„Opernalltag“
(Dominik Troger)
Von
dem Staub, den die Saisoneröffnung der Staatsoper mit Anna Netrebko als
Mimì aufgewirbelt hat, war an diesem Abend nichts mehr spüren. Die
zweite Vorstellung der anstelle von „La Juive“ angesetzten
Aufführungsserie von „La Bohème” fühlte sich fast schon an wie
Opernalltag.
Diesen „Alltag“ konnte man auch am Besuch ablesen: Immer wieder
blitzten aus den gut gefüllten Reihen ein oder zwei leere Sitzplätze
hervor und der Stehplatz hätte noch mehr Besucher vertragen können.
Nachdem das „Publikumsvoting“ am Montag eindeutig für Netrebko gestimmt
hat, ist auch klargestellt, dass Kunst und Moral zwei paar Schuhe sind,
die man eigentlich ohne Probleme auseinanderhalten könnte, wenn man nur
wollte. Anna Netrebko wird noch zwei Vorstellungen von „La Bohème”
singen und beide Vorstellungen sind laut Staatsopern-Homepage
ausverkauft. (Netrebko hat die Rolle eigentlich schon vor ein paar
Jahren „ad acta“ gelegt; Operabase listet ihre letzte Mimì im Jahr
2015.)
An diesem Abend gab Eleonora Buratto
ihr Wiener Rollendebüt als Mimì – und es mag ungerecht sein, dass hier
trotzdem zuerst wieder von Anna Netrebko die Rede war. Buratto ließ
einen schlankeren, heller timbrierten Sopran als Netrebko hören, dessen
„Silber“ sich in dramatischen Passagen schon zu kühlen Spinto-Anklängen
verfestigte. Im ersten Bild agierte sie mit einer koketten Naivität,
von der man nicht genau wusste, ob sie echt ist oder eine List, um
Rodolfo herumzukriegen. Im dritten Bild gesellte sich passend eine
kreatürliche Verzweiflung hinzu, in der Todesahnung und verlorene Liebe
kulminieren – und im vierten Bild versetzte sie das Publikum in die
erwartete Betroffenheit. Beim Einzelvorhang wurde sie mit starkem
Beifall und vielen Bravorufen bedacht.
Vittorio Grigolo wirkte
an diesem Abend nicht ganz so „übermotiviert“ wie in der ersten
Vorstellung. Sein Tenor ist kein Beispiel für ausgefeilte
Gesangskultur, aber es gelingt ihm, den überspannten, jungen,
verliebten und eifersüchtigen Poeten mit unmittelbarer
Überzeugungskraft auf die Bühne zu stellen. Sein Schmerzensausbruch im
Finale geht unter die Haut. Bei Grigolo scheinen echte Empfindung und
Outrage nur durch Haaresbreite getrennt – und wenn er beim
Einzelvorhang mit hinaufgerissenen Armen auf die Bühne stürmt wie ein
siegreicher Wettkämpfer, rechnet man schnell wieder der Übertreibung
zu, was doch auch einer echt fühlenden Künstlerseele entsprungen sein
könnte.
Das eigentliche „Kraftzentrum“ der Aufführung waren die vier
Künstlerfreunde, in der ersten Vorstellung vom Hype um Anna Netrebko
etwas überdeckt. Spielfreudig und -witzig wurde von ihnen das Leben in
der Mansarde ausformuliert, bis zum traurigen Ende. Neben dem bereits
gewürdigten Rodolfo waren auch seine Mitstreiter als individuelle
Charaktere gestaltet: vom gutmütig-gemütlichen mit weichem Bariton
unterlegten Marcello des George Petean über den Schaunard von Martin Häßler bis zu Günther Groissböcks
Colline, der dem treuherzigen Marcello einen leicht überheblich
wirkenden, mit der großen Politik liebäugelnden Philosophen gegenüber
stellte. Zu oft wurden und werden diese Partien im Repertoire zu
lieblos besetzt – und mit George Petean und Günther Groissböck hat die
Staatsoper diesmal auch Sänger von Weltformat aufgeboten.
Nina Minasyan wirkte als Musetta im zweiten Bild inspirierter als am Montag, Marcus Pelz steuerte als Benoit/Alcindor eine gute Mischung aus Selbstironie und Komödiantik bei. Auch Bertrand de Billy
und das Orchester agierten mit mehr Schwung, was den Szenen rund um das
Café Momus insgesamt gut tat. De Billy betonte mehr die scharfen
Akzente – die Orchesteraufwallung am Schluss nach Marcellos „Corragio“
schnitt einem fest ins Seelenfleisch, veristisch zugespitzt, eine
mögliche „Verkitschung“ konsequent vermeidend. Dieser Zugang färbte
auch aufs Klangbild ab, das sich etwas grob, etwas laut gestaltete. Die
zur Genüge bekannte Inszenierung von Franco Zeffirelli ist ein
Dauerbrenner und das wird hoffentlich noch lange der Fall sein. Der
Schlussapplaus dauerte rund sechs Minuten lang.
In der Pause machte das Ableben von Queen Elizabeth II. die Runde. Bei
der Krönung der Monarchin im Jahr 1952 spielte die Staatsoper noch im
Ausweichquartier des Theaters an der Wien. Die Besetzungszettel von
damals lesen sich wie Seiten längst vergangener Chroniken. So werden
auch für Nachgeborene historische Zeiträume erfahrbar.
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