DIE JUNGFRAU VON ORLEANS

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Theater an der Wien
16. März 2019

Premiere

Musikalische Leitung: Oksana Lyniv

Inszenierung: Lotte de Beer
Ausstattung: Clement & Sanou
Licht: Alessandro Carletti
Choreographie: Ran Arthur Braun

Wiener Symphoniker
Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)

Johanna - Lena Belkina
Thibaut d’Arc, ihr Vater - Willard White
Raimond, ihr Verlobter - Raymond Very
König Karl VII. - Dmitry Golovnin
Agnès Sorel - Simona Mihai
Erzbischof von Reims - Martin Winkler
Lionel - Kristján Jóhannesson
Dunois - Daniel Schmutzhard
Bertrand - Igor Bakan
Loré - Florian Köfler
Ein Soldat - Ivan Zinoviev

Akrobatin & Double Johanna - Helena Sturm
Akrobat & Double Lionel - Sebastijan Gec



Pubertäres Verwirrspiel

(Dominik Troger)

Während „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ zum Kernrepertoire zählen, haben sich die anderen Opern von Peter Iljitsch Tschaikowsky außerhalb Russlands nie durchsetzen können. Das Theater in der Wien hat jetzt mit „Die Jungfrau von Orléans“ eine weitere Bühnenrarität des Meisters dem Wiener Publikum vorgestellt.

Das Theater an der Wien hat sich bereits in der Vergangenheit mit szenischen Produktionen der „Iolanthe“ und „Die Zauberin“ den weniger bekannten Opern Tschaikowskys angenommen. Die „Mazeppa“ ist erst unlängst konzertant im Rahmen eines Gastspiels der Moskauer Helikon Oper gegeben worden. Mit Tschaikowsky Versuch, das Schicksal von Jeanne d’Arc auf die Bühne zu bringen (Uraufführung 1881), wurde jetzt eine weitere Lücke geschlossen.

Der Komponist hat die Oper nach einer Reihe von Quellen – unter anderem dem Theaterstück von Friedrich Schiller – konzipiert und selbst getextet. Bald nach der Uraufführung wurde sie von Tschaikowsky auf Wunsch der Direktion des St. Petersburgers Mariinsky Theaters überarbeitet und die Rolle der Johanna vom Sopran zu einem Mezzo transponiert. Die mit einigen Strichen versehene Aufführung im Theater an der Wien basiert auf dieser Zweitfassung. Die Aufführung dauert inklusive einer Pause knapp drei Stunden.

Als naiver Kulturkonsument geht man natürlich davon aus, die Geschichte dieser Oper zu kennen: das Schicksal von Jeanne d’Arc, ihre Berufung, ihr Kampf, ihr Tod, sind Bestandteil der europäischen Geschichte, auch wenn Tschaikowsky wesentliche Elemente der Schiller’schen Handlung übernommen hat. Die dramatische Verdichtung des Stoffes ist bei seiner „Veroperung“ aber geschwunden – und die Liebesgeschichte mit Lionel und die Anklage von Johannas Vater in Reims wirken in der Oper recht „zufällig“ und fragmentarisch. Tschaikowksy hat mit seiner „Jeanne“ auch auf die französische Oper geschielt, Massenszenen und Tanzeinlagen bilden zur individuellen Entwicklung der Hauptfigur einen starken Gegenpol, überdecken sie phasenweise sogar.

Die psychologische Entwicklung der Figur bleibt hingegen etwas blass, und ihre Glaubwürdigkeit auf der Bühne hängt stark davon ab, in wie weit dem Publikum in den ersten beiden Akten der kompromisslose religiöse Glaube vermittelt wird, der Johanna leitet – um nicht gar von einem religiösen Wahn zu sprechen. Aber wie sonst sollte man verstehen, dass sie sich plötzlich schuldig fühlt, weil sie ihren eigenen Ansprüchen untreu geworden ist, weil sie Ritter Lionel im Kampf nicht getötet hat – sondern sich sogar in ihn verliebt. Im Übrigen ist Jean weder bei Schiller noch bei Tschaikowsky eine Bannerträgerin der Emanzipation, sondern sie akzeptiert voll das patriarchalische „Rollenbild“, dass ihr die Religion vorgibt. Und sobald sie dagegen verstößt und sich gegen ihre an der Jungfräulichkeit Mariens orientierte Weiblichkeit versündigt, wird – unter ihrer demütigen Mitwirkung – ihr gegenüber das ganze Strafpotenzial der patriachalischen Lebenswelt ausgeschöpft.

Warum ich so viele Worte über diese augenscheinliche Selbstverständlichkeit verliere? Weil die Produktion im Theater an der Wien eine ganz seltsame Geschichte konstruiert, in der Frauen Plakate mit „Votes for Women“ ebenso schwenken, wie Johanna offenbar im Rahmen ihrer pubertären Entwicklung schwer unter damit verbundenen körperlichen Erfahrungen zu leiden hat. Individuelle Frauwerdung, erste Liebe und menstruelle Bauchkrämpfe und Blutungen gehen mit Selbstvorwürfen Hand in Hand, die sich möglicherweise für diese „Bühnen-Johanna“ traumhaft-visionär im Schicksal der historischen Jeanne d'Arc spiegeln.

