CHARODEYKA

Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Tschaikowsky-Portal

Theater an der Wien
14. September 2014

Österreichische Erstaufführung

Dirigent: Mikhail Tatarnikov

Inszenierung: Christof Loy
Ausstattung: Christian Schmidt
Licht: Bernd Purkrabek
Choreographie: Thomas Wilhelm

ORF Radio-Symphonieorchester Wien

Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)

Fürst Kurljatew - Vladislav Sulimsky
Fürstin Jewpraxija - Agnes Zwierko
Prinz Nikita, Juri - Maxim Aksenov
Mamyrow - Vladimir Ognovenko
Nenila - Hanna Schwarz
Nastasja, "Kuma" - Asmik Grigorian
Foka - Martin Snell
Polya - Natalia Kawalek-Plewniak
Kitschiga - Nikolay Didenko
Balakin - Erik Arman
Paisi - Andreas Conrad
Potap - Stefan Cerny
Lukasch - Vasily Efimov
Kudma - Martin Winkler
Iwan Schuran - Martijn Cornet


Eine Neuentdeckung
?“
(Dominik Troger)

Tschaikowsky zwischen russischem Mittelalter und bürgerlichen Beziehungsgeschichten: Das Theater an der Wien startete mit der selten aufgeführten Oper „Charodeyka“ in die neue Saison.

Die Handlung der „Charodeyka“ („Die Zauberin“) spielt im 15. oder 16. Jahrhundert (im Programmheft finden sich beide Angaben). Die Wirtin Kuma, die bei Nischni-Nowgorod freizügig ein am Fluss gelegenes Wirtshaus führt, wird zum Liebesobjekt des regierenden Fürsten und seines Sohnes. Man munkelt von ihr überhaupt, dass sie die Männer „verzaubere“. Die Fürstin wird natürlich eifersüchtig auf ihre Nebenbuhlerin und vergiftet sie. Der Fürst, der eine hochgradige „Lebensmittenkrise“ durchmacht, ermordet schließlich seinen Sohn im Streit und endet im Wahnsinn. Eingebettet ist diese Familientragödie in ein historisches Umfeld, das viel Volk auf die Bühne bringt und zwei – wenn man es so nennen möchte – archetypische Landschaftselemente: einen Fluss und einen Wald. Der Wald wird schließlich zum Schauplatz des tödlichen Finales.

„Charodeyka“ wurde 1887 uraufgeführt, hat sich aber nie durchsetzen können. Große Chorszenen – vor allem im langen ersten Akt – kontrastieren mit einer Beziehungsgeschichte, in der immer wieder das bürgerliche Element durchschimmert wie beispielsweise die Frage nach der individuellen Partnerwahl, dem großen Thema der Oper des 19. Jahrhunderts. Die Oper besitzt einen düsteren Zug, eine rauere Klangsprache als Tschaikowskys Erfolgsopern „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“. Das historische Gemälde und der psychologische (um nicht zu schreiben psychoanalytische) Zugang Tschaikowskys verschmelzen aber nicht zu einer homogenen Struktur. Die vier Akte sind sehr unterschiedlich aufgebaut, im von Folklore inspirierten ersten Akt ahnt der Zuseher kaum, zu welchen geradezu progressiven musikalischen Gefilden der Komponist noch aufbrechen wird.

Die Funktion des historischen Hintergrunds bleibt unklar, scheint vor allem eine der Konvention geschuldete Verhüllung eines modern-morbiden Beziehungsgeflechtes, das Vater, Mutter, Sohn und eine von außen auf diese drei fatal einwirkende sexuelle Komponente in einer komplexen Familienaufstellung präsentiert. Lösung für diesen Gordischen Beziehungsknoten hat Tschaikowsky keine parat. Das Liebespaar – Kuma und Juri finden im dritten Akt zueinander – wird ermordet, der Fürst irrsinnig, und das Werk steigert sich in seinen letzten Minuten zu einem Furioso, in dem der Komponist den wahnsinnig gewordenen Fürsten mit einem musikalischen Gewittersturm förmlich zerschmettert.

Das Libretto wurde nach einem Stück des damaligen Erfolgsautors Ippolit Wassiljewitsch geschneidert, und ein wenig spürt man noch das gesprochene Wort hinter diesem Text – etwa im zweiten und im dritten Akt. Zudem ist die psychologische Entwicklung der Figuren etwas sprunghaft. Die Vergiftung Kumas im vierten Akt durch die verkleidete Fürstin, während Kuma auf Juri wartet, um mit ihm zu fliehen, steht auf dramaturgisch schwachen Beinen. Trotz dieser Einwände bietet das Werk – eine hochkarätige Besetzung vorausgesetzt – einiges Potenzial. Der erste Akt steigert sich in einen wahren Volkstaumel und unterhält, wenn er auch im Vergleich zu den folgenden drei Akten nur als sehr lange Exposition bezeichnet werden kann. Im zweiten Akt wird das Beziehungsgeflecht zwischen Fürst, Fürstin, Juri, und dem Schreiber Mamyrow, des Fürsten rechte Hand und stets für Zucht und Ordnung eintretend, mit einigem Geschick geschnürt. Ein Volksaufstand sorgt in diesem Akt für ein starkes Finale. Der dritte Akt bietet einer charismatischen Sängerin ausgezeichnete Möglichkeiten, der vierte Akt endet mit einem Schluss, der unter die Haut geht. Die laut Programmheft nur unwesentlich gekürzte Aufführung dauerte inklusive einer Pause fast dreieinhalb Stunden – der „Knaller“ am Schluss will also verdient sein.

