LE NOZZE DI FIGARO

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Theater an der Wien
29. November 2020

Livestream bzw. Fernsehübertragung aus dem Theater an der Wien


Musikalische Leitung: Stefan Gottfried
Inszenierung: Alfred Dorfer, Kateryna Sokolova
Ausstattung: Christian Tabakoff
Licht:
Benedikt Zehm
Concentus Musicus Wien

Schönbrunner Schlosstheater
22./23. März 2019

Stream der mdw

Musikalische Leitung: Christoph U. Meier
Inszenierung: Kateryna Sokolova
Bühne: Erich Uiberlacker
Kostüme: Constanza Meza Lopehandia
Webern Symphonie Orchester


Besetzung Theater an der Wien
Graf -
Florian Boesch
Gräfin -
Cristina Pasaroiu
Susanna -
Giulia Semenzato
Figaro -
Robert Gleadow
Cherubino -
Patricia Nolz
Bartolo -
Maurizio Muraro
Marcellina -
Enkelejda Shkosa
Basilio -
Andrew Owens
Don Curzio -
Johannes Bamberger
Barbarina -
Ekin Su Paker
Antonio - Ivan Zinoviev

Besetzung Schönbrunner Schlosstheater 22.3 / 23.3.

Graf -
Sreten Manojlovic / Junxin Chen
Gräfin -
Tamara Bounazou / Momoko Nakajima
Susanna - Johanna Wallroth /
Theodora Raftis
Figaro -
Alexander Grassauer / Daniel Gutmann
Cherubino -
Patricia Nolz / Patricia Nolz
Bartolo -
Ricardo Martinez / Petro-Pavlo Tkalenko
Marcellina -
Helene Feldbauer / Eva Schöler
Basilio -
Joan Folque / George Kounoupias
Don Curzio -
George Kounoupias / Joan Folque
Barbarina -
Aiko Sakurai / Xinzi Hou
Antonio -
Benjamin Chamandy / Philipp Schöllhorn


Zweimal „Le nozze di Figaro“
:
„Dorfer-Figaro“ vs. „Sokolova-Figaro“

(Dominik Troger)

Am 29. November 2020 wurde im Theater an der Wien „Le nozze di Figaro“ in der Inszenierung des Kabarettisten und Schauspielers Alfred Dorfer aufgeführt. Alfred Dorfer arbeitete bei seinem Opernregie-Debüt mit der Regisseurin Kateryna Sokolova zusammen. Sokolova hat im Frühjahr 2019 am Schönbrunner Schlosstheater den „Figaro“ inszeniert – was zu einem möglicherweise interessanten Vergleich einlädt.

I.
Für den 12. November 2020 war im Theater an der Wien die Premiere von „Le nozze di Figaro“ in der Regie von Alfred Dorfer angesetzt. Es handelte sich um eine gekürzte, pausenlose Fassung von rund zweieinviertel Stunden. Wegen der Verschärfung der Pandemiemaßnahmen musste die Premiere abgesagt werden. Man verlegte die Aufführung auf den 29. November, spielte sie als Livestream ohne Publikum, zeitversetzt wurde die Aufführung im Fernsehen ausgestrahlt – wie schon im März 2020 die „Fidelio“-Inszenierung des Schauspielers und Oscar Preisträgers Christoph Waltz.

Roland Geyer, der Intendant des Theaters an der Wien, hat bereits in der Vergangenheit in Sachen Regie einige „Experimente“ ermöglicht. Neben Dorfer und Waltz waren in früheren Jahren der Filmregisseur William Friedkin („Hoffmanns Erzählungen“ 2012) und der Filmregisseur und Drehbuchautor Stefan Ruzowitzky („Freischütz“ 2010) zum Zug gekommen. Ruzowitzky war wie Dorfer ein Regie-Newcomer, Friedkin hatte zuvor schon an der Bayerischen Staatsoper gewirkt („Salome“, „Das Gehege“), Waltz an der Vlaamse Oper in Antwerpen den „Rosenkavalier“ inszeniert. Die künstlerischen Ergebnisse dieses „Namedroppings“ haben zwar nie wirklich überzeugen können, jedoch für das Theater an der Wien viel mediale Aufmerksamkeit generiert. Nun ist Alfred Dorfer kein Weltstar wie die Genannten, aber zumindest in Österreich ist es gelungen, die Kulturseiten der Zeitungen mit vielen Alfred Dorfer-Interviews zu füllen.

