktober 2021


Dirigent: Tomáš Hanus

Larina - Helene Schneiderman
Tatjana - Asmik Grigorian
Olga - Anna Goryachova
Eugen Onegin - Andrè Schuen
Lenski - Bogdan Volkov
Fürst Gremin - Dimitry Ivashchenko
Filipjewna - Larissa Diadkova
Saretzki - Dan Paul Dumitrescu
Ein Vorsänger - Thomas Köber
Stumme Rolle:
Monsieur Triquet - Eduard Wesener


Aufgewühlte Seelen

(Dominik Troger)

Die Premierenserie des neuen Staatsopern-„Eugen Onegin“ wurde im Herbst 2020 vom Lockdown unterbrochen. Die aktuelle Aufführungsserie bietet nahezu die Premierenbesetzung – mit zwei großen Ausnahmen: Es singt der Staatsopernchor und die Partie der Tatjana ist neu besetzt worden.

Um die Vorstellung des „Eugen Onegin“ am Freitag gab es große Aufregungen, weil der in dieser Produktion eingesetzte Slowakischer Philharmonischer Chor wegen COVID-Fällen „verhindert“ war. Der Staatsopernchor wurde blitzschnell auf die neue Inszenierung von Dmitri Tcherniakov eingeschult – und bei der zweiten Vorstellung war von diesem kurzfristigem „Arrangement“ keine Rede mehr und der Staatsopernchor präsentierte sich in bewährter Form. Mit Asmik Grigorian hat sich dem Wiener Publikum außerdem eine neue Tatjana dem Publikum vorgestellt.

Asmik Grigorian hat in der ersten Premiere der neuen Direktion Anfang September 2020 die Cio-Cio-San gesungen. Ihr charakteristisch gefärbter Sopran mit leicht flirrender Metallauflage ist für „Lyrische Szenen“ allerdings vielleicht nicht mehr ganz so ideal. Er drängt die von der Regie anfänglich ein wenig als neurotisch Leidende gezeichnete junge Frau zu einer nach außen wirkenden Gemütsunruhe, die in der Briefszene mit zu einschneidender Leidenschaft die Seelenqualen ihrer schwärmerischen Liebe formuliert. Regisseur Dmitri Tcherniakov hat die Szene wie einen Dialog mit Eugen Onegin aufgebaut. Tatjana ist in einem fiktivem Gespräch mit ihm verstrickt. Ihre seelische Entäußerung treibt sie sogar dazu, auf den riesigen Tisch eines Speisezimmers zu klettern. Von dort hätte Grigorian rein stimmlich betrachtet auch als Senta in die Tiefe springen können.

Im letzten Akt schlug diese bloßgelegte Verletztheit beinahe in Kälte um, und die großen Emotionen hätten sich ihrerseits in gesättigteren, erinnerungssüchtigeren Gefühlen ergehen können. Aber auch hier ist die Inszenierung zu bedenken: Ist diese Tatjana am Schluss nicht eine gebrochene Frau, wenn sie am Arm ihres Mannes wie an einem Rettungsanker klammernd die Bühne verlässt? (Aber was hat der Kerl in dieser Szene überhaupt auf der Bühne verloren?) So blieb der Gesamteindruck unausgewogen und in Summe würde ich der Premierenbesetzung durch Nicole Car, für die Asmik Grigorian eingesprungen ist, den Vorzug geben.

Andrè Schuen findet im Finale zu starker Emotionalität, wenn er an der Rampe zusammenbricht. Leider ist die Inszenierung der größte Feind für den Sänger der Titelpartie. Vor allem der dritte Akt mit ein paar Slapstick-Einlagen führt die Figur auf das „Glatteis“ einer lächerlichen Selbstgefälligkeit. Onegin und Tatjana müssen sich im Schlussbild auf Augenhöhe begegnen, wie sonst könnte das Publikum daran glauben, dass Tatjanas Treue in großer Gefahr schwebt? Andrè Schuen, der mir in der Premierenserie insgesamt noch zu verhalten vorgekommen war, macht inzwischen das Beste daraus und sein Bariton stellt jugendlichfüllige Noblesse ebenso bereit wie genug „Power“ für das Finale.

