LAZARUS

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Theater an der Wien
11.12.2013
Premiere

Dirigent: Michael Boder

Inszenierung: Claus Guth
Ausstattung: Christian Schmidt
Licht: Bernd Purkrabek

Wiener Symphoniker
Arnold Schoenberg Chor

Lazarus - Kurt Streit
Martha - Stephanie Houtzeel
Maria - Anette Dasch
Nathanael - Ladislav Elgr
Jemina - Cigdem Soyarslan
Simon - Florian Bösch
Tänzer - Paul Lorenger
Tenor-Solo "Nachthelle" - Jan Petryka


Keine Totenerweckung

(Dominik Troger)

Im Theater an der Wien wird derzeit versucht, das fragmentarisch überlieferte Oratorium „Lazarus“ von Franz Schubert für die Opernbühne zu entdecken. Claus Guth staffierte die Szene wieder mit sinnkriselnden Mittelständlern aus, die zwischen Tablettensucht und gepflegter Depression der Erlösung harren. So weckt man keine Toten zum Leben auf.

Warum eigentlich Schubert? Folgt man einem Interview mit dem Produktionsteam im Programmheft, dann hat der Direktor des Hauses persönlich Claus Guth das Oratorium „Lazarus“ zur szenischen Aufbereitung anempfohlen. Nun hat sich Guth bekanntlich schon in Zürich an „Fierrabras“ verdingt, ohne dem Werk einen Weg ins Repertoire eröffnet zu haben. Aber ist der anhaltende Wunsch, Schubert auf die Opernbühne zu bringen, nicht ohnehin Ressourcenverschwendung? Noch dazu ist dieser 1820 komponierte „Lazarus“ alles andere als ein bühnendramatisch orientiertes Werk: Er schildert über weite Strecken verzweiflungsbigotte Seelenbilder und verströmt eine erlösungssüchtige Erbauungsmusik, die sich eingezwängt zwischen Beethoven und Wagner wie ein juveniles „Pflänzchen“ an einer schattigen Hausmauer entlangkrümmt. (Ja, es gibt Stellen, die den „Tannhäuser“ erahnen lassen, Wolframs Lied an den Abendstern, Romerzählung, wie pränatale Gliedmaßen, die sich erst auswachsen müssen. Das ist nicht ohne Reiz, aber in Summe viel zu wenig, um eine szenische Aufführung zu rechtfertigen.)

Vielleicht hätte es genützt, wäre dieses „Pflänzchen“ mit dem „robusten Dünger" eines Originalklangorchesters versehen und in ein szenisch phantasievolleres Behältnis „umgetopft“ worden, um es ein bisschen „großzuziehen". Aber die Wiener Symphoniker unter Michael Boder kosteten diese Schubert’sche Bekümmernis noch weidlich mit getragen zelebriertem Schönklang aus, und die Guth’sche Szene verdoppelte gleichsam die depressiv gestimmte Sinnsuche. Das Resultat war nach meiner Meinung ein spannungsarmer, einschläfernder Abend – der sich außerdem den Vergleich mit der ansprechenderen Guth’schen „Messiah-Veroperung“ gefallen lassen musste, die vor einigen Jahren ebenfalls im Theater an der Wien Premiere hatte.

Guth hat sich seither szenisch nicht weiterentwickelt: Es sind immer dieselben Bilder, mit denen er zu Werke geht, Figurenverdopplungen, Pantomimen, der Griff zu Zigarette und Tablettenschachtel, bedeutungsvoll-erhabene Alltagsgesten, geschwenkte Aktenköfferchen, verstreute Rosenblüten et cetera. Die Austauschbarkeit des Guth’schen Figurenrepertoires ist enorm: Sein Lazarus könnte genauso gut der „Tannhäuser“-Inszenierung an der Staatsoper entsprungen sein oder als Orfeo und Ulisse seine Monteverdi-Produktionen im Theater an der Wien belebt haben. Die Figuren verhalten sich immer ähnlich, sie sind immer ähnlich gekleidet: Sie repräsentieren gewissermaßen den Regisseur, der selbst auf seiner Suche nach Lebenssinn und -glück die Opernhäuser der Welt durchstreift. Zugegeben, der Schlussjubel lässt darauf schließen, dass sich ein Teil des Publikums in dieser Sinnsuche wiederfindet und sie nachvollziehen kann.

