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Wiener Staatsoper
31. März 2019
Premiere

Erstaufführung an der Wiener Staatsoper

Musikalische Leitung: Michael Boder
Regie, Bühne Licht: Marco Arturo Marelli
Kostüme: Falk Bauer

Orest - Thomas Johannes Mayer
Menelaos - Thomas Ebenstein
Apollon/Dyonisos - Daniel Johansson
Hermione - Audrey Luna
Helena - Laura Aikin
Elektra - Evelyn Herlitzius


sowie zugespielte Frauenstimmen, Schauspieler bzw. Artisten

Trojahn-Portal


Rettung durch Liebe?

(Dominik Troger)

Die alten Mordgeschichten sind nicht umzubringen: Agamemnon, Klytämnestra, Elektra, Orest und überhaupt der ganze trojanische Krieg – und dann noch die eitlen Götter, die mit den Menschen spielen wie mit Marionetten. Auch Manfred Trojahns 2011 in Amsterdam uraufgeführt Oper „Orest“ handelt davon.

Nachdem die Uraufführung einer neuen Oper von Krzyzstof Penderecky abgesagt werden musste, weil sich die Finalisierung verzögert hat, wurde von der Wiener Staatsoper der Premierentermin mit Manfred Trojahns „Orest“ wahrgenommen. Diese Wahl ist kein großes Risiko gewesen, die Uraufführung 2011 in Amsterdam war auf viel Wohlwollen gestoßen, und beim Sujet handelt es sich um eine Fortsetzung der Richard Strauss’schen „Elektra“. Trotzdem konnte man sich die Zeit bis zum Beginn der Premiere mit dem Zählen von leeren Sitzplätzen im Zuschauerraum vertreiben: 100+ Plätze auf der Galerie, Dutzende auf dem Balkon. Die ganze Problematik, zeitgenössische Oper in großen Häusern zielführend zu vermarkten, wurde wieder einmal deutlich. (Aber vielleicht waren die Plätze ohnehin verkauft worden und die Käufer haben dem schönen Frühlingswetter den Vorzug gegeben?)

Trojahn hat seinen „Orest“ in sechs Szenen strukturiert, die Spieldauer beträgt rund 80 Minuten. Es gibt keine Pause, dafür ein kurzes orchestrales Zwischenspiel, eine Art „Schlachtenmusik“. Orest steht im Mittelpunkt der Oper. Er hat sich mit dem Blute von Vater und Mutter besudelt, ihn jagen Schuldgefühle und Erinnyen. Die Bürger von Argos haben bereits sein Todesurteil beschlossen. Menelaos tritt auf, er kann Orest nicht vor dem Urteil schützen. Elektra fordert Orest zum Mord an Helena und deren Tochter Hermione auf. Orest tötet Helena, aber vor Hermione schreckt er zurück, weil sie ihn „offen“ anblickt. Apollo erscheint in der Gestalt des Dionysos und nimmt Helena zu sich. Orest wird von ihm zum Herrscher über die Stadt bestellt, aber dieser zeigt dem göttlichem Auftrag die kalte Schulter: „Ich werde der sein, den ich finden werde“, antwortet Orest und lässt den Machtanspruch des Gottes hinter sich: eine Marionette, die die Fäden abschneidet, an denen sie hängt. Auf der Ebene des Mythos kann es diese Freiheit natürlich nicht geben, das Scheitern ist ihr eingeprägt. Aber an diesem Punkt endet die Oper. Orest und Hermione ziehen von dannen, ob sie glücklich werden?

Trojahn macht aber auch „gefährliche Fragen“ zu seinem Anliegen – etwa die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Orests Mordtaten: Denn ist, wer auf der Seite des Rechtes steht, wirklich „unschuldig“, so wie es Elektra ihrem Bruder nahelegt? Diese Frage ist auch in Anbetracht aktueller politischer Diskussionen ein Minenfeld, das mit etwas konkreterer Darstellungsfreude zu behandeln, sicher reizvoll gewesen wäre. Aber solch eine „Positionierung“ versagte sich der Komponist. Denn in der dargebotenen Form zieht die Rückbesinnung auf den Mythos einen Vorhang vor die Geschichte, der die Brisanz des Gezeigten abtönt, und uns Zuseher in falscher „Sicherheit“ wiegt. Dieser Verdacht ist mir schon bei der österreichischen Erstaufführung des „Orest“ im Jahr 2014 durch die Neue Oper Wien aufgekeimt. Damals hat die konkrete Szene (eine Bahnhofshalle) aber einen Anker im Hier und Jetzt geworfen und dem Werk nach meiner Meinung mehr genützt, als geschadet.

