BORIS GODUNOW
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Wiener Staatsoper
28.9.2012


Dirigent: Tugan Sokhiev

Chor der Wiener Staatsoper und
Slowakischer Philharmonischer Chor

Boris Godunow - Ferruccio Furlanetto
Fjodor - Margarita Gritskova
Xenia - Chen Reiss
Amme - Aura Twarowska
Schuiski - Jorma Silvasti
Schtschelkalow - Clemens Unterreiner
Pimen - Ain Anger
Grigori Otrepjew - Marian Talaba
Warlaam - Janusz Monarcha
Missail - Benedikt Kobel
Schenkenwirtin - Monika Bohinec
Hauptmann - Alfred Sramek
Gottesnarr - Peter Jelosits
Nikititsch - Alexandru Moisiuc
Leibbojar - Roman Lauder
Mitjuch - Marcus Pelz


Boris Godunow in der Urfassung

(Dominik Troger)

„Boris Godunow“ ist ein „Work in Progress“. Die Wiener Staatsoper spielt seit letzter Saison die Oper in der Urfassung, ohne Polenakt und Revolutionsbild – die bei der Premiere 2007 noch berücksichtigt worden waren.

Was 2007 rund vier Stunden – inklusive einer Pause währte – dauert jetzt knappe zweieinhalb Stunden lang – ohne Pause. Schon zu Lebzeiten hat Modest Mussorgski für einige Fassungen seines Werkes gesorgt, nach seinem Tod kamen noch ein paar hinzu. Viele Jahre spielte man die Oper in der episch-romantischen Ausformung von Rimski-Korsakow, aber die gilt inzwischen als „uncool“.

Die Urfassung, die man jetzt präsentiert, ist viel „moderner“ in der Klangsprache und besitzt einen fast fragmentarischen Charakter. Dieser „Boris Godunow“ könnte das Werk eines russischen Komponisten späterer Jahrzehnte sein. Das klar formulierte, unerbittliche Spiel des Staatsopernorchesters unter Tugan Sokhiev verstärkte diesen Eindruck noch: Mussorgski als Komponist des 20. Jahrhunderts, entromantisiert, kompositorisch effizient und mit harten Kanten versehen.

Die Urfassung hat aber einen gravierenden Nachteil: Während die Bilderfolge um den von Gewissensbissen gequälten Zaren konsequent dem erschütternden Ende zustrebt, wird der mit zwei Szenen aufwendig installierte Handlungsstrang, den Mussorgski um Grigori (den falschen Dimitri) aufgebaut hat, nicht weiter verfolgt. Zumindest die Szene im Wald von Kromy, in der die Massen Grigori zujubeln, ist als letztes Bild der Oper dramaturgisch logisch – aber eben nicht Bestandteil der Urfassung von 1869, sondern einer erweiterten Fassung von 1872.

In der jetzt gespielten Urfassung fehlt der Oper die Balance zwischen dem Schicksal des Boris und dem seines Gegenspielers. Das historische Tableau kann sich nicht entfalten. Zudem wird die Bedeutung des Volkes als anarchischer Antreiber der russischen Geschichte reduziert. Die finale Klage des Gottesnarren formuliert im Schlussbild von 1872 düster die geschichtsphilosophischen Implikationen des Werkes, so als handele es sich um die von Mussorgski gedeutete Quintessenz der Pimen’schen Chronik.

Allerdings rückt die Figur des Boris dadurch stärker ins Zentrum und gewinnt an menschlicher Tiefe – vor allem auch, wenn Ferruccio Furlanetto (die Premierenbesetzung als Einspringer!) dieser Figur in exemplarischer Weise sein sängerisches und schauspielerisches Engagement zu Teil werden lässt. Dann beherrschen Eindringlichkeit und Überzeugungskraft diese Figur, an der Furlanetto stark die psychologischen Aspekte und weniger das Herrschercharisma herausgestrichen hat. Furlanettos Boris ist mehr „privater Natur“, der Konflikt zwischen öffentlicher Machtausübung und schleichendem, aus Schuldgefühlen gespeistem Wahn, scheint weniger im Zentrum zu stehen. In der Urfassung, in der der historische Prozess weniger konturiert herausgearbeitet ist, gewinnt diese Art der Darstellung aber deutlich. Furlanetto setzte die Partie sehr energiegeladen, stimmmächtig und kompromisslos um, was – dem Schlussbeifall beim Solovorhang für Furlanetto nach zu schließen – nicht nur mir tief „unter die Haut“ ging.

Die Vorstellung hinterließ insgesamt einen sehr kompakten Eindruck mit einem stark „realistischen Zug“. Das liegt auch an der Inszenierung von Yannis Kokkos, der das Stück in der Endphase des Kommunismus verortet hat. Die riesige (Lenin?)-Statue links, von der man nur den Rücken sieht, lag im ursprünglich am Schluss gegebenen Revolutionsbild im Wald bei Krosny gestürzt am Boden. Weil dieses Bild aber nicht mehr gespielt wird, fehlt der Inszenierung jetzt die eigentliche Pointe.

Das Ensemble und der Chor überzeugten. Ain Anger gab einen schönstimmigen Pimen voll Kraft und Saft – ein sehr jugendlicher Greis. Marian Talabas Tenor ist im slawischen Fach deutlich besser aufgehoben, wovon man sich an diesem Abend wieder einmal überzeugen konnte. Jorma Silvasti gab den Schuiskij als „Manager der Gewalt“ mit bedrohlich wirkender Zurückhaltung. Aber auch die vielen „Nebenrollen“ waren gut besetzt, von der Xenia der Chen Reiss, über den Andreej Schtschelkalow des Clemens Unterreiner bis zum Gottesnarren des Peter Jelosits – um nur einige Beispiele zu nennen.

Fazit: Eine gelungene Aufführung. Aber ob die Urfassung der Weisheit letzter Schluss ist, wird die Zukunft zeigen. Eine Pause würde dem Abend allerdings nicht schaden – aber dann könnte man gleich wieder auf die Fassung der Staatsopern-Premiere von 2007 mit Polenakt und Revolutionsbild umstellen.