LA GAZZA LADRA
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Premiere
Museumsquartier Halle E
Theater an der Wien im Ausweichquartier
16. November 2022


Musikalische Leitung: Antonino Fogliani
Inszenierung: Tobias Kratzer
Bühne und Kostüm: Rainer Sellmaier
Licht & Video: Michael Bauer

Fabrizio Vingradito - Fabio Capitanucci
Lucia - Marina de Liso
Giannetto - Maxim Mironov
Ninetta - Nino Machaidze
Fernando Villabella - Paolo Bordogna
Gottardo - Nahuel Di Pierro
Pippo - Diana Haller
Isacco - Riccardo Botta
Antonio - Johannes Bamberger
Giorgio - Timothy Connor
Ernesto - Alexander Aigner
Il Pretore - Zacharias Galaviz



„Ein langer Opernabend
(Dominik Troger)

Vergnügen war das keines, nicht einmal ein „diebisches“: Das Theater an der Wien spielt in seiner Ausweichspielstätte im Museumsquartier Giaochino Rossinis „La gazza ladra“. Die Geschichte von der Silberlöffel stehlenden Elster erwies sich am Premierenabend als zähe Angelegenheit. Die Aufführung erstreckte sich – inklusive einer Pause – über nahezu dreidreiviertel Stunden.

Das Jahr 2022 war ein gutes Jahr für Gioachino Rossinis Opern in Wien. Es gab das Gastspiel der Opéra Monte-Carlo mit Cecilia Bartoli an der Staatsoper und die Volksoper hat im September die überaus gelungene „La cenerentola“-Produktion von Achim Freyer wieder in den Spielplan aufgenommen. Das Theater an der Wien fügte diesen Aufführungen jetzt eine Rarität hinzu, die meines Wissens in Wien zuletzt Mitte der 1980er-Jahre in der Kammeroper in einer Fassung von Bernd Palma gespielt wurde: „La gazza ladra“ oder „Die diebische Elster“.

Die Oper wurde 1817 uraufgeführt und bereits zwei Jahre später im Theater an der Wien gegeben. Den Besprechungen der Wiener Erstaufführung am 3. Mai 1819 im Theater an der Wien kann man einige bemerkenswerte Anmerkungen entnehmen. In der „Wiener Zeitschrift“ vom 8. Mai 1819 wird ausgeführt, dass sich die Musikstücke mit „solcher Breite und Länge“ entwickeln, „daß man nichts als ein Konzert zu hören glaubt“. Die Wiener Theaterzeitung vom 11. Mai 1819 will im ersten Akt sogar eine „ermüdende Weitschweifigkeit“ entdeckt haben, „die durch Mangel an musikalischen Situationen noch auffallender wird“. 200 Jahre später kann ich diese Beurteilungen nur unterstreichen.

Außerdem mag die Handlung damals mehr dem Publikumsgeschmack entsprochen haben als heute. Der Stoff entstammt einem zeitnah zur Uraufführung entstandenen französischen Theaterstück, dessen Handlung – wie die „Wiener Theater-Zeitung“ anmerkt – ohne wesentliche Veränderungen übernommen wurde. Diese Handlung bietet ein paar buffoneske Einsprengsel und eine sehr dünne Dramaturgie. Eine Elster stiehlt einen Silberlöffel. Das Dienstmädchen Ninetta wird des Diebstahls verdächtig und zum Tode (!) verurteilt. Aber glücklicherweise wird die Elster als Dieb entlarvt und Ninetta, die sich bereits auf dem Weg zum Richtplatz befindet, in letzter Sekunde gerettet. Ninettas Schicksal ist mit dem ihres Vaters verknüpft, ein Deserteur. Ihn rettet keine Elster, sondern der Gnadenspruch des Königs.

Musikalisch bleibt sich Rossini seinem Stil treu, der der Handlung oder den Figuren wenig „Charakter“ abgewinnen kann. Die Ouvertüre ist ein Glanzstück für sich, die Dorfstimmung in den ersten Szenen verströmt noch südliche Wärme und erinnert ein wenig an Donizettis „Liebestrank“, aber je mehr die Schicksalsverwirrungen samt dem lüsternen Podestà der armen Ninetta zusetzen, umso mehr empfindet man Rossinis musikalische „Versatzstücke“ als Mangel. Im zweiten Akt wird dann überhaupt nur mehr Herz und Schmerz ausgegossen, und das Mitgefühl, das man der unschuldig verfolgten Ninetta entgegenzubringen gewillt ist, verzehrt sich im nicht enden wollenden Lamento der Figuren. Sind schlussendlich doch alle traurig und schuldbewusst: von Ninettas Herrin Lucia, die neurotisch jeden Tag ihr Besteck zu zählen scheint, bis zum Podestà, der eigentlich gehofft hat, Ninetta im Kerker für die eigenen Begierden „weich“ kochen zu können.