An der Staatsoper verstärkt die Inszenierung von Marco Arturo Marelli hingegen die Abstraktheit der Handlung: eine leicht schräg ansteigenden Bühne, ein Raum mit Türen auf der linken Seite, die sich geisterbahnartig öffnen und schließen. Handelt es sich um ein Irrenhaus, um ein Gefängnis? Nein, Marelli sieht das noch abstrakter: Es handelt sich um einen „Zeittunnel“ wie er im Programmheft der Staatsoper zur Premiere erläutert. In diesem Zeittunnel prägt eine requisitenarme, stark auf die Mitwirkenden abgestellte Personenregie die Handlung. Im Intermezzo wird von schwarzen, silhouettenartig gezeichneten antiken Kriegern eine Schlacht dargestellt. Immerhin bringt die in ein goldenes Kleid gehüllte Helena als „Opfergabe“ ein Geschenkpackerl mit, aber viel mehr an ironischem Augenzwinkern und „Jetztbezug“ war da nicht. Für eine psychologische Figurenentwicklung ist in diesem 80-Minuten-Stück ohnehin wenig Platz. Schwindelt sich Trojahn am Schluss nicht ein bisschen aus der Geschichte hinaus wie sein Orest? Warum entscheidet sich Orest so, wie er sich entscheidet? Offenbar hat er sich in Hermione verknallt! Wenn man schon dem Willen eines „Deus ex machina“-Gottes nicht mehr Folge leistet, Amors Pfeile sind so treffsicher wie eh und je.

Nun gibt es weitaus „modernere Variationen“ über diesen antiken Stoff, aber Trojahn wollte offenbar die Punkte, die ihn interessieren „am Original“ abhandeln. Er hat sich das Libretto nach Euripides und Nietzsches Dionysos-Dithyramben zurecht geschneidert. Seine Sprache klingt etwas pathetisch und kann die Lektüre der Hoffmansthal’schen „Elektra“ auch nicht ganz verleugnen („jäten“ ist schon ein sehr auffälliges Verb, Elektra hat seinen Gebrauch offenbar von ihrer Mutter „geerbt“). Zu dem leicht eklektizistischen Einschlag von Trojahns Musik ist das Libretto aber die passende Ergänzung.

Doch mit dem Vorwurf des „Eklektizismus“ ist nicht zu spaßen, und Trojahn ist kein Philippe Boesmans, der daraus eine Art von „Stil“ entwickelt hat. Aber die Anleihen, die der Komponist an der Musikgeschichte nimmt, sind unverkennbar. Trojahns „Orest“ steht in einer Traditionslinie, die im Reichtum der holzbläsergefertigten Klangfarben bei Richard Strauss beginnt, im weichen Streicherkern Henze’sche Reminiszenzen nicht verleugnet und mit Wozzeck’schen Schattierungen und subtilen Tristan’schen Anspielungen abmischt. Wenn dann die Blechbläser noch ein bisschen archaisch nach „Scelsi“ brummen, hat man schon ein ansprechendes Portfolio beisammen, mit dem wirkungsvoll und durchaus in bühnendramatischem Sinne verfahren wird.

Das Resultat ist keine „bilderstürmende Moderne“, entwickelte unter der Stabführung von Michael Boder aber einen reizvollen instrumentellen Farbenreichtum, bot in dieser Interpretation aber vielleicht schon zu viel „Wohlklang“, um noch „wahr“ zu sein. Dabei packt Trojahns Musik kräftig zu und versucht dem Mythos manch brutale Nuance abzutrotzen, mit dem bereits erwähnten Intermezzo als Höhepunkt. „Inseln der Ruhe“ gibt es selten, sehr eindringlich gestaltete sich das Kontrabassraunen zu Helenas Tod, gerade an der Grenze zur Hörbarkeit angesiedelt. Die Stimmen der Frauen, die Orest wie Halluzinationen verfolgen, wurden durch Lautsprecher eingespielt, um den Raum so „auszufüllen“ wie den Kopf des Atridensprosses.

Den Sängern hat Trojahn einiges abverlangt, vor allem den Frauenstimmen. Hermione musste gar eine in „Sopranstratosphären“ reichenden Gesangslinie bewältigen. Orest ist am Beginn von seinen Schuldgefühlen zerfressen (in schäbiges Gewand gekleidet wie später auch Elektra, hebt er sich in dieser Inszenierung deutlich vom „Establishment“ ab). Er monologisiert wie im Wahnsinn – und diesen „Wahnsinn“ wird er erst am Schluss los. Deshalb erfordert die Partie viel Kraft und Durchhaltevermögen, Thomas Johannes Mayer war damit ausreichend gesegnet. Er und vor allem die Elektra der Evelyn Herlitzius waren der emotionale „Dynamo“, der die Handlung vorantrieb, und gut gespielt war es außerdem. Herlitzius benutzte ihr Organ wie gewohnt recht schonungslos auf volle emotionale Durchdringung berechnet. Laura Aikin gab eine etwas lotterlebige Helena, die am Schluss auf einem Sessel in den Schnürboden entschwebt, ihre ernsthafte Tochter sang Audrey Luna – die nach dem Ariel in „The Tempest“ auch hier ihre extreme Sopranhöhe gewinnbringend einsetzen konnte. Thomas Ebenstein gestaltete mit seinem Charaktertenor den opportunistischen Menelaos, Daniel Johansson steuerte mit etwas trockenem Mozarttenor den Apollo bei.

Am Schluss gab es rund zehn Minuten langen, einhelligen Beifall.

Link zum Bericht der erwähnten Aufführung im Jahr 2014 -> Österreich. Erstaufführung