MEDEA
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Staatsoper
28.2.2010
Uraufführung

Musikalische Leitung: Michael Boder
Inszenierung, Bühne Licht: Marco Arturo Marelli
Kostüme: Dagmar Niefind

Medea - Marlis Petersen
Kreusa - Michaela Selinger
Gora - Elisabeth Kulman
Kreon - Michael Roider
Jason - Adrian Eröd
Herold - Max Emanuel Cencic

„Was ist der Erde Glück? - Ein Schatten!
Was ist der Erde Ruhm? - Ein Traum!
Du Armer! der von Schatten du geträumt!
Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.“
Franz Grillparzer, Medea, 5. Aufzug


„Nahe dran am Mythos
(Dominik Troger)

Mit der Uraufführung von Aribert Reimanns „Medea“ feierte die Wiener Staatsoper einen ganz großen Erfolg. 22 Minuten lang währte der Schlussapplaus. Wer hätte im Vorfeld auf solch begeisterte Reaktionen gewettet?

Die Gründe für diesen durchschlagenden Erfolg sind vielfältiger Natur. In den letzten 20 Jahren haben sich die Voraussetzungen für zeitgenössische Oper in Wien stark verbessert. Die unermüdliche Schaffenskraft einiger freier Operngruppen hat seit Anfang der 1990er-Jahre das Feld aufbereitet – und das Theater an der Wien hat in den letzten Jahren bewiesen, dass zeitgenössische Werke auch ein wesentlicher, erfolgreicher Bestandteil des Spielplans sein können.

Aribert Reimann zählt im deutschsprachigen Raum heutzutage zu den wenigen Komponisten, deren Musiktheater-Werke sich nahtlos in den mehrhundertjährigen Traditionsstrom einer Kunstgattung einpassen, ohne deshalb antiquiert oder eklektizistisch zu wirken. Außerdem ist es an der Staatsoper gelungen, eine sehr gute Besetzung aufzubieten und bereits im Vorfeld eine medial gut aufbereitete Öffentlichkeitsarbeit zu leisten.

Letztlich zeugt das Werk selbst vom Glauben an die ungebrochene Kraft dieser Kunstgattung, vom Glauben an die Universalität mythischer Stoffe – und vom Glauben an ein großes Orchester. Dass Reimann beim Libretto auf Franz Grillparzer zurückgegriffen hat, freut zudem den heimischen Literaturliebhaber. Der nicht immer hochgeschätzte Grillparzer, der „Zweit-Klassiker“ der deutschsprachigen Literatur, er eröffnet unter Reimanns kundiger Bearbeitung seelische Abgründe und ein existentielles Paradigma, das leicht unter der „verbürgerlichten“ Oberfläche dieses Dichters verborgen bleibt. Reimann hat überhaupt ein ausgezeichnetes „Händchen“, wenn es um das Einrichten von literarischen Vorlagen geht, das hat er hier einmal mehr bewiesen.

Die archaische Wucht des Stoffes bleibt bei ihm ungemildert, wird durch die Musik noch verstärkt. In weitestem Sinne erscheint hier „Medea“ als eine Schwester „Elektras“, ein Verwandtschaftsverhältnis, das sozusagen auf der Metaebene eines zwangvollen, ausweglosen Schicksalszusammenhanges spielt, der dem Publikum den angeblich festen Boden zivilisatorischer Errungenschaften gekonnt unter den Füßen wegzieht.

Reimann geht dabei manchmal richtig brutal zu Werk, die Bläser formen sich dann zu einem großen bedrohlichen Block, dort scheint irgendwo das grelle Fatum zu Hause, dem niemand entrinnt. Medea tötet ihre Kinder, listig hat sie schon Kreusa in die Ewigkeit befördert, ihre Schuld ist ebenso wie ihre Rache evident. Da gibt es kein augenzwinkerndes Davonstehlen, kein ironisches Brechen, kein sarkastisches Verwässern durch ideologieverseuchte Moral. Medeas Selbstfindung zur Rache im zweiten Teil wird zum Erdbeben, zum Vulkanausbruch, zur Naturnotwendigkeit. Im letzten Bild aber, wenn alles überwunden ist, wenn die Klänge in einem Zwischenspiel zum einzig-alleinen Harfenton zusammenbrechen, wenn Jason greint, dann kommt die Läuterung, dann ergreift die Katharsis Musik und Raum. Mag sein, dass dergleichen „konservativ“ genannt werden kann, aber es ist wirkungsvoll und trifft einen in die Seele.

Die Führung der Singstimmen hingegen kann durchaus „manieriert“ genannt werden. Medea lebt nur in der Koloratur, wobei ein beständiges Hinauf und Hinunter gemeint ist, eine Mischung aus Hysterie und zwangvollem Anpassungsverlangen. Konsequenter Weise hat Medea in der Schlussszene diese „gesanglichen“ und emotionalen „Wechselbäder“ abgelegt, selbstgefunden ruht sie wieder in sich.

Die Anforderungen an die Sängerin der Titelpartie sind enorm. Es spricht für die Medea der Marlis Petersen und für Aribert Reimann, dass der Balanceakt gelingt, dass die Stimme erträgt, was sie ertragen muss, ohne an den zugrundeliegenden musikalischen Anforderungen zu scheitern. Auch hier beweist sich der erfahrene Praktiker, der Möglichkeiten bis an die Grenzen gehend ausschöpft, diese Grenzen aber nirgendwo überschreitet. Petersens Sopran kleidete sich trotzdem in barocke Geschmeidigkeit, hinterließ nie den Eindruck, überfordert zu sein.

