JOLANTHE / NUSSKNACKER

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Volksoper
22. Oktober 2022



Musikalische Leitung: Omer Meir Wellber

Regie: Lotte de Beer
Choreographie: Andrey Kaydanovskiy
Bühnenbild: Katrin Lea Tag
Kostüme: Jorine van Beek
Licht: Alex Brok

Jolanthe - Olesya Golovneva
René, König der Provence - Stefan Cerny
Graf Vaudemont - Georgy Vasiliev
Robert, Herzog von Burgund - Andrei Bondarenko
Ibn Hakia, ein Arzt - Szymon Komasa
Almerik - David Kerber
Bertram - Yasushi Hirano
Martha - Stephanie Maitland
Brigitte - Alexandra Flood
Laura - Annelie Sophie Müller

Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts


Jolanthes Nussknacker: (K)ein Etikettenschwindel?

(Dominik Troger)

„Musiktheater für die ganze Familie“ – mit diesem Wahlspruch hat die Volksoper ihre jüngste Neuproduktion „Jolanthe und der Nussknacker“ versehen. Und zumindest an diesem Samstagabend war das Haus am Währinger Gürtel sehr gut besucht: junge und ältere Menschen, quer durch die Bevölkerungspyramide, auch viele Kinder darunter. Das Marketing hat funktioniert.

Das Märchen von der blinden Königstochter, die durch Liebe von ihrer Blindheit geheilt wird, diente Peter Iljitsch Tschaikowski als Stoff für seine letzte Oper „Jolanthe“. Sie wurde gemeinsam mit seinem Ballett „Der Nussknacker“ 1892 am St. Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführt. „Der Nussknacker“ wurde zum Welterfolg, „Jolanthe” nicht. Gustav Mahler brachte „Jolanthe” bereits im Jahr 1900 nach Wien. Eduard Hanslik ließ dem Werk nach der Premiere eine milde Beurteilung angedeihen, die am 24. März 1900 in der Neuen Freien Presse erschienen ist. Er nannte die Oper „(...) weder Meisterwerk noch Effectstück, wol aber sorgfältige Arbeit eines vornehmen Künstlers.“ Und mehr als neun Aufführungen wurden im Haus am Ring nicht gespielt.

In den letzten dreißig Jahren konnte das Wiener Publikum Tschaikowskis letzter Oper mehrmals begegnen, mit konzertanten Aufführungen im Konzerthaus oder in zwei szenischen Produktionen im Theater an der Wien. Dort sang im Jahr 2001 ein junger, aufstrebender Tenor den Grafen Vaudémont: Piotr Beczala. In den 2010er-Jahren hat Anna Netrebko viel zur internationalen Bekanntheit des Stücks beigetragen – inklusive einer Produktion an der New Yorker Metropolitan Opera.

Was den Abend an der Volksoper zu etwas Besonderem macht, ist die direkte Verschränkung der „Jolanthe“ mit dem „Nussknacker“ zu einem – wie die Spielplanvorschau ankündigt: „Musiktheater nach der Oper und dem Ballett von Peter Iljitsch Tschaikowski“. Die beiden Stücke wurden zu einem einzigen verschmolzen, nicht getrennt durch eine Pause jedes für sich gespielt. Weil die Aufführung an der Volksoper inklusive einer Pause nur zwei Stunden benötigt, waren umfassende Anpassungen und Kürzungen notwendig. Wenn man im Rahmen dieser Vorgaben die Geschichte von „Jolanthe“ einigermaßen nachvollziehbar erzählen möchte, dann wird für den „Nussknacker“ nicht viel Platz bleiben – und so ist es auch.

„Der Nussknacker“ macht sich gut auf der Verpackung, aber viel mehr als ein paar Gustostückerl bekommt das Publikum nicht serviert. Der buntkecke „Nussknacker“ wurde zu einer „rosagrauen“ Phantasie der blinden Jolanthe ausgebleicht. Insofern ist der Titel irreführend – eigentlich handelt es sich um eine mit kostümiertem Ballett angereicherte „Jolanthe“ – der Bezug zum „Nussknacker“ ist lediglich ein historischer. Jede andere Tschaikowski-Ballettmusik hätte den Zweck genauso gut erfüllt.

