CASTOR ET POLLUX
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Theater an der Wien
20.1.2011
Premiere

Musikalische Leitung: Christophe Rousset
Inszenierung: Mariame Clément
Ausstattung: Julia Hansen
Lichtdesign: Bernd Purkrabek
Videodesign: fettfilm

Les Talens Lyriques
Chor Arnold Schoenberg Chor

Castor - Maxim Mironov
Pollux - Dietrich Henschel
Télaire - Christiane Karg
Phébé - Anne Sofie von Otter
Jupiter - Nicolas Testé
Grand Prêtre - Pavel Kudinov
Mercure/Athlète - Enea Scala
Cléone / une suivante d'Hebée /
une ombre heureuse - Sophie Marilley


Familienaufstellung
(Dominik Troger)

Französische Barockopern sind eine ausgesprochene Rarität auf den Wiener Spielplänen – umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich das Theater an der Wien mit einer Produktion von Jean-Philippe Rameaus „Castor et Pollux“ einem der unbestrittenen Höhepunkte dieser Gattung widmet.

Die Geschichte von den Brüderzwillingen Castor und Pollux, die beide dieselbe Frau, Télaïre, lieben und von denen Pollux als Jupiter-Sohn unsterblich, Castor aber sterblich ist, beruht auf der Dioskuren-Sage der griechischen Mythologie. Pollux folgt seinem toten Bruder in die Unterwelt, um mit ihm zu tauschen und ihm die Rückkehr zu seiner Liebsten zu ermöglichen, Castor nimmt dieses Angebot an, aber nur für einen Tag. Jupiter – gerührt von solcher Bruderliebe – verleiht beiden das ewige Leben und versetzt sie in den Himmel.

Rameaus Werk besteht – überspitzt formuliert – aus zündenden Ballettmusiken und viel „deklamatorischem Rezitativ“. Die „Arien“ suchen weniger die Virtuosität sängerischer Kehlköpfe, sondern geben meist sinnvoll im Kontext der Handlung eingebundene Emotionen wieder. Im Vergleich zum komplexen Handlungsgerüst einer „klassischen“ Händeloper ist das Geschehen bei Rameau geradezu simpel, wirkt durch die vielen Ballettmusiken und den vermehrten Einsatz des Chores aber formal weniger schematisiert. Gegeben wurde die von Rameau revidierte Fassung von 1754. Sie entbehrt zum Beispiel gegenüber der Erstfassung von 1737 des Prologs und wurde auch im Detail umgearbeitet (gekürzte Rezitative, ein um die Vorgeschichte ergänzter erster Akt u.a.m.).

Die erste Frage, die sich heutzutage bei der szenischen Umsetzung einer französischen Barockoper stellt, lautet offenbar: Sollen wir wirklich „tanzen“ lassen? Das Produktionsteam, das für die Aufführungen im Theater an der Wien verantwortlich zeichnet, kam zum Ergebnis (Zitat aus einem Interview mit Mariame Clément im Programmheft), „dass die Ballettmomente für ein heutiges Publikum schwierig sind, weil sie die Erzählung unterbrechen.“ Die Sorgen, die sich Regisseure landauf landab um das heutige Publikum machen, sind wirklich rührend.

Nun sind diese „Ballettmusiken“ bei Rameau ein wichtiger Teil des Ganzen, weil wesentliche spannungtragende Impulse von diesen Orchesterstücken ausgehen, die eine entsprechende tänzerische Umsetzung geradezu herausfordern. Die Musik erklingt dann sehr plastisch, energiegeladen, paart sich im Wechselspiel mit den klassizistischen Gefühlsregungen der Protagonisten zu einem großen Wandgemälde, das artifizielle Portraits mit dem choreographisch organisierten Gewühl von Volksmengen mischt.

Dieses historische (!) Gemälde in einer quasi psychoanalytischen Deutung als Familiengeschichte aufzulösen, die irgendwann im 20. Jahrhundert spielt, scheint in Anbetracht einiger Szenen zwar durchaus verlockend, hat aber mit der künstlerischen Haltung dieses 250 Jahre alten Werks naturgemäß nicht mehr viel zu tun. Aber als Zuseher muss man froh sein, wenn solche „Übersetzungen“ gleichsam als „Stück“ über ein „Stück“ funktionieren und nicht ganz als „Erfindung“ gelten müssen, die man viel zu oft nur mehr als einen Akt künstlerischer „Abfallverwertung“ begreifen kann.

