LE COMTE ORY
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Theater an der Wien
16.2.2013
Premiere

Musikalische Leitung: Jean-Christophe Spinosi

Inszenierung: Moshe Leiser, Patrice Caurier
Bühne: Christian Fenouillat
Kostüme: Agostino Cavalca
Licht: Christophe Forey

Orchester Ensemble Matheus
Chor Arnold Schoenberg Chor
(Ltg. Erwin Ortner)

Le Comte Ory - Lawrence Brownlee
Le Comtesse Adèle - Pretty Yende
Isolier - Regula Mühlemann
Ragonde - Liliana Nikiteanu
Le Gouverneur - Peter Kalman
Raimbaud - Pietro Spagnoli
Alice - Gaia Petrone
Coryphée Sopran 1 - Anna Maria Sarra
Coryphée Sopran 2 - Çigdem Soyarslan
Mainfroy - Rupert Enticknap
Coryphée Tenor / Gerard - Gérard Andrew Owens
Coryphée Bariton 1 - Ben Connor
Coryphée Bariton 2 / un paysan - Igor Bakan




"Schlüpfriger Rossini"
(Dominik Troger)

Der Graf Ory hat das Theater an der Wien als Betätigungsfeld für seine Amouren auserkoren: Gioachino Rossinis „Le Comte Ory“ ist im Rahmen einer Koproduktion von der Oper Zürich nach Wien übersiedelt und hat bei der Premiere voll eingeschlagen.

Die Handlung ist ziemlich seicht: Eine erotische Anekdote aus dem Mittelalter, bei der die angegebene Handlungszeit mehr als Ablenkungsmanöver gelten darf, damit das Publikum über die ihm dargebotenen Anzüglichkeiten unbeschwerter lachen kann. Ein Graf versucht mit Tricks seine Angebetete, die Comtesse Adèle, zu erobern. Schließlich sind die Ehemänner alle auf Kreuzzug und es herrscht ein gewisser „Notstand“. Im ersten Akt versucht der Graf in der Verkleidung eines ehrwürdigen Eremiten seinen Annäherungsversuchen überzeugende Autorität zu verleihen. Im zweiten Akt stecken er und seine Kumpanen in Nonnengewändern und erschleichen sich den Zugang zum Schloss der Comtesse. Solch frevelhaftem Tun ist natürlich kein Erfolg gegönnt. Sein eigener Page, der ebenfalls in die Gräfin verknallt ist, trickst Ory aus. Und noch bevor Handgreiflichkeiten geschehen können, kehren die Männer aus dem Krieg zurück. Der Graf muss fliehen, der Page bleibt. Der Anstand einer insgesamt recht scheinheiligen Moral wurde gewahrt.

Das Regieteam Moshe Leiser & Patrice Caurier hat die Handlung ins Frankreich der frühen 1960er-Jahre verlegt. Die Männer sind im Algerienkrieg und der Comte ist eine Art Aussteiger und angehender Hippie, der sich mit einem Wohnwagen in kleinen Landstädten herumtreibt und „freier Liebe“ frönt. Beim Anblick der damaligen Mode und der Augengläsermodelle war ein Déjà-vu mit der neuen Staatsopern-„Cenerentola“ unvermeidlich: die Epoche der 1950- und 1960er-Jahre scheint bei Ausstattern derzeit sehr beliebt zu sein.

Der erste Akt zeigt im Vordergrund einen Abstellplatz samt Wohnwagen des Grafen als Liebesnest, im Hintergrund eine höher gelegene Straße, dahinter die realistisch gezeigte Silhouette einer Kleinstadt. Der zweite Akt spielt im Schloss, Parkettboden, Blumenvorhänge, Sitzgelegenheiten – feudal, aber im Geschmack ein wenig kleinbürgerlich. Wenn sich im ersten Akt der Wohnwagen zum Publikum hin öffnet und ein einschlägiges Interieur mit leopardenfleckigen Polsterbezügen frei gibt, dann lacht das Publikum. Amüsantes Gelächter auch, wenn die Gräfin mit einem Citroen – alias „Ente“ – vorfährt.