Zu selten löst sich Rossini von seinem schablonenhaften Vorgehen: etwa in der vom Orchester düster begleiteten Gerichtsszene oder beim Trauermarsch, der Ninetta zum Richtplatz „geleitet“ – aber zu diesem Zeitpunkt war ein Teil des Publikums (mich eingeschlossen) schon ziemlich ermüdet von Rossinis musikalischer Mechanik und der magersüchtigen Handlung. Ob ein paar „weitschweifige“ Striche geholfen hätten?

Die Inszenierung von Tobias Kratzer hat Rossini auch nicht gedient. Die Handlung wurde in das abgewohnte Ambiente eines Bauernhofes verlegt – irgendwann vor 50, 60 Jahren, wobei die historische Zuordnung in sich nicht ganz schlüssig war.  Die Leichtigkeit Rossinischer Koloraturen wurde durch das ganz auf „Drama“ ausgelegte Spiel erdrückt. Das schäbige Bühnenbild – rechts ein Zimmer, links ein Zimmer, darüber ein Dachboden und ein Speicher (durch einen Steg über der Bühne verbunden), so wie eine mit Schiebetor abgeschlossene Spielfläche in der Mitte, die quasi einen Innenhof vorstellte – hat die Lust am Zuschauen nicht geweckt. Die Liebe zum Detail war allerdings bemerkenswert, nicht einmal auf die Fliegenfänger-Klebefalle, die von der Esstischlampe baumelte, wurde vergessen. Vielleicht ist das sogar unter „Humor“ zu verbuchen. Aber anstatt Oper als Oper zu begreifen wurde das Publikum wieder mit einem „Milieu“ konfrontiert, einem aus dem Film geholten szenischen „Surrogat“. Ob man damit mehr Publikum in die Theater  lockt, möchte ich stark bezweifeln.

Natürlich gab es da noch die Sache mit der Elster. Die Handlung aus der Sicht von Pica pica zu sehen, hat sich Kratzer gewünscht und in ein paar Videoeinspielungen umgesetzt. Am Beginn kurvt die Elster über das Landgut und ist ganz gierig auf Silberzeug, am Schluss kreist sie über Wien und flattert zielstrebig in die Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums, um sich die Saliera als nächstes Beutestück anzulachen. Diese Schlusspointe hat Kratzer den Abend gerettet. Ob man aus der Idee einer das Geschehen beäugenden Elster szenisch hätte mehr herausholen können? Wahrscheinlich nur dann, wenn es einem nicht so wichtig gewesen wäre, das Leiden Ninettas und die Widerwärtigkeiten ihres Lebensumfelds so stark zu betonen.

Beispielsweise läuft ihr auf der Flucht befindlicher Vater mit einem großen Blutfleck auf dem tarnfarbengrünen T-Shirt herum und versteckt sich vor dem Oberrichter in einer Hundehütte,  Bauernbursche Pippo darf sich im ersten Akt beim Fest der Landleute besaufen und rabiat werden – womit wir wieder beim „Milieu“ angekommen wären. Die Ouvertüre wird von Soldaten belebt, die sich in der Küche von Frau Lucia verprovantieren. Lucia befürchtet auf dem Dachboden beim Wäscheaufhängen vergewaltigt zu werden, dabei möchte ein Eindringling nur sein schmutziges Hemd gegen ein frischgewaschenes tauschen. Kratzers Humor entwickelt des öfteren einen unangenehmen, einen nahezu „dystopischen“ Zug.

Man spürt aber schon, das Kratzer Ninetta am Herzen liegt, dass er ihre Sorgen und Schmerzen gerne teilen – dem Publikum mitteilen – möchte. Trotzdem verschiebt sich sein Bühnenaktionismus im zweiten Aufzug in der Gerichtsszene sogar ins Kafkaesk-Surreale, und wie Ninetta die ihr Leben bedrohenden Aufregungen psychisch verkraften wird, bleibt schlussendlich offen. Zu „guter“ Letzt wird eine Elster geschossen und fällt dekorativ in den Innenhof – eine andere schwingt sich in der letzten Videosequenz auf über Wien, um für die bereits geschilderte Pointe zu sorgen.