Alfred Dorfer stand bei seinem Opernregie-Debüt mit der Regisseurin Kateryna Sokolova professionelle Hilfe zur Seite. Sokolova hat 2012 ihr MA Studium an der Royal Central School of Speech and Drama in London abgeschlossen. Sie hat am Oldenburgischen Staatstheater „Die Entführung aus dem Serail“ und „Macbeth” inszeniert. Aber was in diesem Zusammenhang besonders interessiert: Sie hat 2019 im Schönbrunner Schlosstheater bei einer „Le nozze di Figaro”-Produktion Regie geführt.

Dieses Detail verlockt natürlich zur Frage, ob es zwischen der Regiearbeit von Sokolova und der von Dorfer Übereinstimmungen gibt, die sich im Vergleich der beiden Aufführungen feststellen lassen. Schließlich lässt sich Kateryna Sokolovas Regiearbeit im Schönbrunner Schlosstheater für die mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst immer noch per kostenlosem Stream ins Haus holen. (Es gibt genauer gesagt sogar zwei Streams, weil am 22. und 23. März 2019 zwei verschiedene Besetzungen zum Einsatz kamen, die beide auf der mdw-Homepage dokumentiert werden.)

Folgt man der „Figaro“-Rezeption der letzten Jahrzehnte, dann sticht einem einerseits der Versuch ins Auge, in Mozart den politischen Revolutionär zu entdecken oder andererseits stark auf das schuldhafte Verhalten des Grafen abzustellen. Wobei die Frage, wie denn das „Verzeihen“ der Gräfin zu beurteilen sei, entscheidend ist. Das Schlusswort hat jedenfalls das Ensemble, das die Macht der Liebe lobt, die alle Qualen und Ver(w)irrungen beendet. Der Skepsis, die sich aus dem liderlichen Verhalten des Grafen nährt, wird im Finale offenbar nicht Rechnung getragen. Ist sie deshalb aber kein Bestandteil des Stücks? Ist es überhaupt noch möglich, dass eine Regie das Verzeihen der Gräfin „ernst“ nimmt? Auch in den beiden hier beleuchteten Produktionen scheint das Verhältnis zwischen Graf und Gräfin nicht wirklich „repariert“ – entweder bleibt der Graf alleine zurück (Sokolova) oder er geht allein seines Weges (Dorfer). Im beiden Fällen ist er aber nicht mehr Teil der jetzt zum Fest eilenden Menge.

II.
Der „Figaro“ im Schönbrunner Schlosstheater lebte von der juvenilen Frische der Sängerinnen und Sänger, und von einer Regie, die spätestens nach dem ersten Akt „zu sich selbst findet“. Das Statement der Regisseurin, das ebenfalls auf der mdw-Homepage nachgelesen werden kann, beschreibt den wesentlichen Fokus ihrer Arbeit recht gut. Für sie geht es im „Figaro“ vor allem um die „Seelenmechanik“: „Urteilsfrei und mit einem scharfen Blick bringt diese Musik die Figuren dazu, ihre Seelenmechanik bloßzulegen. Man muss hinnehmen, dass die Personen bald komisch, bald ernst zu nehmen sind; in kurzen Abständen mal eindrucksvoll sympathisch, mal selbstgefällig kompromisslos sind.“ Und die „Moral“ der Oper ist für sie „alles andere als eindeutig“.

Kateryna Sokolova hat im „Figaro“ zudem „weibliche Solidarität“ entdeckt – und wie Susanna und die Gräfin die Sache managen, spricht ohnehin dafür. Bezeichnend für diesen weiblichen Blickwinkel war die erotisch subtil aufgeladene Szene mit Cherubino im zweiten Akt. Interessanter Weise wurde in dieser Szene die Solidarität fast zur Rivalität um die Streicheleinheiten des pubertären Knaben, und die Gräfin besann sich flugs auf ihre Besserstellung in der sozialen Hierarchie.

Alfred Dorfer hat sich mehr auf den Grafen fokussiert und damit von vornherein, wie mir scheint, die schlechtere Karte gezogen. „Eine Hauptfigur ist natürlich der Graf, aus dessen Perspektive wir das erzählen.“ – so Dorfer in einem Interview (DIE PRESSE, 26. November 2020). Wohl deshalb befindet sich der Graf schon am Beginn auf der Bühne, kontrastiert die quirlige Ouvertüre mit dem Anblick eines frustrierten gealterten Mannes, der sich an einem Kaffeeheferl festhält und von erotischen Abenteuern träumt. Sokolova hingegen hat bei ihrem „Figaro“ am Beginn die ganze Sängerriege an die Rampe gesetzt und bis auf die depressive Gräfin swingen alle im Takt von Mozarts Musik und verbreiten gute Laune. Im Vergleich fällt es wirklich schwer, sich mit Dorfers triebhaft müffelndem Grafen anzufreunden.