Aber auch der Gedanke, das Geschehen im Transitraum eines Flughafens anzusiedeln, wird nicht unbedingt als „originell“ bezeichnet werden können: Lazarus schwenkt ein Röntgenbild, er bricht zwischen den An- und Abreisenden zusammen, Stewardessen eilen durch die Szene, es gibt viele Koffer zu bewundern, einen Schubertlied singenden Putzmann, der vielleicht in einer Castingshow Furore machen würde. Es wird viel und geheimnisvoll mit Flugtickets agiert, die möglicherweise einen Direktflug in den „Himmel“ und in die „Erlösung“ garantieren. Und der Weg führt über diese große bühnenbeherrschende Treppe: dem „Gate nach Nirgendwo“. Und so ist am Schluss nicht einmal klar, welche Geschichte hier überhaupt erzählt worden ist.

Der Abend wurde nach der Pause durch Kompositionen von Charles Ives („The Unanswered Question“ und The Saints Gaudens in Boston Common“) und weiteren Schubert Werken auf insgesamt zweieinhalb Stunden gestreckt. Schubert durfte derart noch seinen finalen „Sanctus“ (Messe Es-Dur D950) geben. Denn sein auf drei Teile konzipierter „Lazarus“ bricht bald nach dem Beginn des zweiten Teiles einfach ab, verharrt seither in seliger Totenstarre. Kein Jesus kam vorbei, um ein Wunder zu wirken. (Wobei offenbar nicht geklärt ist, ob Schubert die Komposition liegen ließ oder ob das überlieferte Manuskript unvollständig ist.)

Musikalisch blieb der Abend zwar hinter den Erwartungen zurück, aber der Arnold Schönberg Chor bewies, dass er sich auch „Franz Schubert Chor“ nennen dürfte: Damen und Herren präsentieren nach der Pause a capella bei „Dreifach ist der Schritt der Zeit“ und „Grab und Mond“ in bester Form. Florian Bösch hinterließ von den Solisten gesanglich den nachhaltigsten Eindruck, weil er den Schubert‘schen Tonfall am besten traf. Kurt Streit wirkte als Lazarus stimmlich angestrengt und klanglich karg, die Damen Stephanie Houtzeel (Martha) und Annette Dasch (Maria) waren mir für die Schubert’sche Leidensexegese stimmlich zu „reif“ besetzt, zu ungeschliffen, um die lyrischen Seelenmalereien entsprechend aufblühen zu lassen. Ladislav Elgr klang ebenfalls etwas angestrengt, gegen Ende seiner Darbietung manchmal fast mit einer Spur von Heiserkeit. Cigdem Soyarslan verlieh der Jemina frischen, jugendlichen, allerdings etwas lautstarken Elan: das tat in diesem „Depri“-Umfeld richtig gut. Bewundernswert die Köperbeherrschung der Lazarus-Dublette – des Tänzers Paul Lorenger.

Dem Schlussjubel nach hat es vielen Besuchern gefallen. Missfallensäußerungen gab es keine. Mir persönlich hat sich der Sinn der ganzen Unternehmung nicht erschlossen, zumal dieser „Lazarus“ nach einer ähnlichen Masche wie der „Messiah“ gestrickt ist. „Messiah“ wird übrigens im Frühjahr wieder aufgenommen – und insofern sieht das Ganze stark nach „Restlverwertung“ aus. Fazit: Bisher die schwächste Saison, seit das Theater an der Wien wieder als reines Opernhaus „firmiert“.