Im Theater an der Wien hat Regisseurin Mariame Clément diese Ballette genützt, um die besagte Familiengeschichte der Zwillingsbrüder und ihrer (Nicht-)Geliebten Télaire und Phébé zu erweitern und psychoanalytisch zu fundieren. Statt Ballett gibt es viel Theater. Man bekommt die Kindheit der Figuren vorgespielt, „ertappt“ sie beim heimlichen Liebesbrieflesen und beim „Blinde Kuh“-Spielen auf der großen Treppe des Hauses, die bühnenmittig und mit rotem Läufer versehen, zu Vaters (=Jupiters) Arbeitszimmer hinaufführt. Dort oben im ersten Stock überwachen als Galerie geführt, rechts und links von der großen Flügeltüre, die Jupiters „Heiligtum“ verschließt, die Bilder der Ahnen das Geschehen. Ob diese Erinnerungen im Zusammenhang mit einem Trauma zu sehen sind – und wen dieses betreffen könnte (Phébé vielleicht, die im Finale ruhelos durch das leere, gleichsam ergraute Haus streicht) – wird nicht ganz klar. Vielleicht ist auch die gesamte Handlung nur als böser Traum gemeint, der zwischen Hochzeit (1. Akt) und Begräbnissen oszilliert. (Der „magische Akt“ einer Hadesreise macht bei Pollux den Umweg über einen schwarzen Sarg, in den er nach zeremonieller Waschung seines „toten“ Leibes gelegt wird: bürgerliche Begräbnisriten anstelle antiker Phantasmagorien.)

Mariame Clément hielt die SängerInnen zu ausdrucksvollen, aber mehr symbolischen Gesten an. Die Bewegungen waren eher langsam, die Tableaus wirkten statuarisch, oft zeremoniell. Im zweiten Akt erweiterte ein vor die Haupttreppe in der Höhe der Galerie angebrachter offener, weißer Quader den Raum. Dort suchte Pollux seinen im Totenreich befindlichen Bruder auf. Eindrucksvoll wurde die Bühnenmaschinerie bemüht, als Pollux eine Audienz bei seinem Vater zu Teil wird, und sich die Treppe Richtung Orchestergraben verschiebt, um im ersten Stock für den Schreibtisch des Göttervaters Platz zu machen. „Action“ gab es bei der Ermordung Castors, artistisch über die Treppe abrollend, und beim Auftritt Jupiters im Finale, als Gewittersturm das Haus durchbrauste. Trotzdem fand man die Vitalität von Rameaus Musik auf der Bühne kaum „in Szene gesetzt“. Der Gesamteindruck der Inszenierung bot letztlich aber doch genügend Anhaltspunkte, um schlüssig zu wirken – ohne die weiter oben genannten, grundsätzlichen Vorbehalte dadurch in Frage zu stellen.

Was die musikalische Umsetzung betrifft, so bin ich persönlich nach der „Alcina“ in der Staatsoper und dem begeisternden Spiel der Les Musiciens du Louvre – Grenoble unter Marc Minkowski momentan schwer für ein anderes „Originalklangensemble“ zu begeistern. Dass mir die Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset ein bisschen zu wenig artifiziell und delikat klang, ist somit nicht verwunderlich. Mit fortlaufendem Abend wurde das Spiel deutlich energetischer, wovon vor allem die Orchesterstücke profitierten.

Das Sängerensemble war nicht ganz die erste Wahl. Maxim Mirinov steuerte mit seinem Tenor einen „Haute-contre“ bei, der auch in countertenorale Höhen entschweben kann. Er wirkte zu Beginn nervös und blass, nach der Pause, von Pollux aus dem Totenreich befreit, lockerer. Die Stimme kam mir recht „leicht“ vor. Dietrich Henschel entsprach nicht meinem Ideal einer klaren, schön trimbrierten „Barockstimme“, brachte im Spiel die brüderliche Autorität aber gut heraus. Christiane Karg sang die Télaire gefühlvoll und tadellos, die sängerisch wahrscheinlich beste Leistung des Abends. Anne Sofie von Otters Phébé hatte ein bisschen etwas von einer „älteren“ Schwester in Gesang und Spiel, wohl auch ein Resultat der Personenregie.

Pavel Kudinov gab einen ansprechenden Grand Prêtre, seiner Rolle gemäß aber nur mit kurzem Auftritt. Ähnliches gilt für die solide Sophie Marilley in mehreren kleineren Partien. Interessant schien mir der Bass von Nicolas Testé als Jupiter, der für meinen Geschmack dem gehaltvollen Stil dieser Musik durchaus entsprach. Als Mercure/Athlète hatte Enea Scala eine „Trompetenarie“ zu bewältigen, in deren Anschluss es mitten auf die offene Bühne zu einem Buhruf und einem kurzen, beschimpfenden Wortgefecht im Zuschauerraum kam. Scalas lyrische, etwas markant timbrierte, junge Tenorstimme klang in der Höhe leicht gepresst und schien mir noch nicht ganz ausgereift.

Glücklicherweise kam es zu keinen weiteren Aufregungen. Der Schlussapplaus brachte viel Beifall für alle Beteiligten, und dauerte rund fünf Minuten.