Im Grunde genommen beantwortet diese Eingangssequenz für mich bereits die Frage nach der „Eigenständigkeit“ von Dorfers „Figaro“-Entwurf: Dorfer hat aus dem „Figaro“ ein „Problemstück“ gemacht und den Grafen als „Harvey Weinstein“ eines heruntergekommenen Geldadels gezeichnet, dessen Schlösschen schon weit bessere Zeiten gesehen hat. Dieses Gebäude, das „dahinrottet“ (Originalton Dorfer WIENER ZEITUNG 28./29. November 2020), gibt optisch wenig her, passt überhaupt nicht zur Figurenkonstellation, zu Kammerdienern und Bauern, die diesem armen „Dorfer-Grafen“ längst davongelaufen wären. Die Inkonsistenz dieses Entwurfes – mit dem vierten Akt, der vor einer Straßenbahnremise spielt – verblüfft. Dass Dorfer diese Straßenbahnremise als „Anspielung auf die Entstehungszeit der Oper“ verstanden wissen wollte (DIE PRESSE, s.o.) wird nicht ohne Überraschung zur Kenntnis genommen. Es wäre interessant gewesen, in dieser Sache auch Kateryna Sokolova zu hören, aber die hat offenbar niemand interviewt.

Dorfer hingegen hat in den vielen Interviews, die er geführt hat, fast mantraartig betont, dass er nicht möchte, dass man den Kabarettisten in seiner Inszenierung entdeckt. Am besten wird das an einem kleinen Detail sichtbar: In der Arie im dritten Akt ist der Graf erregt, zornig, und vor dem „Ah no, lasciarti in pace“ stampft er wie ein Rumpelstilzchen so fest mit dem Fuß auf, dass der morsche Holzboden nachgibt und einbricht. Dazu rudert der Graf unlustig mit den Armen. Was unter anderen Bedingungen eine witzige Pointe abgegeben hätte, verweist jetzt auf die emotional und wirtschaftlich ausgehöhlten Lebensumstände des Grafen. Dorfer hat es sogar vermieden, die im Stück angelegten Szenen humorvoll auszuspielen – etwa die Entdeckung Cherubinos durch den Grafen im ersten Akt, indem ein plötzlicher Wechsel in der Beleuchtung den komödiantischen Ablauf unterbricht. Die Szene zwischen Graf und Gräfin im zweiten Akt endet fast in einer Vergewaltigung, ehe Susanna aus dem Versteck huscht und den Grafen bei seiner Tätlichkeit peinlich überrascht. Bei Dorfer werden schwerwiegende Dinge verhandelt! Nur die Beziehung zwischen Susanna und Figaro scheint frei davon zu sein und sich eine mit erotischen Phantasien leicht angereicherte spielerische „Unschuld“ bewahrt zu haben. Am Schluss tanzt der Graf allein durch das große Tor in die Remise. Poetisch leuchtet ihm ein Straßenbahnscheinwerfer entgegen. Aber was hat der arme Mann dort nur verloren?

Im Schönbrunner Schlosstheater spielte das Stück hingegen in einer abstrahierten, sparsam mit barocken Türelementen ausstaffierten Kulisse (Bühne: Erich Uiberlacker). Die Kostüme (Constanza Meza Lopehandia) waren geschmackvoll in Schwarz und Weiß gehalten, und kleideten mit der Eleganz locker-inspirierter Abendgarderobe, die mit einer spielerischen historischem „Aufnaht“ versehen war. (Im Theater an der Wien wurde hingegen vor allem Alltagskleidung getragen.) Die Produktion verleugnete nicht die Komödie, widmete sich dem Thema mit einer erfrischenden, manchmal ironischen, manchmal etwas ins „Psychologische“ abschweifenden Art. Das konnte aufgesetzt wirken (vor allem die mir unverständliche Bühnenpräsenz der Gräfin im ersten Akt, die depressiv vor sich hinstarrte, ihre Schuhe auszog etc.), aber beschädigte nicht nachhaltig den Gesamteindruck.

