OREST
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Museumsquartier
30. Oktober 2014

Österr. Erstaufführung am 28. Oktober 2014

Musikalische Leitung: Walter Kobéra
Inszenierung: Philipp M. Krenn
Ausstattung: Nikolaus Webern

Lichtdesign: Norbert Chmel
Choreinstudierung: Michael Grohotolsky

Orchester: Amadeus Ensemble Wien
Wiener Kammerchor

Orest - Klemens Sander
Menelaos - Dan Chamandy
Apollon/Dyonisos - Gernot Heinrich
Hermione - Avelyn Francis
Helena - Jennifer Davison
Elektra - Jolene McCleland

Trojahn-Portal


Es fährt kein Zug nach nirgendwo

(Dominik Troger)

Ein heruntergekommener Bahnhof, ein psychotischer junger Mann, den innere Stimmen quälen - wie ein Seiltänzer balanciert er die Bahnsteigkante entlang. Aber keine Angst, der Zug wird ihn nicht erfassen, er könnte nur in den Orchestergraben fallen.

Dieses Bühnensetting hat sich das Produktionsteam um Philipp M. Krenn (Inszenierung) für Manfred Trojahns 2011 in Amsterdam uraufgeführte Oper „Orest“ ausgedacht, die derzeit als österreichische Erstaufführung im Wiener Museumsquartier zu sehen ist: Der Muttermörder als großstädtisches Strandgut, ein verwahrloster Schizophrener, den seine psychotischen Schübe durch die Bahnhofshalle treiben, der Helena durch das streifenweise Abziehen von Plakaten aus einer Litfasssäule schält und der einen puppenspielenden Straßenkünstler als Göttererscheinung wahrnimmt (Dyonisos und Apollon). Vielleicht hat dieser junger Mann einmal einen Joint zu viel geraucht oder ihm hat der Besuch einer Aufführung der Richard Strauss’schen „Elektra“ das Gemüt zerrüttet? In den zu sechs Frauenstimmen zerfaserten und von sechs Violinen begleiteten „Orest“-Schreien, mit denen die Oper beginnt und die immer wieder durch den Kopf dieses bedauernswerten Menschen irrlichtern, hallt noch etwas nach von dieser Strauss’schen Opernekstase, die den überspannten Text Hofmannsthals aufpulvert. Aber seither sind auch schon wieder über hundert Jahre vergangen.

Diese alten Geschichten vom trojanischen Krieg, von Agamemnon, Klytämnestra und Iphigenie, von Elektra und von dem muttererschlagenden, erinnyengeplagten Orest zählen zu den kulturgeschichtlich wirkungsmächtigsten Mythen des Abendlandes – und augenscheinlich sind gerade Opernkomponisten dafür sehr anfällig. In Orests Schicksal kulminiert die Frage nach Schuld und Sühne, nach Vorbestimmung und Selbstbestimmung, nach sippengehafterer Blutrache oder staatsgewaltlicher Gerechtigkeit – Punkte, die Manfred Trojahn offenbar angeregt haben, den Mythos erneut zu befragen – und sich nach Euripides und Nietzsches Dionysos-Dithyramben das Libretto gleich selbst zu schneidern. Diese „Rechtsfrage“ wird direkt im Libretto angesprochen. Walter Kobera, der Intendant der Neuen Oper Wien, hat in seinem Einführungsvortrag explizit darauf hingewiesen. Elektra begegnet dem schuldverstrickten Orest mit den Worten: „Von welcher Schuld sprichst du, Bruder? Der auf der Seite des Rechtes steht, kann kein Schuldiger sein!“ Aber ob sich darauf eine Oper komponieren lässt?

Einerseits beweist Manfred Trojahn, dass das mit dem Komponieren prächtig funktioniert, andererseits scheint das Libretto zu beweisen, dass diese leicht pathetisch eingefärbte „Hochsprache“ in einer naturalistisch versifften Bahnhofshalle schon etwas anachronistisch anmutet. (So weit es überhaupt möglich war, das Libretto anhand der Aufführung zu erfassen. Es wurden leider keine Untertitel angezeigt und das Programmheft war librettolos.) Womöglich geht diese Diskrepanz in der Wahrnehmung zu einem großen Teil auf die Szene, die aber grundsätzlich einen spannenden Ansatz verfolgte, und den Mythos optisch ins „Hier“ und „Heute“ verfrachtet hat. Diese „No Future“-Bahnhofshalle mit entsprechend destruktiver Graffiti besprüht, bot eine adäquate Metapher für den Zustand von Orests psychischer Zerrüttung und schutzloser „In-die-Welt-Geworfenheit“.

