„Ein langer Opernabend“
(Dominik Troger)
Vergnügen
war das keines, nicht einmal ein „diebisches“: Das Theater an der Wien
spielt in seiner Ausweichspielstätte im Museumsquartier Giaochino
Rossinis „La gazza ladra“. Die Geschichte von der Silberlöffel
stehlenden Elster erwies sich am Premierenabend als zähe Angelegenheit.
Die Aufführung erstreckte sich – inklusive einer Pause – über nahezu
dreidreiviertel Stunden.
Das Jahr 2022 war ein
gutes Jahr für Gioachino Rossinis Opern in Wien. Es gab das Gastspiel
der Opéra Monte-Carlo mit Cecilia Bartoli an der Staatsoper und die
Volksoper hat im September die überaus gelungene „La
cenerentola“-Produktion von Achim Freyer wieder in den Spielplan
aufgenommen. Das Theater an der Wien fügte diesen Aufführungen jetzt
eine Rarität hinzu, die meines Wissens in Wien zuletzt Mitte der
1980er-Jahre in der Kammeroper in einer Fassung von Bernd Palma
gespielt wurde: „La gazza ladra“ oder „Die diebische Elster“.
Die Oper wurde 1817 uraufgeführt und bereits zwei Jahre später im
Theater an der Wien gegeben. Den Besprechungen der Wiener
Erstaufführung am 3. Mai 1819 im Theater an der Wien kann man einige
bemerkenswerte Anmerkungen entnehmen. In der „Wiener Zeitschrift“ vom
8. Mai 1819 wird ausgeführt, dass sich die Musikstücke mit „solcher
Breite und Länge“ entwickeln, „daß man nichts als ein Konzert zu hören
glaubt“. Die Wiener Theaterzeitung vom 11. Mai 1819 will im ersten Akt
sogar eine „ermüdende Weitschweifigkeit“ entdeckt haben, „die durch
Mangel an musikalischen Situationen noch auffallender wird“. 200 Jahre
später kann ich diese Beurteilungen nur unterstreichen.
Außerdem mag die Handlung damals mehr dem Publikumsgeschmack
entsprochen haben als heute. Der Stoff entstammt einem zeitnah zur
Uraufführung entstandenen französischen Theaterstück, dessen Handlung –
wie die „Wiener Theater-Zeitung“ anmerkt – ohne wesentliche Veränderungen
übernommen wurde. Diese Handlung bietet ein paar buffoneske
Einsprengsel und eine sehr dünne Dramaturgie. Eine Elster stiehlt einen
Silberlöffel. Das Dienstmädchen Ninetta wird des Diebstahls verdächtig
und zum Tode (!) verurteilt. Aber glücklicherweise wird die Elster als
Dieb entlarvt und Ninetta, die sich bereits auf dem Weg zum Richtplatz befindet, in
letzter Sekunde gerettet. Ninettas Schicksal ist mit dem ihres Vaters
verknüpft, ein Deserteur. Ihn rettet keine Elster, sondern
der Gnadenspruch des Königs.
Musikalisch bleibt sich Rossini seinem Stil treu, der der Handlung oder
den Figuren wenig „Charakter“ abgewinnen kann. Die Ouvertüre ist ein
Glanzstück für sich, die Dorfstimmung in den ersten Szenen verströmt
noch südliche Wärme und erinnert ein wenig an Donizettis „Liebestrank“,
aber je mehr die Schicksalsverwirrungen samt dem lüsternen Podestà
der armen Ninetta zusetzen, umso mehr empfindet man Rossinis
musikalische „Versatzstücke“ als Mangel. Im zweiten Akt wird dann
überhaupt nur mehr Herz und Schmerz ausgegossen, und das Mitgefühl, das
man der unschuldig verfolgten Ninetta entgegenzubringen gewillt ist,
verzehrt sich im nicht enden wollenden Lamento der Figuren. Sind
schlussendlich doch alle traurig und schuldbewusst: von Ninettas Herrin
Lucia, die neurotisch jeden Tag ihr Besteck zu zählen scheint, bis zum
Podestà, der eigentlich gehofft hat, Ninetta im Kerker für die eigenen
Begierden „weich“ kochen zu können.