Zudem schwebte über dem ganzen Abend eine bedrohliche Klanglichkeit, die trotz großem Orchester die Kargheit griechischer Sommerlandschaften in sich trug, eine schwüle Hitze über ausgedörrtem Boden und Lavafeldern, auf denen dürres Gras im Winde zittert und über dessen trockenen, gelben Matten, dunkel gefärbte Streicherflächen wie Wolken unheildrohend dahinziehen. Die Singstimmen dagegen, unruhig, hüpften zwischen den Halmen wie Heuschrecken, die von Bergstürzen bedroht werden, manchmal richtiggehend naiv (Kreusa) oder mit einem etwas abschätzigen Anstrich versehen (Jason) oder mit vermeintlich imperialer Größe ausgestattet (Kreon) oder mit fraulicher kolchisbewusster Anteilnahme (Gora). Nur die Figur des Herolds erhob sich über all dem – die Schlüsselszene im ersten Teil – geschrieben für Countertenor, grandios von Max Emanuel Cencic gesungen, ein fast unwirklicher, in goldene Farben getauchter, göttlicher Richtspruch, der zugleich elegant und schmerzvoll auf Medea und Jason den Bannstrahl warf.

Die Besetzung war vorzüglich. Medea und der Herold wurden schon genannt. Elisabeth Kulmann war eine präsente, im Aussehen sehr jugendliche Amme. Gleich am Beginn hat sie eine starke Szene mit Medea, in der diese ihre „Kolchis-Erinnerungen“ begraben möchte. Den emotionalen Ringkampf zwischen den beiden Frauen vermeinte man fast körperlich zu spüren. Die Partie der Gora hat Reimann einem sehr flexiblen Mezzo in die Kehle gelegt, dunkles Ahnen mit heller Emotionalität verbindend. Trotzdem bleibt Gora eher eine Randfigur – ein typisches Ammenschicksal eben.

Jason versucht den gefühlsbetonten Auftritten Medeas seinen flexiblen Intellekt entgegenzusetzen. Reimann scheint ihn auch musikalisch bewusst als Charakter zu hinterfragen und sich ein wenig über seine Schwächen lustig zu machen – vor allem in den ersten Minuten seines Auftritts. Adrian Eröd lieh dem Jason seinen schlanken, noblen Bariton, den Personencharakter diesmal weniger schärfend. Seine Darstellung folgte dem vorgegebenen Opportunismus. Dabei ist Jason gewiss als moderner Mensch zu sehen, ein Intellektueller, der sich nach dem Winde dreht, entwurzelt und ohne geerdetes Heimatgefühl, karrierestrebend. Jason wurde zudem von der Regie etwas überzeichnet: sein Auftritt mit Koffer, die hellen Schuhe mit Schuhstrecker (!), der modische Geck, der mit diesem Requisit der barbarischen Medea droht.

Kreon und Tochter vertraten das zivilisierte Griechentum, weiß gekleidet, im Gegensatz zu dem rötlichen, etwas unordentlicher wirkenden Gewande Medeas. Kreusa zeigte sich mit naivem Überschwang, undiplomatisch und doch von einem gewissen Hang zum Helfen beseelt, ein auch vom Gesang her lächerliches Püppchen, das viel mehr nach dem Ansinnen des Vaters lebt, als nach dem eigenen Willen. Michaela Selinger spielte das locker und sang es leicht. Kreon (Michael Roider) vertrat das eigene, königliche Gesetz, gefasst und mit staatsmännischem Einschlag.

Michael Boder und das Staatsopernorchester sorgten für eine tiefschürfende musikalische Durchdringung des Stoffes, für eine klanglich beeindruckende Aufbereitung, für intensive zweieinhalb Stunden Musiktheater (inklusive einer längeren Pause).

Die Inszenierung wurde von Marco-Arturo Marelli (Regie und Bühne) sowie Dagmar Niefind (Kostüme) sehr gut an das Stück angepasst: vor allem das Bühnenbild mit den Steinen, diese Lavalandschaft, deren Hintergrund sich im zweiten Teil nach der Pause aufstellt und die emotionalen Erdbeben mit optisch und akustisch wahrnehmbaren Erdrutschen begleitet. Das war vorzüglich der Musik angepasst, begann langsam, wurde drohend, spannungsgeladen exekutiert. Optisch weniger gut machte sich der Griechenkubus, der rechts über der Bühne schwebte, von dem sich eine Plattform in die barbarischen Niederungen herabließ. Etwas seltsam auch das Kolchis-Zelt, ganz links, wie der kleiner Wigwam eines eingewanderten Indianerstamms – aber das sind – gemessen am positiven Gesamteindruck, nur Fußnoten. Der Herold tritt mit einer Eskorte in Rüstungen auf, lange Lanzen tragend, die dann in die Erde gestoßen, den Bann besiegeln. Vor allem nach der Pause erreichte das Geschehen auf der Bühne eine bezwingende dramatische Dichte.

Der Schlussapplaus – in den sich Anfangs ein Buhrufer gegen den Komponisten mischte – bedachte insbesondere Marlis Petersen mit seinem Jubel, geizte aber auch bei den anderen Mitwirkenden wahrlich nicht und hielt über zwanzig Minuten lang an. Überraschend stark war der Besucherandrang, der sich am besten an einem bis auf die Balkonseite gefüllten Stehplatz ermessen lässt.