Bogdan Volkov hat als Lenski die regieverordnete Aufgabe aufopferungsvoll gemeistert, sich als Monsieur Triquet (!) zum Trottel der versammelten Festgesellschaft zu machen. Mit viel Hingebung widmete er sich wenig später den „entschwundenen Zeiten“. Sein Tenor ist nicht gerade groß, aber der Sänger behauptete an diesem Abend mit feiner Lyrik – und in besagter Arie mit überraschender Nachhaltigkeit – seinen Platz. Volkov gelang es, die düstere Endzeitstimmung zu malen, ein zartes Aquarell betrogener Jugend und böser Vorahnung. Aber auch Lenski hätte sich ein anderes Bühnensetting verdient. Das Duell als Raufhandel mit unglücklichem Ausgang zu inszenieren grenzt schon an eine fahrlässige Geschichtsfälschung. Der Gremin des Dimitry Ivashchenko hätte einen satteren Bass gut vertragen. Anna Goryachova als Olga, Helene Schneiderman als Larina und Larissa Diadkova als Filipjewna fügten sich gut in die Inszenierung ein, stimmlich setzten sie keine Höhepunkte – und ob man einer Filipjewna ihre Dienstjahre als Kindermädchen so deutlich anhören sollte? Dan Paul Dumistrecu steuerte einen gemütlichen Saretzki bei.

Die Vorstellung unter der Leitung von Tomás Hanus bekam erst im Festbild „den Boden unter die Füße“ – das sich mit zunehmender Spannung verdichtete. Hanus bot mit dem Staatsopernorchester eine eigenartige Mischung aus leicht „romantisierender Schwermut“ und dem Versuch, die ans Schauspiel angelegte „Konversationsinszenierung“ musikalisch nachzuformen. Im ersten Bild schien das überhaupt nicht zusammenzugehen, die Sänger, der Chor und das Orchester, alles wirkte isoliert, mischte sich zu keinem einheitlichen Höreindruck – zumindest auf der Galerie. Der Briefszene fehlte der dramaturgisch gespannte Bogen. Aber wenn eine Tatjana vor dem Moment ihrer größten Verinnerlichung auf der Bühne lautstark Sessel umwerfen muss, kann man als Dirigent, Sängerin und Publikum ohnehin nur mehr verzweifeln.

Über die nach Wien geholte Inszenierung, mit der eine jüngere (!), wenn auch nicht unbedingt empfehlenswertere von Falk Richter abgelöst worden ist, wurde schon viel geschrieben, ich erspare mir weitere detaillierte Anmerkungen. Zumindest die Personenregie ist sehr ausgefeilt – an diesem Punkt gibt es keine Zweifel. Trotzdem stehen drei handwerkliche Fragen im Raum, die ganz unabhängig von allen interpretativen Einwendungen zu stellen sind: Dass die Bühnenverblendung nur bis etwa zur Hälfte hochfährt und den Blick auf die Bühne von der Galerie zum Teil massiv einschränkt, ist niemandem aufgefallen? Dass Tcherniakov die Vorliebe pflegt, Hauptpersonen am Rand oder im Hintergrund zu positionieren, hat niemanden gestört? Dass der riesige Esstisch, der alle drei Akte lang in Variationen das Bühnenbild beherrscht, massiv die Spielfläche verstellt, war kein Problem? Der starke Schlussapplaus brachte es auf rund fünf Minuten.

Und dann strebt man über die Treppe dem Ausgang zu und schaltet das Handy ein. Eine Nachricht steht auf dem Display. Edita Gruberova ist verstorben. Es folgt ein Moment tiefer Betroffenheit und man beginnt sich zu erinnern. Zerbinetta, Lucia, Adele, Königin der Nacht, Manon und Violetta und Elisabetta und all die vielen Rollen, große und kleine, die sie an der Wiener Staatsoper gesungen hat. Benommen tritt man auf die Straße. Die Straßenbahn kommt. Traurig fährt man nach Hause.