Zu selten löst sich Rossini von seinem schablonenhaften Vorgehen: etwa
in der vom Orchester düster begleiteten Gerichtsszene oder beim
Trauermarsch, der Ninetta zum Richtplatz „geleitet“ – aber zu diesem
Zeitpunkt war ein Teil des Publikums (mich eingeschlossen) schon
ziemlich ermüdet von Rossinis musikalischer Mechanik und der
magersüchtigen Handlung. Ob ein paar „weitschweifige“ Striche geholfen
hätten?
Die Inszenierung von Tobias Kratzer
hat Rossini auch nicht gedient. Die Handlung wurde in das abgewohnte
Ambiente eines Bauernhofes verlegt – irgendwann vor 50, 60 Jahren,
wobei die historische Zuordnung in sich nicht ganz schlüssig war.
Die Leichtigkeit Rossinischer Koloraturen wurde durch das ganz auf „Drama“
ausgelegte Spiel erdrückt. Das schäbige Bühnenbild – rechts ein
Zimmer, links ein Zimmer, darüber ein Dachboden und ein Speicher (durch
einen Steg über der Bühne verbunden), so wie eine mit Schiebetor
abgeschlossene Spielfläche in der Mitte, die quasi einen Innenhof vorstellte
– hat die Lust am Zuschauen nicht geweckt. Die Liebe zum Detail
war allerdings bemerkenswert, nicht einmal auf die Fliegenfänger-Klebefalle,
die von der Esstischlampe baumelte, wurde vergessen. Vielleicht ist
das sogar unter „Humor“ zu verbuchen. Aber anstatt Oper
als Oper zu begreifen wurde das Publikum wieder mit einem „Milieu“
konfrontiert, einem aus dem Film geholten szenischen „Surrogat“.
Ob man damit mehr Publikum in die Theater lockt, möchte ich stark
bezweifeln.
Natürlich gab es da noch die Sache mit der Elster. Die Handlung aus der
Sicht von Pica pica zu sehen, hat sich Kratzer gewünscht und in ein
paar Videoeinspielungen umgesetzt. Am Beginn kurvt die Elster über das
Landgut und ist ganz gierig auf Silberzeug, am Schluss kreist sie über
Wien und flattert zielstrebig in die Kunstkammer des Kunsthistorischen
Museums, um sich die Saliera als nächstes Beutestück anzulachen. Diese
Schlusspointe hat Kratzer den Abend gerettet. Ob man aus der Idee einer
das Geschehen beäugenden Elster szenisch hätte mehr herausholen können?
Wahrscheinlich nur dann, wenn es einem nicht so wichtig gewesen wäre,
das Leiden Ninettas und die Widerwärtigkeiten ihres Lebensumfelds so
stark zu betonen.
Beispielsweise läuft ihr auf der Flucht befindlicher Vater mit einem
großen Blutfleck auf dem tarnfarbengrünen T-Shirt herum und versteckt
sich vor dem Oberrichter in einer Hundehütte, Bauernbursche Pippo
darf sich im ersten Akt beim Fest der Landleute besaufen und rabiat
werden – womit wir wieder beim „Milieu“ angekommen wären. Die Ouvertüre
wird von Soldaten belebt, die sich in der Küche von Frau Lucia
verprovantieren. Lucia befürchtet auf dem Dachboden beim
Wäscheaufhängen vergewaltigt zu werden, dabei möchte ein Eindringling
nur sein schmutziges Hemd gegen ein frischgewaschenes tauschen.
Kratzers Humor entwickelt des öfteren einen unangenehmen, einen nahezu
„dystopischen“ Zug.
Man spürt aber schon, das Kratzer Ninetta am Herzen liegt, dass er ihre
Sorgen und Schmerzen gerne teilen – dem Publikum mitteilen – möchte.
Trotzdem verschiebt sich sein Bühnenaktionismus im zweiten Aufzug in
der Gerichtsszene sogar ins Kafkaesk-Surreale, und wie Ninetta die ihr
Leben bedrohenden Aufregungen psychisch verkraften wird, bleibt
schlussendlich offen. Zu „guter“ Letzt wird eine Elster geschossen und
fällt dekorativ in den Innenhof – eine andere schwingt sich in der
letzten Videosequenz auf über Wien, um für die bereits geschilderte
Pointe zu sorgen.
