THE RAKE'S PROGRESS
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Wiener Volksoper
20.1.2002

Musikalische Leitung: Thomas Hengelbrock

Inszenierung: Dmitry Bertman
Bühnenbild: Hartmut Schörghofer
Kostüme: Ulrike Schörghofer

Trulove - Bruce Brown
Anne - Edith Lienbacher
Tom Rakewell - Steve Davislim
Nick Shadow - Morten Frank Larsen
Mother Goose - Foula Dimitriadis
Baba the Turk - Mariselle Martinez
Sellem - Ernst-Dieter Suttheimer


"Des Wüstling's Fortschritt oder so ähnlich..."
(Dominik Troger)

[1] Ist das eine schwarze Komödie, ein zynisches "Don Giovanni"-Remake oder wirklich ein von Strawinsky und seinem Librettisten, W.H. Auden, erhobener Zeigenfinger, der mahnend den Zuschauern ins Gesicht droht? Ist "The Rake's Progress" eine moralische Oper? Das Programmheft führt dafür ein paar gute Gründe an: "Laufbahn eines Wüstlings zeigt, daß es im Leben eines Menschen kein Zurück gibt, daß man die Uhren nicht rückwärts stellen kann. Es ist ein Lüge, wenn Shadow sagt: Die Zeit ist dir untertan. Die Stunden dienen deinem Vergnügen. Du hast später Zeit zur Reue. Eine Lüge, mit der er immer wieder seine Opfer fängt, die dann früher oder später feststellen werden, daß sie in dem Ganzen (Spiel) nur eine gesetzte Nummer sind, austauschbar (...)" (Birgit Meyer: Gedanken zum Stück. S. 39f)

[2] Das heißt, es spricht nichts dagegen, dass Strawinsky und Auden es sich so ausgedacht haben könnten. Geht das Ganze doch auf einen "intentiösen" Gemäldezyklus des englischen Malers William Hogarth zurück, geschaffen irgendwann in den 1730er Jahren. Strawinsky war dieses Sujet bei einem Ausstellungsbesuch aufgefallen. Verbunden mit dem Abschluss seiner klassizistischen Phase, in der sich jede seiner Noten durch Rückbesinnung auf Mozart plus Vor- und Nachgänger anachronistisch bricht, ergibt das eine zwar schwungvolle, aber nichts desto trotz etwas verstaubte Opernmusik - eine altertümliche Bibliothek, eine Barockperücke, aufgeputzt und ins Spiegelkabinett gestellt zwecks entfremdender Verzerrung. Man registriert die Reize dieser Partitur, ein Kohlesäureperlen am Gaumen mit einem etwas "trockenen Abgang". Und man würde das Moralische schwer ertragen, wenn das Werk, kunstvoll mit dem bösen, schwarzen Humor eines W.H. Auden vermischt, einen nicht die Wahl ließe, die Moral mit einem herben Schluck Zynismus einzutauschen. Ja, der Vergleich mit Don Giovanni (von Strawinsky in der "Höllenfahrt" des bösen "Schatten" Shadow auch in der Orchestrierung deutlich gemacht) ist so schlecht nicht, und man nehmen noch ein wenig Cosi fan tutte und die bösartigeren Seiten des Figaro und schon ist man sich gewiss: Mozart & da Ponte hätten es anno 1951 auch nicht anders machen können...?!

[3] Eines scheint aber sicher, Strawinsky und Auden haben mit dieser seltsamen Mischung aus Non- und Konformismus, für kreative Regisseure eine ideale Vorlage geschaffen. Ja, ohne die Kreativität eines modernen Regietheaters hätte dieses Werk wahrscheinlich längst die Opernbühnen verlassen und "das Zeitliche gesegnet". So aber ist es die Regie, die es am Leben erhalten muss - und an der Volksoper, womit wir endlich beim Thema wären - geschieht das auch mit aller Vehemenz, so dass "The Rake's Progress" ein kräftiges Lebenszeichen geben darf. Diese Volksopern-Produktion hatte im Oktober 2000 Premiere, und erlebt erst jetzt die zweite Aufführungsserie. Für die Inszenierung hatte man sich den Russen Dmitry Bertman geholt, ein "Regie-Wunderkind", langjähriger Opernbühnenbetreiber, etwas über 30 Jahre alt. Und Bertman trifft den Ton, schält das Absurde am "progressiven Schicksal" Tom Rakewell's ebenso heraus, wie die Sentimentalitäten von Anne, Tom's Geliebter, die ihn auch nicht vor dem Untergang bewahren kann. Das Ergebnis ist spannendes, fast surreales Theater, das nie den Boden unter den Füßen verliert, eingebettet in die pointiert-schrägen Bühnebilder von Hartmut Schörghofer. Und Ulrike Schörghofers Kostüme sind da noch das ins Auge springende Tüpfchen auf dem sprichwörtlichen "i".