Inszeniert hat Lotte de Beer, die neue Direktorin des Hauses. Marketing kann sie augenscheinlich. Dass sie Regie führt, weiß man in Wien spätestens seit ihrer „La Bohéme“ an der Kammeroper im Jahr 2013. Jolanthe wartet im weißen, nachthemdähnlichen Kleid auf ihren Prinzen – ein paar Stühle, Pölster, der König im dunklen Anzug, eine leere, schräg zum Bühnenrand versetzte, helle, holzgemaserte Spielfläche: Viel zu sehen gibt es, bis auf die Balletteinlagen, nicht. Die Bühne soll vielleicht die optische Leere von Jolanthe andeuten, ihren Seelenraum, den hin und wieder das Ballett ausfüllt, mehr bedrohlich als verspielt. Vom rosenbewachsenen Garten des Schlosses, in dem die Prinzessin unter Verschluss gehalten wird, bekommt das Publikum nichts zu sehen. Aber die Hauptsache ist: Ein Prinz wird kommen.

Die Ballettteile fügten sich überraschend gut hinein. Nachdem man am Beginn die Leere dieses Raums als ziemlich kühl empfunden hat, stellt sich bald ein Gleichgewicht ein, wobei die Opernhandlung mit ihrem Fortschreiten immer mehr an Gewicht gewinnt und die nonverbale Welt des Balletts langsam abstirbt, so wie die Phantasie Jolanthes dem eigenen Erleben weicht: Erst kommt die Liebe, dann die Erkenntnis des Lichts. Dieser Lichtmoment hätte sich allerdings für einen starken Effekt angeboten: Hätte es nicht plötzlich „licht“ oder „bunt“ werden können, die Alltagsgewänder des Hofstaates, das weiße Ordinationsgewand des Arztes verzaubernd, die kahle Spielfläche in üppige Natur verwandelnd? Müsste es das Publikum in diesem Augenblick nicht von den Sitzen reißen? Das Wunder ist geschehen – Jolanthe sieht! Solch ein theaterzauberischer Moment wurde verabsäumt. Die Inszenierung also doch weder Meisterwerk noch Effektstück, wohl aber sorgfältige Arbeit einer die Möglichkeiten des Hauses und seines Publikums erst auslotenden Regisseurin?

Musikalisch wurde der Abend vom Volksopernorchester unter Omer Meir Wellber dominiert, im Klang frisch aufpoliert und differenziert. Die Tanzeinlagen (Blumenwalzer, Arabischer Tanz …) waren mehr Ausdruck von Jolanthes Gemütsverfassung weniger ballettromantische „Gassenhauser“. Vor allem nach der Pause hat Wellber die Höhepunkte in der Musik sehr gut herausgebracht, mehr das Drängende betont, etwa wenn Jolanthe und Vaudémont sich näher kommen, ohne dabei die Gefühle musikalisch triefen zu lassen oder sie pathetisch zu zelebrieren. Wellber dürfte zu mehr zügigen Tempi neigen, zu einer kontrollierenden Straffheit, die vielen Dirigenten einer jüngeren Generation eigen ist.

Die gesanglichen Leistungen blieben in Summe unter den Erwartungen, den profunden König von Stefan Cerny ausgenommen. Stimmlich zu wenig jugendliches Flair verbreitete Olesya Golovneva als Jolanthe mit ihrem zu starkem Vibrato neigendem Sopran, der die Partie – für meinen Geschmack – zu robust und expressiv zeichnete. Darstellerisch war sie glaubwürdig und gut in die Produktion eingebunden.

Georgy Vasiliev konnte mit seinem geradlinigen, nicht wirklich farbenreichen und etwas forciertem Tenor als rettender Ritter auch nicht mit lyrischem Schmelz punkten. Darstellerisch hatte er weniger zu leisten als Jolanthe. Zu berücksichtigen ist dabei, dass in deutscher Sprache gesungen wurde. Szymon Komasa war ein eher unauffälliger, jedenfalls nicht geheimnisvoller Arzt – von der Regie mit Standardgesten ausstaffiert. Dazu gesellten sich noch Andrei Bondarenko als Robert, Yasushi Hirano als schönstimmiger Bertram, Jolanthes Amme (Stephanie Maitland) und ihre Freundinnen Annelie Sophie Müller, Alexandra Flood (für die erkrankte Anita Götz eingesprungen) sowie David Kerber als Waffenträger.

Das Ballett wirkte auf mich ein wenig „downgegradet“, was auch mit der kleineren Spiel- und Tanzfläche zu tun haben könnte. Den im Rahmen der Inszenierung zugewiesenen Platz hat es gut ausgefüllt. Der Publikumszuspruch war stark, bei etwa sechsminütigem Applaus. Die Länge der Aufführung ist für die adressierte Zielgruppe gut gewählt, zwei Teile zu rund fünfzig Minuten mit ausreichender Pause dazwischen. Premiere war am 9. Oktober, besprochen wurde die vierte Vorstellung der Premierenserie.