LA BOHÈME

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Staatsoper
5. September 2022

Dirigent: Bertrand de Billy

Rodolfo - Vittorio Grigolo
Mimì - Anna Netrebko
Marcello - George Petean
Schaunard - Martin Häßler
Colline - Günther Groissböck
Musetta - Nina Minasyan
Benoit / Alcindoro - Marcus Pelz
Parpignol - Martin Müller
Sergeant - Liviu Burz
Zollwächter - Slaven Abazovic
Obstverkäufer - Dimo Georgiev


„Saisonstart mit Aufregungen“

(Dominik Troger)

„La Bohème” statt „La Juive“: Nachdem der geplanten Wiederaufnahme von „La Juive“ krankheitsbedingt keine zwei Wochen vor Saisonstart die beiden Hauptpersonen abhanden gekommen waren, hat die Staatsoperndirektion kurzfristig eine attraktive Alternative aus dem Hut gezaubert:  Anna Netrebko wurde als Mimì engagiert.

Eigentlich hat der Wiener Staatsoper nichts Besserer passieren können: Anna Netrebko als Mimì garantiert volle Kassen und maximale mediale Aufmerksamkeit.  Die öffentliche Strahlkraft einer Wiederaufnahme von Jacques Fromental Halévys Meisterwerk ist hingegen überschaubar: ein viel schwerer zu vermarktender opernhistorischer Ausflug für Liebhaber. Aber so eine  Netrebko-„La Bohème”-Show kann sogar den Ticket-Server der Staatsoper zum Aufgeben zwingen.

Das neue Online-Bestellsystem der Staatsoper ist in der Usability ohnehin ein Rückschritt im Vergleich zum jahrelang verwendeten System von culturall. Auch das mit dem Online-Stehplatz-Bestellen am Vortag der Aufführung ab 10 Uhr hat nur mit „Bauchweh“ funktioniert. (Und am nächsten Tag beim Vorverkauf für die „Carmen“ gab es offenbar wieder Probleme). Nicht nur die eigene Erfahrung berichtet von 20-minütigen Wartezeiten, bis man endlich im Besitz eines Tickets war – und dabei hatte man offensichtlich noch Glück, wenn letztlich alles funktioniert hat.

Für das Stammpublikum dürften außerdem zu wenige Stehplätze in den Onlineverkauf kommen, um für nachgefragte Vorstellungen auszureichen. Das Stehplatzangebot wurde außerdem um über 100 Plätze reduziert. Auf der aktuellen Staatsoper-Homepage wird vermerkt, dass Haus verfüge über 435 Stehplätze, in der Vorsaison und in all den Jahren davor waren es aber weit über 500. Es handelt sich dabei um eine künstliche (!) Verknappung mit dem Argument, dadurch den „Stehplatzlern“ mehr Raum und damit mehr Bequemlichkeit zu verschaffen. Aber wer geht auf den Stehplatz, um es „bequem“ zu haben? 

Auch die massive touristische Nutzung des Stehplatzes ist bei den stark erhöhten Preisen (für alle, die keine Bundestheatercard besitzen) kein Argument, denn diese sind genauso leidtragende dieser von der Direktion gewollten Reduktion, die schon griffigere Gründe haben müsste, als die genannten, um schlüssig zu sein. Die Stehplätze sind mit Beginn dieser Saison außerdem nummeriert. Das hat Vor- und Nachteile, widerspricht aber der lang geübten Praxis und dem über Jahrzehnte gepflegten „Ethos“ des Wiener Stehplatzes.  Anstatt beim Stehplatz herumzudoktern sollte man lieber keine Besucher mit Kleinkindern ins Haus lassen, die dann während der Vorstellung ihren Unmut kundtun, weil sie von ihren Eltern gegen ihren Willen in die Oper geschleppt worden sind. Vor der Pause wurde die Aufführung mehrmals dadurch gestört, auch am Beginn von Rodolfos berühmter Arie hörte man von der Galerie deutlich artikuliertes kindliches Missbehagen.