[4] Die Schrebergartenidylle von Tom und Anne, überwacht vom gestrengen Herrn Papa, der Tom einen guten Job verschaffen möchte, wird vom Auftritt Nick Shadow's jäh unterbrochen. Tom's Wunsch nach Geld geht - sofort (!) - in Erfüllung. Und diese Erbschaft, von der Shadow kündet, wird alles Glück zerstören. Die Plastikgartenzwerge, in einer langen Bühnereihe aufgestellt, verziehen dazu keine Miene. Und wer ahnt schon jetzt, dass sie am Schluss, als Insassen einer Irrenanstalt, die Tom's letzte Heimstätte sein wird, munter die Bühne bevölkern werden. Allein dieses Beispiel mag die Bandbreite aufzeigen, die Bertman hier um das Werk spannt, in die er es einklammert, zusammenfasst, ironisch und abgründig zugleich. Bertman sucht nicht den Effekt an sich, und das ist das Wohltuende daran. Die pragmatische Theaterhand verbindet sich mit einem kreativen Ideenbündel, dem nicht Mal Strawinskys Klassizismus mehr etwas anhaben kann.

[5] Die Bordellszene, 1. Akt, 2. Bild, verbreitet einen harmlosen Charme (aber vielleicht ist das auch ganz gut so). Die Erotik der fleischfarbenen Trikots geht kaum unter die Haut. Das Bild schwelgt in einer plüschlilarosaorange70erjahretrendigen Grundstimmung und schließt mit einer zart angedeuteten Massenorgie in der mittigen runden Bühnenvertiefung. Das wird Tom's Unschuld doch nicht wirklich ernsthaft in Versuchung geführt haben?

[6] Noch lange in Erinnerung bleiben wird einem der Beginn des zweiten Aktes. Tom in drei oder vier Meter Höhe am Dachfirst eines perspektivisch stark verzerrten Hauses, windschief in den linken Bühnevordergrund gebaut. Dann langsam wird die Aussicht klarer, Straßenlaternen im Hintergrund, ein abendroter Himmel über die Bühne ausgespannt, rechts ein paar Häuser von London mit leuchtenden Fenstersternen. Tom besingt dieses London, die Lasterstätte, unten marschieren die Leute vorüber, schwarze Regenschirme. In der Mitte der Bühne, ein großes Kanalgitter, davon ausgehend, diese Riesenspirale, die alles einsaugen wird, sich weiter hinten aufwerfend zu einer grauschwarzen Wand. Steve Davislim, alias Tom Rakewell, ist schwindelfrei. Er kann das eine Bein lässig über die Kante schmeißen, da unten droht schließlich nur Nick Shadow (Morten Frank Larsen) zynisch böse mit dem Vorschlag, Baba the Turk, die bärtige Türkin, die weltbekannte Zirkusattraktion, zu heiraten. Shadow lockt: "Freiheit ist der Weg zum Glück..."

[7] Eine Maschine, die aus Steinen Brot macht? Da wartet man natürlich als Zuseher darauf wie auf den Drachen in "Siegfried", da erfindet man sich im Kopf schon irgendein Monster, eine absurde Apparatur, ein bühnentechnisches Lehnstück aus Hoffmann's Erzählungen. Aber was ist es hier? Ein ultraflacher Notebook, der eine Brot-Grafik über sein Display huschen lässt. Man kann darüber streiten, ob das eine gute Idee ist. Möglicherweise steigt hier der Gehalt an "Intellektyl" manchen schon über die Schmerzgrenze. Mir hat es ein Schmunzeln abgerungen, aber nicht jeder hat so ein Naheverhältnis zu diesen modernen Dingern. Immerhin kann Tom sich dann ja auch nicht davon trennen. Und in der Friedhofszene wird er diese Maschine alias Notebook noch von sich schleudern, über den Kopf Shadows hinweg, richtig dramatisch, ehe mit Feuerfunken und Gekrach selbiger in die Versekung fährt.

[8] Das Schlussbild ist vielleicht das gelungenste. Tom in seiner Zelle, die aus dem Schlund gewachsen ist, der Tom's Haus zwei Bilder vorher verschlungen hat. Ein Metallkäfig, rundherum die menschlichen Gartenzwerge, die darauf herumklettern, seifenblasen, zuschauen, singen. Tom selbst, von Anne noch einmal oder nur geträumt umkost, im Wahnsinn. Dann haben nicht nur Strawinsky und Auden, sondern auch Bertman diese Geschichte zu Ende erzählt - stimmig und rund.

[9] Ohne Zweifel ist das ein Erfolg für das gesamte Volksopernteam, vom Orchester bis zu den einzelne Choristen, die sich mal als Bordellbesucher, mal als seltsam und sehr kreativ bemützte Auktionäre, mal als irre Gartenzwerge mit viel Wandlungsfähigkeit und Hingabe dieser Aufführung verschrieben haben. Thomas Hengelbrock hat das Volksopernorchester sehr gut eingestellt. Steve Davislim hat sich wegen einer Magen/-Darm-Infektion "ansagen lassen", erinnerte sich aber während der Aufführung (zumindest nicht hörbar) daran. Morten Frank Larsen passte vom Stimmcharakter sehr gut in die Rolle des "bösen Schatten". Edith Lienbacher fand als Anne nicht nur einen Weg durch so manche barockige Strawinsky-Allüre, sondern auch berührende Töne. Als Baba the Turk(in) gab Mariselle Martinez mit rotem (geklebtem) Bart ein selbstbewusstes Mannweib.

[10] Rundum ziemlich gelungen also. Schrägsurrealer Intellektualismus mit viel Unterhaltungswert. Dass Publikum weiß das allerdings noch nicht, oder erinnert sich nicht mehr daran. Der zweite Rang war vielleicht zu einem Viertel gefüllt. Viele leere Plätze da und dort. Ein Minderheitenprogramm.