Trojahn hat seinen „Orest“ in sechs Szenen strukturiert, die Spieldauer wird im Programmheft mit 80 Minuten angegeben. Es gibt keine Pause. Orest quält die Erinnerung an seinen Muttermord. Die Bürger von Argos haben bereits sein Todesurteil beschlossen. Menelaos tritt auf, er kann Orest nicht vor dem Urteil schützen. Elektra fordert Orest zum Mord an Helena und deren Tochter Hermione auf. Orest tötet Helena, aber vor Hermione schreckt er zurück, weil sie ihn offen anblickt. Apollon erscheint und nimmt Helena zu sich, Orest wird entsühnt und zum Herrscher über Mykene bestellt. Orest sagt sich aber von allem los und geht einer selbstbestimmten, ungewissen Zukunft entgegen, möglicherweise von Hermione unterstützt – so der verknappte Inhalt. Nachdem sich das Geschehen offenbar in (!) Orests Kopf abspielt, wird einen der „Deus ex machina“-Auftritt von Apollon im Finale nicht irritieren.

Schon der Operntitel lässt vermuten, dass Trojahn mit dem Gedanken gespielt haben könnte, seinen „Orest“ der Strauss’schen „Elektra“ „nachfolgen“ zu lassen – eine Idee, die vielleicht auch für die Vermarktung dieses neuen Opus günstig sein könnte. Ein Dyptichon aus „Elektra“ und „Orest“ würde inklusive einer Pause von bequemer Länge knapp vier Stunden Spielzeit beanspruchen und eine reizvolle Gegenüberstellung ermöglichen. Vom Orchester könnte gleich ein Teil von Strauss zu Trojahn übersiedelt werden, weil sich der Komponist bei der Wahl der Instrumente auch von der Strauss’schen Instrumentierung hat inspirieren lassen. Nicht nur die reichhaltige Bläserbesetzung (u.a. Englischhorn und Heckelphon) kündet zum Beispiel davon, auch die Streicher sind üppig besetzt. Dazu kommen noch eine aufmunitionierte Schlagwerkbatterie, die einmal gewaltig loslegen darf, und zwei Harfen.

Trojahns „Orest“ steht in einer Traditionslinie, die im Reichtum der holzbläsergefertigten Klangfarben bei Richard Strauss beginnt, im weichen Streicherkern Henze’sche Reminiszenzen nicht verleugnet und mit Wozzeck’schen Schattierungen, wenn Orest daran geht, wieder zu morden, und subtilen Tristan’schen Anspielungen da und dort abmischt. Dergleichen ist eigentlich auf die Klangentfaltung in einem größeren Raum berechnet und zielt auf eine bessere Akustik, als sie die Halle E im Museumsquartier mit vollgestopftem Orchestergraben bereitzustellen vermag. Aber hier stößt die zeitgenössische Oper einmal mehr an diese unsichtbare Wand von Ressourcengrenzen und Inakzeptanz, die es schwer macht, sie im etablierten Kulturbetrieb ökonomisch einigermaßen sinnvoll zu platzieren. Deshalb ist das interessierte Publikum solch „freigeistigen“ Institutionen wie der Neuen Oper Wien umso dankbarer, die immer wieder erneut diese Aufgabe übernehmen und sich der Herausforderung und dem Aufwand stellen, zeitgenössische Opern aufzuführen.

Die Singstimmen hat Trojahn im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Komponisten einigermaßen moderat behandelt. Die Frauenstimmen vereinigen sich einmal sogar zu einem fast „klassisch“ anmutenden Terzett, der leichte, in der Höhe im Laufe des Abends ausgereizte Koloratursopran der Tochter mischt sich mit dem schon etwas gesetzteren Sopran der mütterlichen Helena, dazu gesellt sich der aufmüpfige, leidgetriebene Mezzo von Elektra. Orest ist „naturgemäß“ ein Bariton, Menelaos ein etwas überspannt-heroisierender „Strauss“-Tenor, und Apollon/Dyonisos schwebt tenoral-lyrisch darüber.