Während in der „Figaro“-Welt des Alfred Dorfer der Graf der Torschlusspanik des alternden Mannes unterworfen, mit schmieriger Übergriffigkeit agierte, war der Graf, den Kateryna Sokolova in der mdw-Produktion zeichnete, noch im Besitz jugendlich-männlichen Überschwangs. Er agierte im vollen Bewusstsein seiner raumgreifenden Virilität, behaftet mit dem Makel der Eifersucht. Wenn er im Finale allein an der Rampe zurückbleibt, dann würde man aber die Möglichkeit auf eine Besserung seines Charakters nicht ausschließen wollen! Bei Dorfer ist dieser Charakter von der ersten Szene an desavouiert, und die Anlage des weiteren Handlungsverlaufes gestaltet sich dadurch zu einseitig. Auf das Gestalten emotionaler Nuancen wurde meist verzichtet. In Sokolovas Inszenierung erweist sich „Le nozze di Figaro“ hingegen bereits als Vorstufe zur „Cosi fan tutte“, die als seelenmechanisches Experiment noch einen großen Schritt weitergeht.

Die Suche nach den offensichtlichen Gemeinsamkeiten gestaltet sich denn auch schwieriger als erwartet, bei Cherubinos „Non so più“ landet man allerdings einen Volltreffer. Cherubino verbindet sich in Sokolovas Inszenierung am Beginn der Arie mit dem von Susanna „geborgten“ Band die Augen, Susanna lauscht ihm versonnen. Im Theater an der Wien ist die Ausgangssituation dieselbe, wieder verbindet sich Cherubino die Augen, aber die Szene wird anders aufgelöst. Susanna bleibt von Cherubinos Gesang weitgehend unbeeindruckt. Außerdem zierte der Schriftzug „Cherubino“ im Theater an der Wien ganz am Beginn eine Kulissenwand; im Schönbrunner Schlosstheater zeigte sich der Schriftzug „Cherub“ auf einem runden, kniehohen Kulissenteil. Eine manchmal überzeichnende Körpersprache findet sich hier wie dort, ebenso wie ein starker, auf der Gräfin ruhender Leidensdruck.

III.
Die Meinungen der Presse zu Alfred Dorfers Regieeinstand waren überraschend positiv. Die Aufführungen der mdw im Schönbrunner Schlosstheater werden hingegen von den Kulturspalten der Tageszeitungen oft negiert. DIE PRESSE (1. Dezember 2020) notierte zur Übertragung aus dem Theater an der Wien beispielsweise, dass man es der Inszenierung ansehe, dass Alfred Dorfer Mozart mag. Warum? Weil Dorfer kein Kabarett, sondern „Oper“ inszeniert habe: und zwar Mozarts „Figaro“ und nicht „Dorfers Figaro“. Die Erwähnung des Bühnenbildes (Ausstattung: Christian Tabakoff), das „von seltener Trostlosigkeit“ gewesen sei, mindert dann aber doch den positiv gewählten Einstieg in die Rezension. Die hier bereits angemerkte Diskrepanz zwischen den Figuren und dem gezeigten Ambiente wird zumindest angerissen. Die Besprechung ist nicht ganz kongruent und geht auf Details – wie die seltsame szenische Auflösung des Briefduetts – erst gar nicht ein.

Die Rezension in der WIENER ZEITUNG (30. November 2020) spricht die Problemzonen der Inszenierung deutlicher an, die die emotionalen Abgründe der Figuren, ihre Wahnvorstellungen und Ängste gezeigt habe: „Doch das Szene gewordene innere Gruselkabinett der Figuren ist auf Dauer monoton, auch Intensität kann ermüden – auch eine Schattenseite der Kürzungen. In der TV-Übertragung wirken zudem die Gesten überzeichnet, subtil bleibt wenig.“ In der grundsätzlich ebenfalls positiv gestimmten Kritik im STANDARD (30. November 2020) wird noch einmal der besonderes Blickwinkel Dorfers auf das Stück angemerkt: „Es sind Fantasien eines krisengeschüttelten Damenbelästigers mit aufdringlich gefärbtem Haar.“ Aber da darf der Schreiber dieser Zeilen jetzt schon die Frage stellen, wo Mozarts „Figaro“ aufhört und Dorfers „Figaro“ anfängt?

