LA BOHÈME

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Volksoper
2. Jänner 2024

Dirigent: Alexander Joel

Rodolfo - David Junghoon Kim
Mimì - Anett Fritsch
Marcello - Andrei Bondarenko
Schaunard - Pablo Santa Cruz
Colline - Aaron Pendelton
Musetta - Lauren Urquhart
Benoit / Alcindoro - Morten Frank Larsen
Parpignol - Christopher Hutchinson
Sergeant - Daniel Pannermayr
Zöllner - Andreas Baumeister
Obstverkäufer - Daniel Strasser
Tambourmajor - Steven Reed Fiske


„Entkitscht“

(Dominik Troger)

1984 – 2024: Harry Kupfers „La bohème“-Inszenierung an der Volksoper wird heuer vierzig Jahre alt. Die Premiere dieser Produktion hat am 8. Juni 1984 stattgefunden – und sie hat sich sofort als nüchternes Pendant zur szenisch opulenten Inszenierung von Franco Zeffirelli an der Staatsoper profiliert. Schön, dass es noch beide gibt.

Was sind vierzig Jahre? Das fragt sich jemand, der im Juni 1984 bei der Premiere dabeigewesen ist. Der Besetzungszettel führt zurück in lang vergangene Volksopernzeiten: Jolanta Radek als Mimì, Adolf Dallapozza als Rodolfo, Mirjana Irosch als Musette. Aber auch über weitere Mitwirkende ließen sich lange Künstlerbiographien schreiben: Luis Giron-May (Marcel), Christian Boesch (Schaunard), Hans-Martin Nau (Colline) bis zu Karl Dönch (Benoit). Dirigiert hat Ernst Märzendorfer – und gesungen wurde in deutscher (!) Sprache: also „Die Bohème“.

Damals hat junge Wiener Opernfans an dieser Produktion der Gegensatz zur Staatsoperninszenierung gereizt und ihnen einen neuen Blick auf Puccini ermöglicht. Die Charaktere traten schärfer hervor, die existentielle Not der Figuren, in der Zeffirelli-Produktion von einer publikumsumschmeichelnden, romantisierenden Gefühlswelt übertüncht, wurden greifbar, Puccini wurde „entkitscht“ und „entidealisiert“. Harry Kupfers „Bohème“ war für Wiener Verhältnisse geradezu revolutionär. Vierzig Jahre später würde man aber auch Zeffirellis cineastischen Blick nicht missen mögen: Was die Jugend als Kitsch empfindet, gesellt sich dem Alter vielleicht als eine Form von Tröstung hinzu?

2022 hat die unter der Leitung von Lotte de Beer neu formierte Volksoperndirektion die Kupfer-Inszenierung wieder auf den Spielplan gesetzt. Angela Brandt, die viele Jahre mit Harry Kupfer zusammengearbeitet hat, betreute die Neueinstudierung. Gesungen wird seither auch an der Volksoper auf Italienisch: also „La bohème“. Laut Programmzettel wurde am 2. Jänner die 177. Vorstellung in dieser Inszenierung gegeben. Die Volksoper war sehr gut besucht, sogar die Sitzplätze auf der Galerie waren weitgehend ausgelastet.

Im Programmheft zur Wiederaufnahme wird Harry Kupfer mit dem Satz zitiert: „Wir zeigen, dass die Figuren ihr Schicksal selbst entscheiden.“ Dieser Satz ist vor allem auf Mimì gemünzt, die in Kupfers Sicht der Dinge die Begegnung mit Rodolfo absichtlich herbeiführt. Sie befindet schon während der ersten Szenen im Stiegenhaus, das links an die Künstlermansarde anschließt. Mimì verharrt an der Türe, Mimì belauscht die Künstler, Mimì möchte Rodolfo alleine antreffen. Und um nicht entdeckt zu werden, steigt sie schnell einen Stock empor, wenn jemand das Stiegenhaus betritt. Der Blick ins Stiegenhaus ermöglicht Kupfer nicht nur auflockernde Auf- und Abtritte, sondern symbolisiert den Blick hinter die Fassade menschlichen Tuns, Kupfer öffnet einen kleinen „Abgrund“, der sich aus den emotionalen Bedürfnissen der handelnden Personen nährt.

Wenn man es „literarisch“ definieren wollte, dann entspringt Zeffirellis Staatsopern-„Bohème“ noch mehr der Welt Balzacs, während Kupfer schon Zola gelesen hat. Außerdem hat Kupfer sein „La bohème“-Konzept aus der DDR nach Wien exportiert. (Keine zehn Jahre nach der Premiere war die DDR Geschichte – und inzwischen ist diese Produktion selbst zu einem „Zeitzeugen“ der europäischen Nachkriegsordnung mutiert und ihren durch die damalige politische Gespaltenheit Europas festgeschriebenen soziokulturellen „Verwerfungen“.) Es überrascht also nicht, wenn Kupfer – siehe Programmheft – anhand von „La bohème“ auch das Verhältnis der Kunstproduzenten (!) zu ihrer Kunst interessierte. Dass Rodolfo am Beginn sein mit Mühen und Plagen erstelltes Manuskript so selbstlos im Ofen verfeuert, hat Kupfer irritiert – und er entwickelte daraus die Meinung, dass sich dieser Herr zu wenig um die Durchsetzung seiner Kunst bemühe und sich gegenüber der Gesellschaft eher „asozial“ verhalte.