Vielleicht soll das die szenische Durchmischung der Zeitebenen belegen, die dazu führt, dass zum Beispiel im vierten Akt englische Ritter in mittelalterlicher Rüstung Johanna statt in einem Wald in ihrem modern eingerichteten „populärkulturellen“ Kinderzimmer gefangen nehmen, in dem sie sich gerade Lionel hingibt. Dieses Beispiel zeigt bereits: Es war nicht immer leicht, dieser Inszenierung von Lotte de Beer zu folgen, die zu viele (unschlüssige?) Ideen in diese Produktion gepackt hat. Und ein ganz besonderer Clou war die Verdoppelung des Bühnencharakters, wodurch sich Johanna bei ihrer eigenen Hinrichtung „selbst“ trösten konnte. (Wobei Johannas Feuertod szenisch nicht stattfand, sondern die gefesselte Johanna von ihrem Double befreit wurde.)

Der erste Akt hat eine Zeitlang noch einigermaßen gut funktioniert, auch wenn man genötigt wurde, zur Ouvertüre eine mondäne Wohnküche zu bestaunen in der Jeanne ihre Probleme mit ihrem Vater – möglicherweise ein protestantischer (?) Geistlicher – handfest auslebt. Aber als plötzlich Frauenfiguren aus vielen Jahrhunderten dieses schon erwähnte Kinderzimmer bevölkerten (Königin Elisabeth I, Margret Thatcher (?), Lesben, eine Abordnung Suffragetten und rockige Pussy Riots) begann sich szenische „Konfusität“ breit zu machen. Wie sollte das alles noch mit der Geschichte, die Tschaikowskys Oper erzählt, zusammenpassen? Und Johannas Hochbett aus diesem Zimmer wurde im dritten Akt zum „Thron“ auf dem sie ihre Frauwerdung erfahren sollte. Das Hochbett und die vier blutbefleckten Stoffbahnen, die sich von dort schräg abwärts auf die Bühne spannten und vom Chor befühlt wurden, sorgten für einen starken feministischen Akzent.

Ihre kritische Haltung hat de Beer dazu verleitet, das Establishment selbst zu karikieren: Wenn der Erzbischof kein Erzbischof mehr ist, sondern ein leicht vertrottelter Worthülsenproduzent, zerstört sie die Grundlage, auf der Johannas Überzeugungen basieren. Wieso soll sich Johanna religionsbezogene Selbstvorwürfe machen, wenn die Vertreter dieser Kirche solche „Kretins“ sind? Und warum soll das Publikum dann noch an die Ernsthaftigkeit von Johannas Überzeugungen glauben? Selbst „Kretins“ wahren in diesem Fall den Schein, weil sie meist nicht so dumm sind, darauf zu vergessen, dass ihre soziale Stellung von der glaubwürdigen Zurschaustellung ihrer Macht abhängt. Auf diese Weise hat die Inszenierung Scheibchenweise dem Werk die ohnehin etwas magere Substanz entzogen. Sogar Akrobaten wurden eingesetzt, die am Beginn des dritten Aktes vom Schnürboden baumelnd als Johanna und Lionel einen „Luftkampf“ führten.

Außerdem machte sich bald bemerkbar, dass die mäßigen gesanglichen Ressourcen der Protagonisten einer erfolgreichen Neuentdeckung dieser Oper für das Wiener Publikum nicht wirklich förderlich sein würden. Als Jeanne trat Lena Belkina an. Im Aussehen passend, jugendlich, langes Haar, hat die Sängerin aufopferungsvoll das Regiekonzept vertreten. Aber ihre stimmliche Präsenz war nicht so überzeugend, die Stimme zu klein, um der Titelfigur zumindest ein bisschen Pathos zu leihen, damit man ihr die Seelennöte auch glauben möge. Mehr stimmliche Durchschlagskraft steuerten Kristjan Jóhannesson (Lionel) und Daniel Schmutzhard (Dunois) bei. Sehr markant ließ sich der König Karl von Dmitry Golovin hören und noch greller die Agnés Sorel der Simona Mihai. Bei Martin Winkler (Erzbisschof von Reims) hat sich das von der Regie befeuerte übertriebene Spiel womöglich auf die Stimme geschlagen. Stimmlich kein Highlight: Johannas Vater und „Le Monde“-Leser Willard White oder ihr Verlobter Ramon Very. Der Arnold Schönberg Chor bot wieder seine gesangliche und darstellerische Klasse auf.

Die Wiener Symphoniker unter Okwana Lyniv sorgten nicht nur für eine in den Holzbläsern fein ausdifferenzierte Ouvertüre, sondern Lyniv bewahrte sich neben den kompakten Massenszenen und von Tschaikowsky sehr „repräsentativ“ orchestrierten Passagen immer auch ein Gefühl für stimmungsvolle Details, ohne dabei „sentimental“ zu werden. Aber trotzdem bestand abseits dieser großen „Tableaus“ etwa in den Duetten eine Tendenz zur Verflachung, sozusagen im Gleichklang mit der Bühne, kamen dann auch aus dem Graben zu wenig die Spannung haltende Impulse.

Der Applaus war stark, aber bei einzelnen Sängerinnen und Sängerinnen gab es auch eine ihrer Leistung gerechte Zurückhaltung. Bei der Regie kam es zu ein paar, nicht sehr lautstarken Buhrufen, die Bravorufe flachten auch deutlich ab.

Fazit: „Die Jungfrau von Orleans“ gilt zu recht als Rarität, eine konzertante Aufführung hätte nach meinem Eindruck ausgereicht – und ohne eine erstklassige Besetzung sollte man überhaupt die Finger davon lassen.