JULIE & JEAN

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Semper Depot
12.8.2003

Musikalische Leitung: Peter Keuschnig
Inszenierung: G.H.Seebach
Ausstattung: Hartmut Schörghofer
Licht: Eduard Stipsits

Festival-Orchester Klangbogen Wien
Wiener Kammerchor
Choreinstudierung: Michael Grohotolsky

Koproduktion des Klangbogen Wien mit dem Salzburger Landestheater
(Uraufführung 4.8.03)

Julie - Maria Husmann
Jean - Wolfgang Koch



Sommerschwüler Geschlechter-Krieg

(Dominik Troger)

"Die Ihr hier eintretet, lasst jede Hoffnung fahren." Oh, wie wahr. Selten noch musste das Publikum die Absolution mehr oder weniger genießerischen Zuhörens auf derartig demütig gezimmerten und nach japanischen Wohnungsmaßen eng-designten Sitzplätzen erbitten. Kurzum: Ich bin in all den vielen Jahren aufopferungsvoll gehuldigter Opernleidenschaft noch nie so schlecht gesessen wie an diesem Abend im Semperdepot.

(1) Wer die Örtlichkeit kennt, diesen hochaufgeschossenen von einer viergeschoßigen Galerie umschlossenen Raum (den sogenannten „Prospekthof“), mit seinem Eingang schräg gegenüber von einem neckischen "Palmers-Portal", weiß wovon ich rede: er füllt sich im Sommer mit dunstender Schwüle, die sich aus der Feuchtigkeit nährt, die diesem altem Gemäuer entsteigt, und er ist für eine Nutzung als "Opernhaus" eigentlich völlig ungeeignet. Meist presst man das Orchester in die eine Ecke und die Zuschauer in eine andere, oder man nutzt die Galerien. Die Akustik ist schwierig, genauso wie es schwierig ist, der Architektur dieses einem langgestreckten Dreieck mit runder Spitze nicht unähnlichen Raumes eine praktikable Lösung abzuringen. (Ich frage mich Jahr für Jahr, warum man gerade dort Oper spielt.)

(2) Nun mag man auf die Idee verfallen sein, diese Tücken ein für alle mal zu entschärfen. Ein hochaufgerichterer Schlauch aus festen, etwas durchscheinenden Stoffbahnen wurde gefertigt, diesem Dreieck innerhalb der es umlaufenden Galerien gleichsam eingeschrieben. So baute man eine Miniatur-Arena, während das Orchester außerhalb des Schlauches links ins Eck unter die Galerie gepackt wurde. In dieser Arena durften nun rund 160 Besucher auf einem äußerst knapp bemessenen, vierstufig aufsteigendem Kreisrund Platz nehmen. Jeder Platz war durch schwarze Sitzpölsterchen markiert, deren Fläche in Quadratzentimetern berechnet mich brennend interessiert hätte. Freudig durfte man also den Ellbogen des/der Sitznachbarin/n in den Rippen spüren oder - wenn man nicht das Glück hatte, einen Platz in der oberen, vierten Reihe zu ergattern, die Knie des Hintermannes/der Hinterfrau im Rücken. Verbunden mit dieser mehr fleischlichen Tortur durfte man noch in einer Atmosphäre saunieren, vor der jede Hygrometer-Feder die Flucht ergriffen hätte. Von einer Luftventilation war wenig zu merken, und das Publikum und nicht zu vergessen die Darsteller, erbrachten schier Unmenschliches, wie in seichtem Brackwasser nach Luft schnappende Fischlein. Und so mancher Hemd- und Blusenknopf wurde da bedenkenlos über die zulässige Höchstgrenze hinaus geöffnet. Nun, das war mir ein schwacher Trost, dass sich da der eine Herr bis auf das graumelierte Brusthaar weitflächig entblößte und die Damen mit weltrekordverdächtiger Geschwindigkeit das Programmheft vor sich hin fächelten.