Die Besetzung hätte in einem anderen szenischen Ambiente wahrscheinlich
mehr Operngenuss verbreitet, waren doch bekannte Namen darunter:
Rossini geeicht, mit den künstlerischen Anforderungen des Meisters aus
Pesaro bestens vertraut. Nino Machaidze
hat vor allem die Leiden der Ninetta herausgearbeitet und ihr
nicht gerade „vollmundiger“ Sopran hat gut das Frauenschicksal
unterstrichen, das als Dienstmädchen allerlei Nachstellungen ausgesetzt
ist. Insofern bot ihre Ninetta zwar ein gesanglich tiefempfundenes,
aber ziemlich verhärmtes „Rossini-Glück.“ Mit Maxim Mironov
hat man einen versierten Rossini-Tenor aufgeboten. Den Giannetto hat
der Komponist allerdings ein bisschen stiefmütterlich behandelt, und
Mironov überzeugte dort, wo er durfte, mit seinem flexiblen, hellen
Tenor. Seinen Vater, den reichen Bauern Fabrizio steuerte Fabio Capitanucci
bei. Der Sänger gab 2011 in der Staatsopern-Neuproduktion von „La
traviata“ den Vater Germont. Der reiche Bauer liegt ihm besser.
Aber er und seine Frau Lucia, gesungen von Marina de Liso, sind zwar
wichtige, aber auch keine wirklichen „Hauptpersonen“.
Marina de Liso gab eine
stimmlich solide „Besteckfetischistin“. Zu ihrer Arie im zweiten Akt
musste sie wie in einem hysterischen Anfall Löffel, Gabeln, Messer aus
der Bestecktasche auf den Boden schütteln. Auch hier hat Kratzer
szenisch überaktiv etwas dazu phantasiert. Lucia verlässt in dieser
Szene laut Libretto die Kirche, ihre Bestecktasche wird sie
dorthin kaum mitgenommen haben, um für einen guten Ausgang der Sache zu
beten. Kratzer behauptet zwar, bei seiner Regie sehr nahe an der
Handlung geblieben zu sein (siehe Interview im Programmheft zur
Aufführung), aber viele Details hat er umgedeutet oder tendenziös
überbetont.
Paolo Bordogna war als
Ninettas Vater stimmlich sehr kraftvoll unterwegs, auch er ist Rossini
und Staatsopern erprobt. Aber dieser Kratzersche Bühnenrealismus hat
ihm den Charme geraubt. Als Richter konnte sich Nahuel Di Pierro
profilieren. Er hinterließ von den genannten tieferen Männerstimmen den
besten Eindruck, kräftig und mit einer rollengerechten schmierigen
Eleganz versehen. (Wobei Kratzer bedenken sollte: Je stärker er diese
Figur als „Ungustl“ zeichnet, umso unglaubwürdiger wird ihre Reue im
Finale.) Der Richter ist mit einem deutschen Markenautomobil unterwegs,
ein alter Traktor wird auch aufgeboten, und die nächste
Opernneuproduktion findet vielleicht im Technischen Museum statt?! Den
vielleicht besten Eindruck des Abends hat Diana Haller hinterlassen, mit ausdrucksstarkem Mezzo und sehr guter darstellerischer Leistung in der Hosenrolle des Pippo. Und der Arnold Schönberg Chor leistet auch im Ausweichquartier seinen wichtigen Beitrag.
Das ORF Radio Symphonieorchester wurde von Antonino Fogliani
zu einem etwas derben Rossini angehalten. Bereits die Ouvertüre hatte
eine polternde Bedeutungsschwere, die vielleicht an die Inszenierung
angepasst war, aber jene leichtgängige Elastizität vermissen ließ, die
Rossinis Musik wie die verspielte Mechanik einer Taschenuhr
herunterschnurrt. Schade darum. Am Hammerklavier saß Robert Lillinger
und durfte nicht nur musizieren, sondern auch der Elster Hilfsdieste
leisten. Um noch einmal zum eingangs erwähnten Gastspiel der Opéra
Monte-Carlo und der „Cenerentola“ an der Volksoper zurückzukommen: „La
gazza ladra“ blieb unter den dort gesetzten Maßstäben. Die Halle war
nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt, nach der Pause war eine ganz
leichte Ausdünnung wahrzunehmen. Am Schluss gab es natürlich
Jubel.
Vor der Halle im Innenhof des Museumsquartiers ist schon
Weihnachtsmarktstimmung angesagt und Lichterketten funkeln. Ob sich in
der Pause ein Punsch ausgeht? Vielleicht sollte man sich damit laben,
um für den zweiten Akt gerüstet zu sein.
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