BORIS GODUNOW
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Wiener Staatsoper
1.6.2007
(Premiere 28.5.07)

Dirigent: Daniele Gatti

Inszenierung und Ausstattung: Yannis Kokkos

Orchester der Wiener Staatsoper
Chor der Wiener Staatsoper
Slowakischer Philharmonischer Chor

Boris Godunow - Ferruccio Furlanetto
Fjodor - Michaela Selinger
Xenia - Laura Tatulescu
Amme - Margareta Hintermeier
Schuiski - Jorma Silvasti
Schtschelkalow - Adrian Eröd
Pimen - Robert Holl
Grigori Otrepjew - Marian Talaba
Marina - Nadia Krasteva
Warlaam - Ain Anger
Missail - Peter Jelosits
Schenkenwirtin - Janina Baechle
Hauptmann - Alfred Sramek
Rangoni - Falk Struckmann
Gottesnarr - Heinz Zednik
Nikititsch - Alexandru Moisiuc
Leibbojar - Jacek Kryszkowski
Lowitzki - Marcus Pelz
Tschernjakowski - Johannes Wiedecke
Chruschtschow - Dritan Luca
Mitjuch - Clemens Unterreiner


Kein Fest für Boris?

(Dominik Troger)

An frühere Staatsopern-Aufführungen von Mussorgskis großem Panorama russischer Geschichte reicht diese Neuproduktion nicht heran. Das Ergebnis entspricht weder dem künstlerischen Potential des Werkes noch dem der Ausführenden.

Ferruccio Furlanetto betont bei seiner Darstellung des Boris die seelische Verletzbarkeit und Verzweiflung der Hauptfigur. Furlanetto fordert als Boris kein Herrschertum ein – er ist „nur“ ein kranker Mensch, der einem Wahn verfällt und dem Skrupel im Nacken sitzen. Seine Darstellung erweckt keine achtungsgebietende Ehrfurcht, die das Verhältnis von absoluten Herrschern zu ihren Untertanen bestimmt. Das Schicksal des Boris ist aber keine Privatangelegenheit wie das Hüsteln einer Traviata, sondern es ist eingebettet in ein historisches Geschehen und auch gleichnishaft für bestimmte Konstellationen politischer Machtausübung. Mag sein, dass es Furlanetto schon aufgrund seines Timbres ein wenig ins Sentimentale zieht, aber er gerät dadurch auch gegenüber den schroffen Klängen, mit denen Mussorgski seine historische Szenenfolge hinterlegt hat, leicht in die Defensive. Und so bleibt sein Bühnentod ohne diesen Schrecken, der wie Weltuntergangsstimmung für kurze Zeit den Horizont verdüstert...

Es ist für die gesamte Produktion symptomatisch: weder die Inszenierung noch die musikalische Leitung entwickeln ein Gespür für die mögliche Wirkungskraft dieser historischen Tableaus, aus denen Mussorgski sein düsteres Geschichtsbild meißelt, das vom rußigen Kerzenrauch eines orthodoxen Christentums in mystisches Dunkel getaucht wird. Boris als Mensch ist zugleich Gallionsfigur des politischen Kampfes um Macht und Herrschaft – und die einzelnen Szenen, so anekdotenhaft sie sein mögen, können als Abschnitte einer Chronik gelesen werden, die ein Mönch im Kloster verfasst hat. Das Einzelschicksal ist nur ein Kommen und Gehen, ein beständiges Ringen im Spiel übergeordneter Kräfte: der zeitverhafteten Geschichte und der zeitlosen Religion. In Pimen, dem Chronisten als „Geschichtssachverständigen“, zugleich Mönch als „Anwalt göttlicher Ewigkeitsansprüche“, wird eine positive Verknüpfung dieser beiden Kräfte angedeutet, der auch das Volk in unbestimmter Sehnsucht immer wieder Ausdruck verleiht, trotz des Barbarentums, dem es anhängt (und in dem es die Mächtigen bewusst belassen). Ein neuer Zar soll immer auch Erlöser sein!