(3) Das Bühnengeschehen konzentrierte sich also auf die Mitte dieser Liliput-Arena, mit wenigen Schritten durchmessbar, eine intime Spielstätte grausamen und nichts desto trotz einigermaßen abgeschmackten Geschlechterkampfes. Das aufgrund von Strindbergs "Fräulein Julie" shortgecuttete, in zwölf kurze Szenen gepresste Libretto, ergeht sich in den Niederungen sattsam bekannter sadomasochistisch angehauchter Beziehungsdramen. Allerdings: Dieses Beziehungsdrama, die (klein-)bürgerliche Selbstzerfleischung von Julie & Jean transformiert sich – und warum diese Interpretation durchaus zulässig scheint, soll gleich beschrieben werden – letztlich zu einer Art von Requiem, zu einer Botschaft an die Überlebenden, als eine emotional aufgeladene Flaschenpost seelischer Verzweiflung. Eine Beziehungskiste, die einsam über das weite Lebensmeer flutet, und von scharfkantigen Klippensteinen leckgeschlagen, absäuft. Davon. Aus. Auf Nimmerwiedersehen.

(4) Spätestens an dieser Stelle kommt nämlich das traurige Schicksal des Komponisten ins Spiel. "Julie & Jean", das war eine posthume Uraufführung, Gerhard Schedl hatte schon im Dezember 2000 seinem Leben ein freiwilliges Ende gesetzt. Und das ist die verzweifelte Schlusspointe, die dem damals bereits fertiggestellten Werk gewaltsam aufgedrückt worden ist. Dieses besondere Schicksal des Komponisten verleiht dieser Oper eine Art von Würde, und man mag dann gerne bereit sein, das Gehörte ein wenig zu transzendieren. Denn zuerst ist man von der formalen Konzeption der beiden Akte zu je sechs kurzen sogenannten „Runden“ etwas überrascht, weil am Beginn und Ende der Akte jeweils einer von insgesamt vier der lateinischen Messe entnommenen Ecksteinen ruht: Kyrie, Gloria, Credo, Benedictus/Agnus Dei. Ob diese Ecksteine, in denen dann auch immer der Chor zu Gesange kommt, zeigen, dass es um mehr geht, als um das plattitüdenhaft-anmutende Gezanke der beiden "Ringkämpfer" Julie & Jean vor dem Moralanspruch der Kirche (sozusagen zum hundertsten Male aufgegossen und aufgewärmt)? Könnte der Rückgriff auf alte musikalische Formen, nicht so etwas wie eine Sehnsucht nach Harmonie und umfassender Lebenserfüllung anklingen lassen, eine Hoffnung, die, wenn sie auch das Orchester immer wieder ironisch kommentiert, vielleicht doch über die "Spießbügerlichkeit" einer oftmals sich nur in sexuellen Begierden ausdrückenden Sinnerfüllung hinausweist? Ich glaube schon: Was Julie und Jean da an Beziehungsstroh dreschen, erhöht sich durch den sakralen Rahmen, in den es gestellt ist, auch bei allem provokativem Potential, das darin verborgen liegt, zu einer Metapher menschlichen Ringens um ein glückliches Leben.

(5) Schedl komponierte eine teilweise fast orgiastisch anmutende Musik und kein mosaikartiges "Klang- und Geräuschtheater", wie es jetzt auch Mode ist. Ohne einen gewissen Eklektizismus geht es dabei natürlich nicht ab, aber die europäische Musikgeschichte ist nie in aufdringlicher Weise präsent. Lyrische Momente, in denen der Sound etwas "abschlafft", wechseln mit sich fortzeugenden Orchesterausbrüchen, die einen gehörig durchbeuteln und zu den stimmingen kirchengesangs-melancholischen Eckpfeilern der beiden Akte einen optimalen Kontrast bieten. Der Schluss der Oper, der stark auf die Wirkung eines Aufschreis von Julie berechnet ist, hat dann nicht mehr so ganz dieses zupackende Potential. Auffallend war der diffizile Einsatz der Blechbläser, der immer wieder als besonderes, auch klangmalerisches Element ins Spiel kam. Der musikalische Gesamteindruck, dem ich jetzt ein wenig nachzuspüren versuche, war jedenfalls ein positiver, der einer über weite Strecken sehr organisch gewachsenen Musik, die Effekte und Emotionen zu beschwören weiß, einer Musik, die irgendwie doch noch eine Geschichte erzählt, und sich nicht nur mehr der völligen Abstraktion hingibt und damit letztlich auch aus der Verantwortung stiehlt.

