DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL

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Staatsoper
12. Oktober 2020
Premiere

Musikalische Leitung: Antonello Manacorda

Inszenierung
: Hans Neuenfels
Bühne: Christian Schmidt
Kostüme: Bettina Merz
Licht: Stefan Bolliger

Bassa Selim - Christian Nickel
Konstanze - Lisette Oropesa
Blonde - Regula Mühlemann
Belmonte - Daniel Behle
Pedrillo - Michael Laurenz
Osmin - Goran Juric

Schauspieler: Emanuela von Frankenberg, Stella Roberts,
Christian Natter, Ludwig Blochberger


Szenischer Doppler-Effekt

(Dominik Troger)

Munter dreht sich das Premierenkarrussel an der Wiener Staatsoper: Anfang September „Madama Butterfly“, jetzt die „Die Entführung aus dem Serail“ – und der „Eugen Onegin“ scharrt schon in den Startlöchern. Konnte man nach der „Butterfly“ ein eher positives Resümee ziehen, ließ einen die „Entführung“ ziemlich ratlos zurück: Bassa Selim liest Mörike – und weiter?

Hans Neuenfels ist dem Wiener Theater- und Opernpublikum kein Unbekannter. Die Meinungen über seine Inszenierungen waren und sind – vorsichtig ausgedrückt – „sehr geteilt“. Seine „Entführung“, die vor über 20 Jahren in Stuttgart auf die Bühne gekommen ist, wurde jetzt vom neuen Staatsoperndirektor Bogdan Rošcic nach Wien geholt. Das Werk ist im Haus am Ring zwanzig Jahre lang nicht mehr gespielt worden. (In diesem Zeitraum gab es zwei Neuproduktionen an der Volksoper und eine Festwochenproduktion mit Beteiligung der Staatsoper im Burgtheater.)

Hans Neuenfels kennt man als munteren Provokateur, der maßgeblich die Entwicklung des sogenannten „deutschen Regietheaters“ vorangetrieben hat. Bei ihm handelt es sich sozusagen um das „Original“ – und bei allen Kritikpunkten muss man zugestehen, dass die jüngeren Nachahmer oft weit dahinter zurückbleiben. Man nehme als Beispiel die Verdoppelung von Bühnenfiguren, inzwischen ein sehr häufig genütztes und oft nicht beherrschtes Stilmittel. In dieser Inszenierung werden insgesamt vier Figuren jeweils in einen Sänger und einen Schauspieler aufgeteilt, eine Herausforderung, die handwerklich aber gut gemeistert wird. Die Aufsplitterung des Figurenkatalogs dient aber nicht dem Stück, sondern mehr seiner „Dekonstruktion“ – garniert mit teils recht banalen, neu verfassten Dialogen. (Die Begründung, durch die Schauspieler würde man den gesprochenen Passagen mehr Gewicht verleihen, halte ich nach den Erfahrungen des Premierenabends für eine fadenscheinige Ausrede.) Immerhin wird sogar im Programmheft nicht verhehlt, dass diese Inszenierung „erstaunlich“, aber auch „verwirrend“ sei. Der Titel des Aufsatzes von David J. Levin, der solche Wahrheit kundtut, lautet übrigens „Deconstructing Singspiel“. Levin gelingt es im Rahmen dieses Textes sogar, Schönbergs „Moses und Aron“ einzubeziehen: Was für eine weite Reise, zu der hier ein Singspiel aus dem 18. Jahrhundert genötigt wird.

Einerseits würde man aus der „Entführung“ gerne eine „richtige“ Oper machen, andererseits gaukelt die Bezeichnung „Singspiel“ dem Publikum ein leichtgewichtiges Amüsement vor, das bei Opernmachern ohnehin verpönt ist. Dirigent Antonello Manacorda bemüht in seinem Beitrag für das Programmheft das Klischee vom „Ewigkeitsanspruch“ Mozart‘scher Musik. Aber Mozart hat die „Entführung“ nicht für die „Ewigkeit“ komponiert, sondern vornehmlich, um beim Wiener Publikum Erfolg zu haben. Und wenn es szenisch schon ein bisschen „lustig“ sein muss, dann am besten geschmacksverstörend und absurd verfremdend. So siedelt diese Inszenierung irgendwo zwischen „großer Oper“ und ironisierender „Verballhornung“, was beim unvoreingenommenen Betrachter – so befürchte ich – vor allem Langeweile und Unverständnis auslösen wird. (Der Premierenabend dauerte inklusive einer Pause rund drei Stunden).