Der Komponist hat in einem Interview im Programmheft zu Orest sinngemäß angemerkt, dieser habe kein Rückgrat – und es war spannend zu hören, wie diesem Orest, den der Opernliebhaber aus der „Elektra“ als harten Burschen kennt, musikalisch das Rückgrat „gezogen“ wird, wie Orest immer Gefahr läuft, sich gegenüber Elektra oder Menelaos zu „verbiegen“. Es spricht für Trojahn, dass er die Figuren klar konturiert und doch mit vielen Details gezeichnet hat, und dass sich diese Feinmechanik recht gut in ein dramaturgisch fest gebautes Tableaux einfügt.

Zur Inszenierung wurden schon einige Anmerkungen gemacht, hervorzuheben ist besonders die Zeichnung des Orest, und die Zielsetzung der Personenregie, die Hochschaubahn der Gefühle auch im Bewegungsablauf der Figuren auszudrücken, die Protagonisten in körperliche „Schwebezustände“ zu drängen – sei es wie erwähnt der an der Bahnsteigkante balancierende Orest oder der auf einem schwankenden Kofferberg sitzende Menelaos oder Hermione, die mit vorsichtiger Baletttänzerinnengrazie über und auf verstreute Koffer zu steigen hat. Der Koffer ist bekanntlich ein ganz heiß geliebtes Requisit des sogenannten „deutschen Regietheaters“, aber in einer Bahnhofshalle können schon ein paar davon herumliegen. Warum sich aber die vom Wiener Kammerchor beigestellten Passanten vor Hermiones „Koffergang“ expressiv schütteln und kratzen musste, so als würden sie von einer Legion Flöhe gepeinigt, hat sich mir nicht erschlossen.

Die Besetzung war ausgewogen und vom Typ gut gewählt. Klemens Sander schlüpfte in den psychotischen Charakter der Titelpartie wie in eine zweite Haut, bot mit seiner etwas weich timbrierte Stimme ein Rollenporträt aus einem Guss. Gegenüber dieser starken Akzentsetzung hatte es die Elektra von Jolene McCleland etwas schwerer, ihre Positionierung im Bahnhofsumfeld als mitfühlende und anstachelnde Begleiterin zu behaupten. Diese Figur hätte seitens der Regie durchaus schärfere Konturen vertragen, um den expressiven gesanglichen Einsatz der Sängerin optisch noch besser zu unterstützen. Jennifer Davidson verlieh mit ihrem warm timbrierten Sopran der Helena das Charisma einer Frau, die ihre weibliche Reife und Verführungsgabe selbstverliebt zur Schau stellt – und ihre Tochter, gespielt und gesungen von Avelyn Francis, steuerte einen noch recht jugendlich wirkenden, frischen Sopran bei, bei dem der stimmliche Balanceakt mit dem „Über-die-Koffer-Steigen“ korrelierte (während ihr Orest in Mordabsicht „nachsteigt“). Dan Chamandy brachte den schon etwas heruntergekommenen „Macher“ Menelaos gut heraus, mehr Manager als König, mit schon etwas heldisch-grellem Tenormaterial ausgestattet, während sich Gernot Heinrich als Apollon/Dionysos passend in die höheren Regionen göttlichen Seins verfügte. Das amadeus ensemble und Walter Kobera spielte sehr konzentriert und erweckte die reichhaltige Partitur zu eben solchem musikalischen Leben.

Das zu rund zwei Drittel gefüllte Auditorium spendete länger anhaltenden Applaus, es gab einige Bravorufe. Weil es sich um die zweite Aufführung handelte und dementsprechend keine „Premierenklatscher“ dabei waren, darf also besten Gewissens von einem Erfolg berichtet werden, wenn auch von keinem „stürmischen“.

Fazit: Wer sich für zeitgenössische Oper interessiert, sollte diesen „Orest“ vor allem wegen der gelungenen Komposition nicht versäumen – und die zeitlose Story macht nichts falsch. Weitere Aufführungen folgen noch am 1., 3. und 4. November 2014.