Musikalisch bot das Theater an der Wien die vom Concentus musicus erwartete „harsche“ Klangsprache. Stefan Gottfried dirigierte über weite Strecken flott und ziemlich ungeschmeidig, was die Kooperation mit den Sängerinnen und Sängern betraf. So wurde etwa die drängende sublime Erotik des Cherubino ziemlich verhetzt und nahm der jungen Sängerin die Chance, ihren jugendlichen Charme auszuspielen. Der Beweis ist in diesem Punkt leicht zu führen, weil Patricia Nolz den Cherubino auch in der mdw-Produktion gesungen hat – und dort spürbar mehr androgynen Liebreiz entwickelte, (was auch an der Regie lag). Christoph U. Meier hat dortselbst am Pult des Webern Symponie Orchesters für einen mehr „klassischen“, lebendig-frischen „Figaro“ gesorgt. Im Theater an der Wien hat das Orchester die rüde Bühnenwelt des Grafen widerspiegelt, von dessen Arie im dritten Akt man hätte meinen können, dass sie einem grob polternden Figaro übertragen worden wäre. Was den musikalischen Eindruck betrifft, sei an dieser Stelle also Wilhelm Sinkovicz, dem Rezensenten der PRESSE gefolgt, der im weiter oben bereits zitierten Beitrag die „rohe Akzentsetzung“ kritisch anmerkte.

Florian Boesch gab den Grafen mit rauem Bassbariton und war in seinem ganzen, stark existentialistisch forschenden Künstlertum mehr Wozzeck als Conte. Die Arie im dritten Akt äußerte des Grafen harschen Ärger, ohne ihm dabei einen Funken an Hoffnung zu lassen. Bei diesem Grafen ist alles Liebenswerte längst abgeblättert, sind keine Spuren eines eleganten Charmes mehr vorhanden – man könnte sogar meinen, er habe nie einen besessen. Wo hat die Gräfin diesen Typen nur aufgegabelt? Die Gräfin (Cristina Pasaroiu) neigte zur Depression, was einen bei diesem Gemahl nicht wundert – sie tat mit leicht flackrigem Sopran ihre Sensibilität kund.

Zumindest die sympathische Erscheinung der Giulia Semenzato als Susanna hat die szenische Tristesse überstrahlt und ihr Figaro (Robert Gleadow) war ein fescher, gesanglich etwas leichtgewichtiger, nicht minder sympathischer Kerl. Maurizio Muraro war ein „gestandener“ Bartolo, dem man die Arie belassen hat, der aber im ersten Akt mit einem Rollator (!) auf die Bühne geschickt wurde. Andrew Owens gab rollendeckend den Basilio, Enkelejda Shkosa die Marcelline, Johannes Bamberger den Notar. Ekin Su Paker war eine hübsche Barbarina, Ivan Zinoviev steuerte den Gärtner bei, der Arnold Schönberg Chor die paar nicht gestrichenen Chorpassagen.

Aber die Protagonisten der mdw-Produktion haben im Vergleich durchwegs gut abgeschnitten. Was dort fehlte, war noch ein wenig die Routine – und das war eigentlich ein Vorteil. Die Grafen beispielsweise obsiegten im Vergleich an beiden Abenden mit elegantem lässigem Auftreten (Sreten Manojlovic) oder fülligem „Don-Juan“-Timbre (Junxin Chen) über die trockene Mozartkunst eines Florian Boesch. Alexander Grassauer (Figaro) befindet sich bereits im Engagement des Müncher Gärtnerplatztheaters, Patrizia Nolz ist wie Johanna Wallroth bereits Mitglied im neu gegründeten Opernstudio der Wiener Staatsoper. Theodora Raftis (Susanna) ist prädestiniert für die Opera buffa und müsste eine köstliche Despina abgeben.

Und was ist das Fazit all dieser Überlegungen? Im Schönbrunner Schlosstheater wurden Erwartungen geweckt, im Theater an der Wien wurde einer schweren „Midlife-Crisis“ gehuldigt. Man kann sich jetzt aussuchen, was einem lieber ist.

Links der Anfang Dezember 2020 eingesehen Artikeln:
https://www.derstandard.at/story/2000122100782/die-corona-fassung-von-mozarts-figaro
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/buehne/2084073-Das-Destillat-des-Figaro.html
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/buehne/2083873-Alfred-Dorfer-Es-ist-ein-Hochsicherheitstrakt.html

Bezahlartikel, (Zitate im Text nach der Druckausgabe):
https://www.diepresse.com/5905090/figaro-alfred-dorfer-mag-mozart-und-er-zeigt-das-auch
https://www.diepresse.com/5902940/alfred-dorfer-daruber-musste-der-mozart-schon-lachen

Streams der mdw-Produktion (kostenlos):
https://mediathek.mdw.ac.at/WSO_LeNozzediFigaro

Der Stream des Theaters an der Wien wurde über myfidelio.at (kostenpflichtig) angeboten, wie lange der Stream noch über diese Plattform verfügbar ist, habe ich nicht recherchiert. Die TV-Übertragung erfolgte über den ORF und war nach Ausstrahlung eine Woche lang über die ORF TVThek abrufbar.