„Saisonstart mit Aufregungen“
(Dominik Troger)
„La
Bohème” statt „La Juive“: Nachdem der geplanten Wiederaufnahme von „La
Juive“ krankheitsbedingt keine zwei Wochen vor Saisonstart die beiden
Hauptpersonen abhanden gekommen waren, hat die Staatsoperndirektion
kurzfristig eine attraktive Alternative aus dem Hut gezaubert:
Anna Netrebko wurde als Mimì engagiert.
Eigentlich hat der Wiener Staatsoper nichts Besserer passieren können:
Anna Netrebko als Mimì garantiert volle Kassen und maximale mediale
Aufmerksamkeit. Die öffentliche Strahlkraft einer Wiederaufnahme
von Jacques Fromental Halévys Meisterwerk ist hingegen überschaubar:
ein viel schwerer zu vermarktender opernhistorischer Ausflug für
Liebhaber. Aber so eine Netrebko-„La Bohème”-Show kann sogar den
Ticket-Server der Staatsoper zum Aufgeben zwingen.
Das neue Online-Bestellsystem der Staatsoper ist in der Usability
ohnehin ein Rückschritt im Vergleich zum jahrelang verwendeten System
von culturall. Auch das mit dem Online-Stehplatz-Bestellen am Vortag
der Aufführung ab 10 Uhr hat nur mit „Bauchweh“ funktioniert. (Und am
nächsten Tag beim Vorverkauf für die „Carmen“ gab es offenbar wieder
Probleme). Nicht nur die eigene Erfahrung berichtet von 20-minütigen
Wartezeiten, bis man endlich im Besitz eines Tickets war – und dabei
hatte man offensichtlich noch Glück, wenn letztlich alles funktioniert
hat.
Für
das Stammpublikum dürften außerdem zu wenige Stehplätze in den
Onlineverkauf kommen, um für nachgefragte Vorstellungen auszureichen.
Das Stehplatzangebot wurde außerdem um
über 100 Plätze reduziert. Auf der aktuellen Staatsoper-Homepage wird
vermerkt, dass Haus verfüge über 435 Stehplätze, in der Vorsaison und
in all den Jahren davor waren es aber weit über 500. Es handelt sich
dabei um eine künstliche (!) Verknappung mit dem Argument, dadurch den
„Stehplatzlern“ mehr Raum und damit mehr Bequemlichkeit zu verschaffen.
Aber wer geht auf den Stehplatz, um es „bequem“ zu haben?
Auch die massive touristische Nutzung des Stehplatzes ist bei den stark
erhöhten Preisen (für alle, die keine Bundestheatercard besitzen) kein
Argument, denn diese sind genauso leidtragende dieser von der Direktion
gewollten Reduktion, die schon griffigere Gründe haben müsste, als die
genannten, um schlüssig zu sein. Die Stehplätze sind mit Beginn dieser
Saison außerdem nummeriert. Das hat Vor- und Nachteile, widerspricht
aber der lang geübten Praxis und dem über Jahrzehnte gepflegten „Ethos“
des Wiener Stehplatzes. Anstatt beim Stehplatz herumzudoktern
sollte man lieber keine Besucher mit Kleinkindern ins Haus lassen, die
dann während der Vorstellung ihren Unmut kundtun, weil sie von
ihren Eltern gegen ihren Willen in die Oper geschleppt worden sind. Vor
der Pause wurde die Aufführung mehrmals dadurch gestört, auch am Beginn
von Rodolfos berühmter Arie hörte man von der Galerie deutlich
artikuliertes kindliches Missbehagen.
Aber noch nicht genug der Aufregungen: Vor dem Haus wurde von keinen 50
Personen gegen den Staatsopernauftritt von Anna Netrebko protestiert –
und gegen „russische Kultur“ im Allgemeinen: z.B. zeigte ein rotes
Plakat mit der Aufschrift (in Blockbuchstaben) „Russian Culture“
schwarze Silhouetten von Balletttänzerinnen, die auf einer
Maschinenpistole tanzen. Im Haus gab es für die derart befehdete
Sängerin aber Auftrittsapplaus und ein paar Buhrufe als Antwort, ein
paar Sekunden lang wogte ein ungleicher Streit der Meinungen, aber
schlussendlich konnte Anna Netrebko den Abend als vollen Erfolg
verbuchen – und das Wiener Publikum geizte nicht mit Ovationen.
