THE RAKE'S PROGRESS
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Theater an der Wien
13.11.2008
Premiere

Musikalische Leitung: Nikolaus Harnoncourt

Inszenierung: Martin Kusej
Bühne: Annette Murschetz
Kostüme: Su Sigmund
Videodesign: Peer Engelbracht

Wiener Symphoniker
Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)

Neuproduktion des Theater an der Wien
Koproduktion mit dem Opernhaus Zürich

Trulove - Manfred Hemm
Anne - Adriana Kucerová
Tom Rakewell - Toby Spence
Nick Shadow - Alastair Miles
Mother Goose - Carole Wilson
Baba the Turk - Anne Sofie von Otter
Sellem - Gerhard Siegel


Wiener Wüstling?
(Dominik Troger)

Der Wüstling wütete im Theater an der Wien schaumgebremst. Die nihilistische Doppelbödigkeit der Strawinsky-Auden’schen Gesellschaftskritik wurde zum zeitkritischen Societymelodram umfunktioniert: das allerdings konsequent und mit einem starken Finale.

Auffallend war schon, was aus dem Orchestergraben klang: Strawinsky neu sozusagen, zelebriert und strukturverfeinert. Es war kein Neoklassiszismus, der als gebrochene und umgemodelte Klassik, als pointierter Widerhall auf die originalerweise im 18. Jahrhundert angesiedelte Bühnehandlung quasi wie ein postmodernes Referenzsystem reagiert. Nikolaus Harnoncourt hat Strawinsky (!) dekonstruiert und neu zusammengebaut, die bissig-flotte Satire mit langsamen Tempi im Sinne einer Opera seria stilisiert und ihr beinahe einen romantischen Überbau verpasst. Die sehr konzentriert agierenden Wiener Symphoniker spendeten dafür einen klaren, mehr trockenen Klang.

Die musikalische Interpretation ging dadurch mit Martin Kusejs Regieansatz weitgehend konform: Tom Rakewell wird vom Wüstling zum beklagenswerten Helden, zuerst aufgesogen, dann ausgespuckt von einer umbarmherzigen Gesellschaft. Der Wüstling ist das Opfer und die schwarzabsurde Komödie des Nonkonformismus wird in ideologiekonforme Sozialkritik überführt. Entpuppt sich Rakewell im Wahnsinn nicht als der moralisch Gute, der jetzt in einer psychosozialen Wohngemeinschaft unschuldig von Adonis und Venus träumt?

Über lange Strecken griff dieses Konzept nur punktuell. Die diabolischen Gewürze der Pizza, durch deren Schachtel Nick Shadow aus der Unterwelt in ein unmöbliertes Zimmer klettert, (Tom und Annes Liebesnest), hielten nicht lange vor. Die spießige Schläfigkreit der Bordellszene, die im Vorfeld der Aufführung sogar eine Anwendung des Wiener Jugendschutzgesetzes ausgelöst hatte (kein Vorstellungsbesuch unter 18 Jahren!!??), zählte zum Tiefpunkt des Abends, wenig Dynamik auch im Bungalow mit türkiswässrigem Swimmingpool, wenn sich Tom einen ankokst und dann baden geht. Erst mit dem Auftritt der Türken-Baba kam Bewegung in die Aufführung. Tom wird sie im Gegensatz zum Libretto erwürgen und ihr auf diese Weise eine wenig schlüssige Auferstehung ein paar Szenen später verschaffen. (Im originalen Text zieht er ihr eine Perücke über den Kopf – und Baba verharrt dann in schweigendem Surrealismus, bis ihr in der Auktionärsszene die Perücke wieder vom Kopf fliegt.)

Doch gut Ding braucht Weile. Nach der Pause wurde es zunehmend packender, spätestens beim Kartenspiel zwischen Tom und Teufel zeigte dann auch die Bühne mit feurigrauchendem Schlund in der Mitte, was ein bisschen Pyrotechnik an Spannung bewirkt. Toms Ende geriet zum beklemmenden Abschiednehmen eines möglicherweise geläuterten, aber durch Teufels List leider verblödeten Helden. Diese beiden Szenen rundeten den Abend, spät aber doch – und das konsequente Festhalten am anfechtbaren Konzept trug zuletzt noch reiche Früchte. Das Schlussensemble wurde zum Moralisieren in den Orchestergraben geschickt, während es auf der Bühne im Breitschirm-TV eine Talkshow bevölkerte: das war der Konsequenz dann schon fast zu viel.

Kusej hat die Handlung ins Wien des Jahres 2008 verlegt – mehr ein Postulat, als szenisch nachvollziehbare Realität. Immerhin flimmerten über den Fernseher, der beständig auf der Bühne zugegen war, wienadaptierte Society-News eines bekannten Privat-TV-Senders. Erst die tonlose Übertragung des Villacher Faschings in die fürsorgliche Wohngemeinschaft, das „Lei Lei“ und das „Rakewell’sche Adonisröschen“, ergaben eine subtile Mischung melancholischer Bitternis, die in Anbetracht jüngster Ereignisse einen starken österreichischen Einschlag zeigte. Für Aufführungen an anderen Orten – die Produktion soll weiter nach Zürich gehen – sind hier wohl Anpassungen nötig. Erwähnenswert ist noch, dass Kusej den Gegensatz von Stadt und Land, ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Librettos, nicht thematisierte. Die erste Szene spielte in keinem Garten, das naturmystische Schwelgen von Anne und Tom wirkte in einer leerkargen Neubauwohnung deplaziert.

Toby Spence sang einen zurückhaltenden, zu Gewissensbissen neigenden Tom Rakewell, der am Schluss darstellerisch zu großer Form auflief. Sein heller, aber doch mit individueller Farbe leicht nuancierte Tenor, verlor auch in der Emphase nicht seine lyrische Note und umgab die Bühnengestalt mit einer sanften Traurigkeit. Adriana Kucerová gab die Anne Trulove mit innigem Sopran, gemütsvoll und naiv. Am Schluss schien sie sich regiebedingt Toby mehr aus Gründen der sozialen Fürsorge zu nähern und sie wirkte distanziert – kein Irrenwärter führte sie, sondern Nick Shadow persönlich.

Dieser Nick Shadow, ich erwähnte es schon, kehrte regiebedingt den Teufel kaum heraus. Alastair Miles wirkte auch im Gesang ein wenig trocken. Anne Sofie von Otter sang die transvestitisch angehauchte, in Summe mir aber zu konventionell umgesetzte Baba. Ihr belebender Einfluss war trotzdem sehr wichtig für die Aufführung. Truloves Vater, Manfred Hemm, erfüllte die Anforderungen. Mother Goose, Carole Wilson, zeigte sogar unverhüllte Oberweite. Sellem, Gerhard Siegel, war ein massenaufpeitschender Sellem. Der Arnold Schönberg Chor, der sich nicht ausziehen musste, sondern die Nacktheit des Bordells Statisten überlassen durfte, war überzeugend wie immer.

Der Schlussapplaus währte knapp über zehn Minuten, Buhrufe gab es keine (oder sie gingen im Jubel unter).