Außerdem bringen Leiser & Caurier in diesen beiden „Räumen“ Rossini mit einer bis in Details durchchoreographierten Personenführung ins Laufen – und trotz gewisser Ähnlichkeiten im Stil mit der schon erwähnten neuen Staatsopern-„Cenerentola“ ist der Gesamteindruck, den diese Inszenierung hinterlässt, deutlich passender.

Zugegeben, Leiser & Caurier lassen sich erst gar nicht auf eine Diskussion mit dem Stoff ein. Sie haben zwar im Programmheft ein paar Anmerkungen gemacht, von der anstehenden 68er-Revolution, sexueller Befreiung und so, sie stellen im Finale die Wehrhaftigkeit der französischen Armee ein wenig boshaft in Zweifel samt ihrem staatstragenden Pathos, aber sie bleiben dabei unverkrampft, der vom Stück frivol zur Schau gestellten moralischen Doppelbödigkeit verpflichtet.

Wahrscheinlich ist eine „Cenerentola“-Produktion sensibler und anspruchsvoller handzuhaben, ihren Märchentouch muss eine rührende Erhabenheit beseelen und der feste Glauben an den Prinzen, der zur Rettung kommt. Für den Grafen Ory ist die Liebe vor allem ein Vehikel triebsinniger Raserei und männlicher Übertreibungskunst – wie sie Rossini im zweiten Akt in der langen Trinkszene der männlichen Nonnen so köstlich dechiffriert. Gerade in diesen heiklen „Nonnenszenen“ gelingt Leiser & Caurier die Gradwanderung zwischen „schlechtem Klamauk“ und untergriffiger Komödie nahezu perfekt. Und wenn sie im Interview im Programmheft meinen, „Le Comte Ory“ wäre schwieriger zu inszenieren als der „Ring“ – das hat das viel für sich.

Rossini hat für den Grafen Ory viel Musik aus seiner Oper „Il viaggo a Reims“ verwendet, aber organisch an den neuen Stoff angepasst. Gespielt wird nach einer neuen Edition der Originalfassung. Details dazu kann man dem Programmheft entnehmen. Der zweite Akt ist zwingender als der erste, neben der schon genannten Trinkszene werden hier noch ein mächtiges Gewitter aufgeboten und ein grandioses, „erotisches“ Terzett, bei dem Ory seine Zudringlichkeiten am Pagen auslebt, den er im dunklen Zimmer für die Comtesse hält. Im ersten Akt vermag vor allem die Begegnung zwischen dem Grafen und der Comtesse mitzureißen.

Das Theater an der Wien hatte an diesem Premierenabend außerdem das, was die Staatsoper für ihre „Cenerentola“ nicht hatte: das bessere Händchen beim Engagement einer Rossini-affinen Besetzung. Lawrence Brownlee ist neben Juan Diego Flórez derzeit einer der „eloquentesten“ Rossini-Tenöre. Das Timbre ist dunkler, die Spitzentöne sind etwas fester und im Vergleich zu Flórez nicht ganz so strahlend und graziös, aber er hat sie, und er singt locker und geschmeidig – und er ist ein Sänger mit viel Humor, der so locker spielt wie er singt. Sein etwas „reiferes“ Timbre passte gut zur Triebhaftigkeit des Grafen, dem schon fast jedes Mittel recht zu sein schien, um an das Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Flórez, der die Partie an der Met gesungen hat, wirkt in Ausschnitten, die man auf Youtube findet, juveniler und schalkhafter. Aber Leiser & Caurier haben den Charakter des Grafen in seinen „Gelüsten" schärfer gezeichnet. Und dem Stück hat das gut getan, weil man im deutschsprachigen „Ausland“ kaum erkennen wird, dass es sich beim 1828 in Paris uraufgeführten „Comte Ory“ ursprünglich um eine Parodie auf die französischen Barocktragödie (Racine & Co.) gehandelt hat.