Die Aufführung selbst begann mit grellem, zu lautem Orchester, einem
noch nicht auf höchstem Niveau singenden, sich aber im Laufe der
Vorstellung zu gewohnter Form steigernden Marcello (George Petean), und einem Tenor, der gleich klar machte, das bei ihm Herz und Schmerz auf der Zunge liegen: Vittorio Grigolo
nahm mit seiner leicht baritonal gefärbten, etwas gerauten Stimme manchmal schon zu
einsatzfreudig das Match mit dem Orchester und seiner Mimì auf. Grigolo
„umarmte“ mit seinem Singen Mitwirkende und das Publikum und frönte
einer gesanglichen und darstellerischen Theatralik, die dann
überraschender Weise doch nicht wie outriert wirkte. Er war Anna
Netrebko letztlich ein gleichwertiger Bühnenpartner, auch wenn er
stimmlich von ihr überflügelt wurde.
Anna Netrebkos letzte
Wiener Mimì liegt über 10 Jahre zurück (nur zwei Vorstellungen),
trotzdem segelte sie an diesem Abend auf Puccinis Musik wie eh und je
in mitreißender Emphase dahin. Vielleicht gestaltet sich ihr
Rollenporträt heutzutage etwas Pathetischer als damals, aber sie kann
ihre Stimme immer noch weich zurücknehmen, um das Schicksal des
einfachen Mädchens in die erotischen Gluten ihres Rotwein-Timbres
tauchen. Als zartbesaitete „Milieustudie“ taugt ihre Rollenauffassung
glücklicherweise nicht, sondern die Sängerin serviert stimmlich
prallgefülltes Opernglück. Ihr Sopran zeigte im Forte manchmal zwar mal
schon einen Hauch von „Kante“, aber noch überwiegt bei weitem der
angenehme, berauschende Sättigungsgrad dieser Stimme, was ihr zusammen
mit dem klug kalkulierten Einsatz ihrer Mittel an diesem Abend zum
allgemeinen Genuss einen gelungenen „Ausflug“ in einen früheren
Abschnitt ihrer Karriere ermöglicht hat.
Günther Groissböck hat
als Colline wahrscheinlich in Deutschland Philosophie studiert und
tönte mächtig die Mantelarie im letzten Bild, wofür er mit
Szenenapplaus bedacht wurde. Martin Häßler rundete als Chaunard den Freundeskreis und setzte einige Akzente, wo es ihm der Komponist gestattete. Markus Pelz steuerte die beiden komischen Figuren Benoit / Alcindoro bei. Weniger anfreunden konnte ich mich mit Nina Minasyan als
Musetta. Ihr Auftritt im Café Momus hätte sich viel prickelnder
gestalten können. Aber auch das Orchester unter dem bewährten Bertrand de Billy ließ
im zweiten Bild sektlaunige „Spritzigkeit“ vermissen. Seine Lesart war
etwas spröde und (zu) laut, bei einem leichten Hang zum Verschleppen.
Aber in Summe ergab sich trotz der gemachten Einwände ein gelungener
Saisonstart, zu dem die Uralt-Inszenierung von Franco Zeffirelli ebenso
einen wichtigen Beitrag leistete. Der
starke Schlussapplaus dauerte rund 12 Minuten lang. Die
Netrebko-Skeptiker hatten nicht den Funken einer Chance
dagegenzuhalten, auch wenn sie kurz versuchten, sich Gehör zu
verschaffen.
PS: Die Karten werden jetzt auch an der Staatsoper beim Eintritt
QR-Code gescannt. Und wer sich auf einen lauschigen Pausenflanierer auf
der Terrasse gefreut hat, freute sich umsonst: Sie ist wegen
Bauarbeiten geschlossen.
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