LA BOHÈME

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Staatsoper
8. September 2022

Dirigent: Bertrand de Billy

Rodolfo - Vittorio Grigolo
Mimì - Eleonora Buratto
Marcello - George Petean
Schaunard - Martin Häßler
Colline - Günther Groissböck
Musetta - Nina Minasyan
Benoit / Alcindoro - Marcus Pelz
Parpignol - Martin Müller
Sergeant - Liviu Burz
Zollwächter - Slaven Abazovic
Obstverkäufer - Dimo Georgiev


„Opernalltag“

(Dominik Troger)

Von dem Staub, den die Saisoneröffnung der Staatsoper mit Anna Netrebko als Mimì aufgewirbelt hat, war an diesem Abend nichts mehr spüren. Die zweite Vorstellung der anstelle von „La Juive“ angesetzten Aufführungsserie von „La Bohème” fühlte sich fast schon an wie Opernalltag.

Diesen „Alltag“ konnte man auch am Besuch ablesen: Immer wieder blitzten aus den gut gefüllten Reihen ein oder zwei leere Sitzplätze hervor und der Stehplatz hätte noch mehr Besucher vertragen können. Nachdem das „Publikumsvoting“ am Montag eindeutig für Netrebko gestimmt hat, ist auch klargestellt, dass Kunst und Moral zwei paar Schuhe sind, die man eigentlich ohne Probleme auseinanderhalten könnte, wenn man nur wollte. Anna Netrebko wird noch zwei Vorstellungen von „La Bohème” singen und beide Vorstellungen sind laut Staatsopern-Homepage ausverkauft. (Netrebko hat die Rolle eigentlich schon vor ein paar Jahren „ad acta“ gelegt; Operabase listet ihre letzte Mimì im Jahr 2015.)

An diesem Abend gab Eleonora Buratto ihr Wiener Rollendebüt als Mimì – und es mag ungerecht sein, dass hier trotzdem zuerst wieder von Anna Netrebko die Rede war. Buratto ließ einen schlankeren, heller timbrierten Sopran als Netrebko hören, dessen „Silber“ sich in dramatischen Passagen schon zu kühlen Spinto-Anklängen verfestigte. Im ersten Bild agierte sie mit einer koketten Naivität, von der man nicht genau wusste, ob sie echt ist oder eine List, um Rodolfo herumzukriegen. Im dritten Bild gesellte sich passend eine kreatürliche Verzweiflung hinzu, in der Todesahnung und verlorene Liebe kulminieren – und im vierten Bild versetzte sie das Publikum in die erwartete Betroffenheit. Beim Einzelvorhang wurde sie mit starkem Beifall und vielen Bravorufen bedacht.

Vittorio Grigolo wirkte an diesem Abend nicht ganz so „übermotiviert“ wie in der ersten Vorstellung. Sein Tenor ist kein Beispiel für ausgefeilte Gesangskultur, aber es gelingt ihm, den überspannten, jungen, verliebten und  eifersüchtigen Poeten mit unmittelbarer Überzeugungskraft auf die Bühne zu stellen. Sein Schmerzensausbruch im Finale geht unter die Haut. Bei Grigolo scheinen echte Empfindung und Outrage nur durch Haaresbreite getrennt – und wenn er beim Einzelvorhang mit hinaufgerissenen Armen auf die Bühne stürmt wie ein siegreicher Wettkämpfer, rechnet man schnell wieder der Übertreibung zu, was doch auch einer echt fühlenden Künstlerseele entsprungen sein könnte.

Das eigentliche „Kraftzentrum“ der Aufführung waren die vier Künstlerfreunde, in der ersten Vorstellung vom Hype um Anna Netrebko etwas überdeckt. Spielfreudig und -witzig wurde von ihnen das Leben in der Mansarde ausformuliert, bis zum traurigen Ende. Neben dem bereits gewürdigten Rodolfo waren auch seine Mitstreiter als individuelle Charaktere gestaltet: vom gutmütig-gemütlichen mit weichem Bariton unterlegten Marcello  des George Petean über den Schaunard von Martin Häßler bis zu Günther Groissböcks Colline, der dem treuherzigen Marcello einen leicht überheblich wirkenden, mit der großen Politik liebäugelnden Philosophen gegenüber stellte. Zu oft wurden und werden diese Partien im Repertoire zu lieblos besetzt – und mit George Petean und Günther Groissböck hat die Staatsoper diesmal auch Sänger von Weltformat aufgeboten.

Nina Minasyan wirkte als Musetta im zweiten Bild inspirierter als am Montag, Marcus Pelz steuerte als Benoit/Alcindor eine gute Mischung aus Selbstironie und Komödiantik bei. Auch Bertrand de Billy und das Orchester agierten mit mehr Schwung, was den Szenen rund um das Café Momus insgesamt gut tat. De Billy betonte mehr die scharfen Akzente – die Orchesteraufwallung am Schluss nach Marcellos „Corragio“ schnitt einem fest ins Seelenfleisch, veristisch zugespitzt, eine mögliche „Verkitschung“ konsequent vermeidend. Dieser Zugang färbte auch aufs Klangbild ab, das sich etwas grob, etwas laut gestaltete. Die zur Genüge bekannte Inszenierung von Franco Zeffirelli ist ein Dauerbrenner und das wird hoffentlich noch lange der Fall sein. Der Schlussapplaus dauerte rund sechs Minuten lang.

In der Pause machte das Ableben von Queen Elizabeth II. die Runde. Bei der Krönung der Monarchin im Jahr 1952 spielte die Staatsoper noch im Ausweichquartier des Theaters an der Wien. Die Besetzungszettel von damals lesen sich wie Seiten längst vergangener Chroniken. So werden auch für Nachgeborene historische Zeiträume erfahrbar.