Lawrence Bronwlee war ein Star des Abends – aber er war nicht der Star des Abends. Dem Theater an der Wien ist das Kunststück gelungen, die kurzfristige krankheitsbedingte Absage von Cecilia Bartoli durch das Einspringen von Pretty Yende zu „reparieren“: Die Südafrikanerin hat erst im Jänner in „Le Comte Ory“ – auch als Einspringerin – an der Seite von Flórez ein sensationelles Debüt an der Met gefeiert. Die sehr guten New Yorker-Kritiken haben nicht zu viel versprochen. Als Yende sich beim Solovorhang verbeugte, gab es eine Ovation. Selbst für das jubelfreudige Theater-an-der-Wien-Premierenpublikum war das ein sehr, sehr starker Applaus, ein Aufschrei der Zustimmung gleichermaßen. Yende hat sich mit ihrem warm timbrierten, koloratur- und höhensicheren lyrischen Sopran gleich mitten ins Herz des Wiener Publikums gesungen. Das Timbre ihrer Stimme ist zart durchdrungen von südlicher Wärme und Poesie, nicht zu viel davon und nicht zuwenig, gerade genug, um belcantescen Frauengestalten ein sinnlich-lyrisches, leicht träumerisches Flair zu verleihen. Ihr Sopran bleibt dabei beweglich und sauber in den Verzierungen. Es ist eine Stimme mit Individualität, die in der ersten Blüte einer vielversprechenden Karriere steht. Ihre Bühnenerscheinung war angenehm, im Spiel mit humorvoller Zurückhaltung – sehr passend für diese Rolle.

Regula Mühlemann sang den Pagen mit noch etwas zartem Sopran, gab sich im Spiel aber adrett und vorwitzig genug, um schlussendlich dem Grafen eine lange Nase zu drehen. Die Partie wird meist mit einem Mezzo besetzt, ob die „neue“ Originalfassung hier Unterschiede macht, entzieht sich meiner Kenntnis.

Peter Kalman als Erzieher des Grafen war – wie der Direktor des Hauses in seiner Ansage am Beginn der Vorstellung betonte – eben erst von einer Verkühlung genesen und er sang ein bisschen wie „mit weichen Knien“: Das gesamte Produktionsteam war den Fängen der herrschenden Grippewelle nur knapp oder nicht mehr rechtzeitig (Bartoli) entronnen.

Pietro Spagnoli steuerte den Raimbaud bei und den Wein für das Gelage der „Nonnen“, dessen Beschaffung er mit viel Humor zum Gaudium des Publikums ausschweifend schilderte. Bleibt noch Liliana Nikiteanu von den „größeren“ Partien zu erwähnen, amüsant im Spiel, gesanglich eher „unauffällig“.

Ob sich alle Rossini-Enthusiasten für das Dirigat von Jean-Christophe Spinosi und das Spiel des Ensemble Matheus begeistern konnten? Der Einfluss von „Originalklangdenkem“ war schwer zu überhören. Spinosi ließ sehr akzentuiert und konsequent spielen, forsch, aber auch sehr anfeuernd. Man muss nur seine ausladenden Bewegungen gesehen haben, sein „taktvolles“ auf einem Bein hüpfen. Diese schonungslose Begeisterung übertrug sich auf das Publikum. Nach der Pause hatte die Vorstellung viele mitreißende Momente und der finalen Steigerung vom erotischen „Dreigesang“ zwischen Graf, Pagen und Comtesse bis zur Heimkehr der Krieger und der Flucht des Grafen hat Spinosi eine Atemlosigkeit verliehen, bei der man über die mangelnde Klangpolitur gerne hinweghörte. Bei Barockopernaufführungen spürt man diese Lust am Musizieren viel öfter, hier hat sich diese vorbehaltlose Begeisterung auf Rossini übertragen.

Spinosi ließ nach den ersten Beifallsstürmen beim Schlussvorhang von der Bühne aus noch einmal eine Choreinlage als Zugabe spielen – ein überaus gelungener Abschluss eines gelungenen Opernabends, zu dem auch der Arnold Schönberg Chor und alle weiteren Mitwirkenden mit einer musikalisch und schauspielerisch starken Ensembleleistung beigetragen haben.

Pretty Yende singt noch die zweite Aufführung, dann kommt Cecilia Bartoli wieder zu Ehren, die die Rolle schon in Zürich gesungen hat. Gesamtspieldauer inklusive Pause: rund drei Stunden.