Aber noch nicht genug der Aufregungen: Vor dem Haus wurde von keinen 50 Personen gegen den Staatsopernauftritt von Anna Netrebko protestiert – und gegen „russische Kultur“ im Allgemeinen: z.B. zeigte ein rotes Plakat mit der Aufschrift (in Blockbuchstaben) „Russian Culture“ schwarze Silhouetten von Balletttänzerinnen, die auf einer Maschinenpistole tanzen. Im Haus gab es für die derart befehdete Sängerin aber Auftrittsapplaus und ein paar Buhrufe als Antwort, ein paar Sekunden lang wogte ein ungleicher Streit der Meinungen, aber schlussendlich konnte Anna Netrebko den Abend als vollen Erfolg verbuchen – und das Wiener Publikum geizte nicht mit Ovationen.

Die Aufführung selbst begann mit grellem, zu lautem Orchester, einem noch nicht auf höchstem Niveau singenden, sich aber im Laufe der Vorstellung zu gewohnter Form steigernden Marcello (George Petean), und einem Tenor, der gleich klar machte, das bei ihm Herz und Schmerz auf der Zunge liegen: Vittorio Grigolo nahm mit seiner leicht baritonal gefärbten, etwas gerauten Stimme manchmal schon zu einsatzfreudig das Match mit dem Orchester und seiner Mimì auf. Grigolo „umarmte“ mit seinem Singen Mitwirkende und das Publikum und frönte einer gesanglichen und darstellerischen Theatralik, die dann überraschender Weise doch nicht wie outriert wirkte. Er war Anna Netrebko letztlich ein gleichwertiger Bühnenpartner, auch wenn er stimmlich von ihr überflügelt wurde.

Anna Netrebkos letzte Wiener Mimì  liegt über 10 Jahre zurück (nur zwei Vorstellungen), trotzdem segelte sie an diesem Abend auf Puccinis Musik wie eh und je in mitreißender Emphase dahin. Vielleicht gestaltet sich ihr Rollenporträt heutzutage etwas Pathetischer als damals, aber sie kann ihre Stimme immer noch weich zurücknehmen, um das Schicksal des einfachen Mädchens in die erotischen Gluten ihres Rotwein-Timbres tauchen. Als zartbesaitete „Milieustudie“ taugt ihre Rollenauffassung glücklicherweise nicht, sondern die Sängerin serviert stimmlich prallgefülltes Opernglück. Ihr Sopran zeigte im Forte manchmal zwar mal schon einen Hauch von „Kante“, aber noch überwiegt bei weitem der angenehme, berauschende Sättigungsgrad dieser Stimme, was ihr zusammen mit dem klug kalkulierten Einsatz ihrer Mittel an diesem Abend zum allgemeinen Genuss einen gelungenen „Ausflug“ in einen früheren Abschnitt ihrer Karriere ermöglicht hat.

Günther Groissböck hat als Colline wahrscheinlich in Deutschland Philosophie studiert und tönte mächtig die Mantelarie im letzten Bild, wofür er mit Szenenapplaus bedacht wurde. Martin Häßler rundete als Chaunard den Freundeskreis und setzte einige Akzente, wo es ihm der Komponist gestattete. Markus Pelz steuerte die beiden komischen Figuren Benoit / Alcindoro bei. Weniger anfreunden konnte ich mich mit Nina Minasyan als Musetta. Ihr Auftritt im Café Momus hätte sich viel prickelnder gestalten können. Aber auch das Orchester unter dem bewährten Bertrand de Billy ließ im zweiten Bild sektlaunige „Spritzigkeit“ vermissen. Seine Lesart war etwas spröde und (zu) laut, bei einem leichten Hang zum Verschleppen. Aber in Summe ergab sich trotz der gemachten Einwände ein gelungener Saisonstart, zu dem die Uralt-Inszenierung von Franco Zeffirelli ebenso einen wichtigen Beitrag leistete.
Der starke Schlussapplaus dauerte rund 12 Minuten lang. Die Netrebko-Skeptiker hatten nicht den Funken einer Chance dagegenzuhalten, auch wenn sie kurz versuchten, sich Gehör zu verschaffen.

PS: Die Karten werden jetzt auch an der Staatsoper beim Eintritt QR-Code gescannt. Und wer sich auf einen lauschigen Pausenflanierer auf der Terrasse gefreut hat, freute sich umsonst: Sie ist wegen Bauarbeiten geschlossen.