Daniele Gatti zeichnet mit dem Orchester allerdings einzig die karge, rissige Fratze einer sich ständig wiederholenden, aggressiven Hoffnungslosigkeit. Mit spröden Klängen, die emotionale Schattierungen nur als dynamische Unterschiede begreifen, färbelt er den Abend in ein einheitliches Grau, das nicht einmal im Polenakt Grigoris Liebe in heißblütigere, sehnsuchtsvollere Farben taucht. Die einzelnen Bilder, die musikalisch durchaus unterschiedlich gestaltet sind, leiden stark unter dieser Vereinheitlichung und verlieren viel von ihrem spezifischem Charakter. Zugleich wirkt vieles bruchstückhaft, die Chöre beispielsweise formen sich nicht zur begehrenden, suggestiven Masse, wirken in ihrem Aufschreien mehr vereinzelt und verstört. Nach und nach entwickelt sich das Bild einer durchgehenden Depression, die in ruhigeren Passagen in ermüdende Antriebslosigkeit übergeht bis sie sich dann wieder lautstark und mit gezielten Schlägen gegen die Magengrube meldet. Hoffnung scheint es hier keine mehr zu geben – und das wird zäh bis zur Erschöpfung durchgezogen. Dieser Punkt ist meiner Meinung nach unabhängig von der gewählten Fassung zu sehen (wobei das Original – im Gegensatz zur Bearbeitung von Rimski-Korsakow – musikalisch um einiges schärfer akzentuiert ist). Daniele Gatti hat für Wien eine eigene Version nach Mussorgkis Originalfassungen hergestellt sowie ein paar Striche angebracht. Details kann man dem Programmheft zur Aufführung entnehmen.

Im Gegensatz zu Gatti, dem ein künstlerischer Gestaltungswille nicht abgesprochen werden kann, war ein solcher bei Regie und Ausstattung (Yannis Kokkos in Personalunion) nur mehr rudimentär zu erkennen: belanglose Modernisierungen, Ostblockkostüme im Chor, denen aber ein goldbemantelter Boris gegenüber gestellt wird. Die Bühne ist einfach modelliert und bis auf einen goldenen Thron austauschbar gehalten. Einen Hinweis auf die ehemaligen kommunistischen Regime Osteuropas mag man in einer überlebensgroßen Statue erkennen, die links am Bühnenrand steht und am Schluss zerstört am Boden liegt. Über die Personen- und Chorführung lässt sich wenig sagen. Immerhin reiben sich die Choristen im kalten russischen Bühnenwinter die Hände und es kreisen die Wodkaflaschen. Ansonsten dürfte vieles dem Engagement der Darsteller überlassen worden sein. Bei der Premiere wurde Kokkos Solovorhang, so hat man mir berichtet, quasi übersehen und der Applaus plätscherte unbeteiligt weiter ...

Das ergab schwierige Ausgangsbedingungen für die SängerInnen, die, wie man mutmaßen darf, auch beim Studieren der russischen Sprache und Diktion auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen sein werden. (Furlanetto hat den Boris immerhin schon öfter und in unterschiedlichen Versionen gesungen.) Von den weiteren Hauptrollen habe ich bei Marian Talaba (Grigori Otrepjew) einen eher positiven Eindruck mit nach Hause genommen, aber sogar Nadia Krasteva (Marina) lenkte die Aufmerksamkeit mehr durch das raffinierte Dekolleté ihres Kostümes auf sich, als durch eine besonders überzeugende Rollengestaltung. Die Szene in der Schenke wäre noch viel harmloser ausgefallen, wenn nicht Alfred Sramek als Hauptmann sie ein wenig „aufgemischt“ hätte. Viele dieser Einzelcharaktere reiften in Gesang und Spiel kaum zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Auch anhand von Schuiski (Jorma Silvasti) als harmlosen Intriganten konnte man ermessen, wie es an der charaktermäßigen Zuspitzung der Rollen mangelte. Falk Struckmann (Rangoni) und Heinz Zednik (Gottesnarr) setzten noch einige Akzente, aber ihr Wirkungskreis war im Verhältnis zur Aufführungsdauer natürlich stark begrenzt. Janina Baechles Partie war so zusammengestutzt worden, dass sie kaum mehr etwas zu singen hatte.

Die zweite Aufführung – auf die sich diese Anmerkungen beziehen – war von mäßigem Publikumsandrang gekennzeichnet (Vorstellung im Abonnement mit mehr leer gebliebenen Plätzen als üblich). Auf dem Stehplatz hatte sich wenig Stammpublikum eingefunden. Der Schlussapplaus war unter diesen Voraussetzungen trotzdem relativ stark.