Die Besetzung hätte in einem anderen szenischen Ambiente wahrscheinlich mehr Operngenuss verbreitet, waren doch bekannte Namen darunter: Rossini geeicht, mit den künstlerischen Anforderungen des Meisters aus Pesaro bestens vertraut. Nino Machaidze hat vor allem die  Leiden der Ninetta herausgearbeitet und ihr nicht gerade „vollmundiger“ Sopran hat gut das Frauenschicksal unterstrichen, das als Dienstmädchen allerlei Nachstellungen ausgesetzt ist. Insofern bot ihre Ninetta zwar ein gesanglich tiefempfundenes, aber ziemlich verhärmtes „Rossini-Glück.“ Mit Maxim Mironov hat man einen versierten Rossini-Tenor aufgeboten. Den Giannetto hat der Komponist allerdings ein bisschen stiefmütterlich behandelt, und Mironov überzeugte dort, wo er durfte, mit seinem flexiblen, hellen Tenor. Seinen Vater, den reichen Bauern Fabrizio steuerte Fabio Capitanucci bei. Der Sänger gab 2011 in der Staatsopern-Neuproduktion von „La traviata“ den Vater Germont.  Der reiche Bauer liegt ihm besser. Aber er und seine Frau Lucia, gesungen von Marina de Liso, sind zwar wichtige, aber auch keine wirklichen „Hauptpersonen“.

Marina de Liso gab eine stimmlich solide „Besteckfetischistin“. Zu ihrer Arie im zweiten Akt musste sie wie in einem hysterischen Anfall Löffel, Gabeln, Messer aus der Bestecktasche auf den Boden schütteln. Auch hier hat Kratzer szenisch überaktiv etwas dazu phantasiert. Lucia verlässt in dieser Szene laut Libretto die Kirche,  ihre Bestecktasche wird sie dorthin kaum mitgenommen haben, um für einen guten Ausgang der Sache zu beten. Kratzer behauptet zwar, bei seiner Regie sehr nahe an der Handlung geblieben zu sein (siehe Interview im Programmheft zur Aufführung), aber viele Details hat er umgedeutet oder tendenziös überbetont.

Paolo Bordogna war als Ninettas Vater stimmlich sehr kraftvoll unterwegs, auch er ist Rossini und Staatsopern erprobt. Aber dieser Kratzersche Bühnenrealismus hat ihm den Charme geraubt. Als Richter konnte sich Nahuel Di Pierro profilieren. Er hinterließ von den genannten tieferen Männerstimmen den besten Eindruck, kräftig und mit einer rollengerechten schmierigen Eleganz versehen. (Wobei Kratzer bedenken sollte: Je stärker er diese Figur als „Ungustl“ zeichnet, umso unglaubwürdiger wird ihre Reue im Finale.) Der Richter ist mit einem deutschen Markenautomobil unterwegs, ein alter Traktor wird auch aufgeboten, und die nächste Opernneuproduktion findet vielleicht im Technischen Museum statt?! Den vielleicht besten Eindruck des Abends hat Diana Haller  hinterlassen, mit ausdrucksstarkem Mezzo und sehr guter darstellerischer Leistung in der Hosenrolle des Pippo. Und der Arnold Schönberg Chor leistet auch im Ausweichquartier seinen wichtigen Beitrag.

Das ORF Radio Symphonieorchester wurde von Antonino Fogliani zu einem etwas derben Rossini angehalten. Bereits die Ouvertüre hatte eine polternde Bedeutungsschwere, die vielleicht an die Inszenierung angepasst war, aber jene leichtgängige Elastizität vermissen ließ, die Rossinis Musik wie die verspielte Mechanik einer Taschenuhr herunterschnurrt. Schade darum. Am Hammerklavier saß Robert Lillinger und durfte nicht nur musizieren, sondern auch der Elster Hilfsdieste leisten. Um noch einmal zum eingangs erwähnten Gastspiel der Opéra Monte-Carlo und der „Cenerentola“ an der Volksoper zurückzukommen: „La gazza ladra“ blieb unter den dort gesetzten Maßstäben. Die Halle war nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt, nach der Pause war eine ganz leichte Ausdünnung  wahrzunehmen. Am Schluss gab es natürlich Jubel. 

Vor der Halle im Innenhof des Museumsquartiers ist schon Weihnachtsmarktstimmung angesagt und Lichterketten funkeln. Ob sich in der Pause ein Punsch ausgeht? Vielleicht sollte man sich damit laben, um für den zweiten Akt gerüstet zu sein.