Im Theater an der Wien hat die Inszenierung von Christof Loy in der Ausstattung von Christian Schmidt den analytischen Zugang gesucht – und in einem großen, aus Holz gebauten, hellen Einheitsraum auf das Familiendrama gesetzt, und nicht auf das russische Mittelalter. Der geschützte Raum öffnete sich im Hintergrund je nach Szene mehr oder weniger stark zu einem Wald: eine Öffnung, durch die bedrohlich anarchische Triebhaftigkeit in die gute Stube bürgerlicher Wertvorstellungen hereinlugt. Diese „Bürger“ waren Menschen des 21. Jahrhunderts, ein bisserl neureich und verlottert oder ein wenig subversiv. Wenn Prinz Juri im zweiten Akt in der Short auf die Bühne schlurft, ein Teehäferl in der Hand, aus dem der Faden des Teesackerls baumelt, dann kommt das schon sehr „gewöhnlich“ rüber – auch die Fürstin in der Unterwäsche und mit Perücke, aber wenigstens trug sie reichlich Schmuck bei sich, um das Gift zu besorgen.

Während Loy den langen ersten Akt zu einem recht schwungvollen und grellen Finale geführt hat, ist ihm später bei der Figur der Kuma der inszenatorische Leuchtstift „ausgegangen“. Immerhin hat sie sich, um Juri für sich zu gewinnen, eine Hose angezogen: ein bisschen wie ein „Western Girl“ und selbstbewusst auf beiden Beinen stehend. Aber in dem kahlen Bühnenraum, den höchstens ein Tisch und ein Sessel und/oder ein Bett „bevölkert“ haben, wurde der Sängerin der Kuma zu wenig szenische Hilfestellung geleistet, um sie für das Publikum als „Zauberin“ zu etablieren. Im Finale gab es dann noch Gewitterblitze, die das eigenartig surreale Bühnensetting (im Wald setzt sich Kuma an einen Tisch und trinkt ein Glas Giftwasser) hinweggefegt haben. Die tote Kuma macht sich dann noch auf den Weg in den Bühnenhintergrund: ein „mystisches“ Ende, das in Anbetracht der infernalischen Schlussmusik aber etwas „aufgesetzt“ wirkte. Doch in der Grundtendenz hat Loy das Werk schon von der richtigen Seite aufgezäumt – und es fand sich kein Premierenbesucher genötigt, beim Schlussvorhang sein Missfallen zu bekunden.

Die Kuma der Asmik Grigorian hätte jedenfalls die vorhin angesprochene szenische Hilfestellung gut gebrauchen können. Ihr sehr metallisch klingender und recht „offensiv“ geführter Sopran, betonte vor allem das Selbstbewusstsein der Figur, war aber kein besonderes Attribut ihrer Verführungskunst. Derart versprühte diese Zauberin vor allem eine emanzipatorische und gesangliche „Nüchternheit“, wodurch die Ausdrucksskala Kumas für meinen Geschmack zu stark eingeschränkt wurde. Hingegen bewies Vladimir Ognovenko als Mamyrow mit seinem eindrucksvollen slawischen Bass, was gesanglich und darstellerisch aus diesem Werk herausgeholt werden kann. Mamyrow ist aber nur eine Nebenrolle, die nach einem packenden Zusammenbruch im zweiten Akt kaum mehr etwas zu singen hat.

Die Herren gefielen insgesamt besser als die Damen. Vladislav Sulimsky sang einen griffigen Fürsten, ein belastbarer Bariton mit guter Höhe, der sich trotz starkem Einsatz eine leichte Wärme im Timbre erhielt. Sein Sohn Juri wurde von Maxim Aksenov mit offensiv eingesetztem, etwas hartem Tenor verkörpert. Insofern passte er vom Gesangsstil sehr gut zu Kuma, allerdings war seine Stimmen bei den dramatischen Ausbrüchen belastbarer und handelte sich bis auf eine leichte Grelle kein Vibrato ein. Die Fürstin der Agnes Zwierko klang dann und wann schon etwas derangiert – was aber zweifelsohne zur psychischen Konstitution dieses Bühnencharakters passte, den die Sängerin zwischen Unterwäsche und Schmuckorgie recht gut zu präsentieren wusste. Bei vielen Nebenrollen bleiben einem meist die Intriganten und Bösewichte besser in Erinnerung: etwa Martin Winkler als giftbrauender Einsiedler oder Andreas Conrad als Paisi – beides Sänger, die auch Nebenrollen einen starken Charakter verleihen können. Dass Hanna Schwarz, Nenila, eine lange Karriere hinter sich hat, war nicht zu überhören. Ein starker Partner auf der Bühne war der Arnold Schönberg Chor in Gesang und Spiel.

Das RSO Wien unter Mikhail Tatarnikov spielte kompakt und zielorientiert. Letztlich harmonierte das Spiel des Orchesters gut mit dem Gesang: etwas grell, zupackend, unsentimental, mit viel Engagement vorgetragen, wobei das Ausmalen feinerer Züge oft gefehlt hat.

Der Schlussjubel dauerte ziemlich genau zehn Minuten lang. Er war nicht übertrieben stark, aber ein großer Teil des Publikums blieb relativ lange applaudierend im Saal, woraus sich schließen lässt, dass die „Zauberin“ bei ihrer österreichischen Erstaufführung doch mit einiger Wärme vom Auditorium aufgenommen worden ist.

Fazit: „Charodeyka“ ist „untypisch“ für das gewohnte und gepflegte Tschaikowsky-Bild, aber womöglich gerade deshalb interessant.