(6) Folgt man obigen Ausführungen, dann zerfällt diese Produktion also in eine interessante Komposition, in ein wenig begeisterndes Libretto und in eine recht durchschnittliche Inszenierung. Über das Bühnenbild, dass ja gleich die Zuschauersitzplätze mit einbezog und sonst nur aus Requisiten, wie einem Sessel und dem Arenarund bestand, habe ich schon genug geklagt. Denn es wäre, abzüglich der klimatischen Umstände und Beengtheit der Sitzplätze, durchaus brauchbar gewesen. Ja, es hätte sich womöglich so etwas wie eine irritierende Intimität mit den beiden Darstellern und diesem mit Männlein und Weiblein gemischten Chor herstellen lassen. Aber das Gezeigte, von den Darstellern mit viel Einsatz umgesetzt, schwang sich nie zu einem besonderen szenischen Leckerbissen auf. Seltsam, wie gerade bei zeitgenössischer Oper immer wieder eine Biederkeit regiert, die man hier eigentlich am wenigsten vermuten würde. Zehn TV-Monitore, über den Köpfen der Zuschauer in der Wand verteilt, setzten da mit Pornofilmchen, mal grünem oder weißflimmerndem Schirm, mit Tierszenen und jenem berühmten cineastischen Moment des "Durchschnittenen Auges" (Bunuel?) auch keine Akzente. Vor allem waren die Monitore viel zu hoch angeordnet, während man doch beständig auf die runde Spielfläche der Arena hinunter sah. Da konnte sich keine szenische Symbiose entwickeln.

(7) Die Darsteller vollbrachten jedenfalls eine sehr sportliche Leistung, in Anbetracht der Sommerschwüle und gegebenen Luftknappheit. Für sie war diese seltsame Arena-Konstruktion wohl eine wahre Folterbühne. Sie schonten sich aber auch stimmlich nicht, und Wolfgang Koch, mit Strizzi-Charakter, und Maria Husmann, als etwas halbseiden, verblühte Schöne, gebührte aller Respekt, für die gebotene Leistung. Von ihnen wurde im Zuge dieser fatalen Liebesgeschichte – vom ersten Kennenlernen, über einen „erfolgreichen“ Liebesakt bis zum Hassausbruch und dem Scheitern der Beziehung – auch einiges an Exhibitionismus abverlangt. Weniger durch das, was dann wirklich an „Erotik“ gezeigt wurde, als durch die Nähe des Publikums. Denn die unterste Reihe der Zuschauer sorgte zugleich auch für die Begrenzung der Spielfläche. Und dieser „Schutzlosigkeit“ muss man sich als Darsteller erst mal anvertrauen. (Allerdings schien die verkrampfte Haltung so mancher Besucher darauf hinzudeuten, dass Ihnen ein Platz in der zweiten, dritten oder vierten Reihe auch lieber gewesen wäre als ein Platz in der ersten.) Dazu kam eine Gefahr, die in der fortschreitenden, eskalierenden Handlung selbst lag: Wenn in der vorletzten Runde dieses „Ringkampfes“ Jean den Zeisig umbringt, den Julie als Haustier hegt und pflegt, dann hängt die Glaubwürdigkeit dieser Szene am seidenen Faden schauspielerischer Überzeugungskraft.

(8) Etwas seltsam agierte auch der Chor, der lange, penisähnliche Plastiknasen trug, die wohl ihn, wie auch das Publikum ein wenig korrumpieren sollten: „Ihr denkt ohnehin nur alle an das eine...“. Dabei trug der Chor seine Kirchengesänge in schöner, ausgewogener Weise vor, füllte den von Körperdünsten durchwogten Raum mit vokalem Weihrauch. Zum Gloria (das mit der Vereinigung des Liebespaares korrelierte) oder zum Credo, taten die Choristen das, umflort von einem schummrigen blaufahlen Diskothekenlicht, was die Zuschauer (allerdings wegen der dampfenden Hitze) auch so gerne gemacht hätten: sie öffneten die Trikots ihrer grauen Trainingsanzüge und zeigten Männerbrüste und weiße Büstenhalter. So wurden die Zuseher auch noch unvermutet als Voyeure entlarvt, wo sie doch nur neidisch daran gedacht hatten, sich auf ähnliche Weise Kühlung zu verschaffen... Sei’s drum: Der Applaus war stark. Aber es war auch die Freude groß, nach Ende der Vorstellung in die etwas abgekühlte Nachtluft entwischen zu können. Das gebe ich gerne zu.