Die ganze Schärfe der Kupferschen Analyse bekommt das Publikum im dritten Bild serviert, wenn auf einer nahezu leeren Bühne (keine Spur von Schnee oder Lokalkolorit) Rodolfo in der Gegenwart der ihm heimlich zuhörenden Mimì seine Gewissensnöte offenbart. Rodolfo wird demaskiert, sein Selbstbetrug und seine emotionale Unreife werden entlarvt. Angesichts dieser „Entromantisierung“ sehnt man sich vielleicht doch wieder nach der Schneestimmung Zeffirellis zurück, nach diesem Winterdunst atmenden Paris einer längst vergangenen Epoche. Aber Kupfer geht im vierten Bild noch einen Schritt weiter, nach Mimìs letzten Worten wird ihre Figur „ausgeknipst“, wird sie samt Lehnstuhl, in dem sie verschmachtete, in Bühnendunkel getaucht. So wird Rodolfo von Kupfer des letzten Trostes beraubt, das Anlitz der eben verstorbenen Geliebten sehen zu dürfen.

Im zweiten Bild wird ein lusthausähnlicher Pavillon unter schmerzvollem Materialächzen vom Hintergrund auf die Bühne geschoben. Auf seinem kleinen Balkon produziert sich Musetta, zeigt ihre Beine aber viel zu freizügig – das Enthüllen ihrer Wade müsste der erotische Höhepunkt ihres Auftritts sein. Musettas Abgang zur Künstlergesellschaft über das kleine Vordach – sie lässt sich in die Tiefe gleiten und auffangen – ist ein glänzender Einfall der Personenregie. Im Vergleich hat Zeffirelli das schwarmähnliche Durchmischen von Menschenmassen allerdings eindrucksvoller realisiert als Kupfer. Zeffirelli ist es gelungen ein von Menschen durchwühltes Quartier Latin auf die Bühne zu stellen, wie aus einem Film kopiert; bei Kupfer sind Chor und Statisten etwas strenger geordnet, auch wenn der das Café Momus umrundende soldatische Musikzug das Bild mit viel Schwung beschließt – und der alte Herr, der begeistert mitläuft, kann als ironischer Seitenhieb auf ein militäraffines Bürgertum verstanden werden.

Die musikalische Umsetzung passte zu Kupfers „entromantisierender“ Weltsicht: Das Ergebnis war effektiv, und brachte die Geschichte auf den Punkt, aber ohne die Handlung mit sängerischem Schmelz oder süffigem Orchester sentimental abzufedern. Es war spannend, aber die Auszierung feinerer seelischer Gefühlsregungen hielt sich in Grenzen. Anett Fritsch hat die Mimì zum ersten Mal 2022 an der Volksoper gesungen. Sie besitzt einen hellen, klaren Sopran, gerade richtig für diese versachlichte Sicht der Dinge und kräftig genug bezogen auf die Größe des Hauses: eine Stimme, die auch im letzten Bild mit beeindruckender Gefasstheit die Erinnerung an das verlorene Liebesglück beschwören kann, ohne dabei sentimental zu werden.

Mit David Junghoon Kim stellte sich in dieser Aufführungsserie ein aufstrebender junger Tenor dem Wiener Publikum als Rodolfo vor. Er war von 2015 bis 2017 Mitglied des Jette Parker Young Artists Program am Royal Opera House in London. Britische Opernhäuser waren in Folge ein wichtiges Standbein seiner Karriere, zu einem zweiten hat sich die Staatsoper Stuttgart entwickelt. Im März wird er in Stuttgart den Don Carlos (französische Fassung!) singen. (Die Regie dieser aus dem Jahr 2019 stammenden Produktion stammt übrigens von Lotte de Beer.) David Junghoon Kim besitzt einen hellen Tenor mit Spintoanklängen, genährt von einem leicht metallischen „Squillo“ und guten Spitzentönen. In lyrischen Passagen klang mir die Stimme allerdings etwas einförmig, bei blasser Tiefe. Sein Rodolfo fügte sich sehr gut in den Rahmen dieser Produktion: ein junger, in seinen Gefühlen unausgewogener Kerl, der seine Leidenschaft nicht zurückhält.

Die Musetta der Lauren Urquhart fehlte es im Café Momus ein wenig an der Leichtgängigkeit bei den Spitzentönen; die Künstlerrunde war gesanglch gut aufgestellt, vor allem Andrei Bondarenko als kernigem Marcello. Das Orchester unter Aleander Joel bekräftigte die unmittelbare Wirkung von Harry Kupfers unsentimentalem Regiekonzept: eine spannender, kompakter Opernabend, aber kein Auslöser für selbstverliebte Tränen der Rührung. Ob sich das Publikum genau diese Tränen versprochen hat, das ist die Frage. Der Schlussapplaus war zuerst stark, aber nach vier Minuten war er schon wieder vorbei.