Was bekommt man also in dieser neuen – alten – „Entführung“ zu sehen? Einen Raum in Bassa Selims Palast, der leicht renovierungsbedürftig ist – und der vor allem über eine Bühne auf der Bühne verfügt. Er ist weitgehend leer, Requisiten werden meist herangeschafft wie zum Beispiel am Beginn die Truhe des Osmin, die zergliederte Leichenteile und abgeschlagene Köpfe verflossener Liebschaften enthält. Die Kostüme sind abwechslungsreich, das roserne der beiden Pedrillos geradezu ein outrierender „Schrei“. Blonde trägt ein britisches Kostüm, elegant auf spanischen Flamenco ist Belmonte designt, Konstanze steht ein einfaches schwarzes Kleid, Osmin und sein Begleiter täuschen eine Ganzkörpertätowierung vor. Bassa Selim trägt gerne schwarz, verirrt sich einmal in eine Art „Tigerkostüm“ und landet schlussendlich beim Frack.

Zu den Seltsamkeiten zählten der Auftritt eines halbnackten Knaben, der einen Tisch mit einem Apfel anstarrt – den Apfel der Sünde? War die silberne Schaufensterpuppe ein Querverweis auf den bekannten „Starwars“-Cyborg C-3PO? Und der Hinweis auf die „Zauberflöte“ – Pedrillo als Papageno? – mit gelben Kückenkindern, die herumwuseln, zählte ebenfalls zu den Ver(w)irrungen dieser Produktion. Die Personenführung war gut gelöst, aber durch das vermehrte Bühnenpersonal wurde die Handlung eher defokussiert als gebündelt. Neuenfels nahm einige Anleihen bei der Commedia dell'arte, ließ Bassa Selim ziemlich forsch agieren, und hat sich den eigentlichen Gag für den Schluss aufgehoben. Die Oper ist aus, aber Bassa Selim möchte dem Publikum noch ein Gedicht vortragen. Ein paar Stimmen aus dem Auditorium protestieren lautstark: „Nein!“ schallt es von der Galerie; „Das gehört nicht dazu!" tönt es aus einer Loge, aber das hilft natürlich nichts. Der Regisseur wird sich über solchen Zuspruch gefreut haben – und Bassa Selim sollte den Vortrag des Gedichtes noch ein wenig üben, damit das Publikum in der zweiten Vorstellung mehr davon versteht.

Musikalisch war der Abend auch nicht gerade „eitle Wonne“ – ausgehend von einem strikten Dirigat, das mit schlankem, differenziertem Klangbild zwar die Schönheiten der Partitur zum Erklingen brachte, aber die bühnennahe Lebendigkeit eines Singspiels negierte. Antonello Manacorda errichtete derart eine glänzende. etwas spröde Fassade, die sich schnell in Fadesse kleidete. Die Sängerinnen und Sänger entkamen diesem musikalischen „Käfig“ kaum – auch schienen sie sich der Anbringung möglicher Ausdrucksmittel und Gestaltungsmöglichkeiten nur zum Teil gewärtig.

Die international vielgelobte Lisette Oropesa blieb bei ihrem Staatsoperndebüt über weite Strecken im gesanglichen Ausdruck zu einförmig. Überzeugend gelang eigentlich nur die Marternarie, in der die Gestaltung stärker aus der Virtuosität schöpft, und wo ihre Stimme in den Koloraturen und bei den Spitzentönen reizvolles, dunkles Funkeln verströmte. Das noch einigermaßen flache, aber schnelle Vibrato ihrer Stimme war hingegen irritierend, die leicht verhangene Mittellage klang eigentümlich. Ich würde Sängerinnen bevorzugen, die der Konstanze musikalisch eine hellere, klarere Kontur verleihen.

Daniel Behle hat bereits vor zehn Jahren an der Volksoper den Belmonte gesungen – inzwischen ist der Sänger beim Lohengrin angekommen. Seine Leichtigkeit hat sich ein bisschen verflüchtigt, der jugendliche Schmelz hat sich abgeschliffen. Sein Tenor gewann nach mäßigem Start im Laufe des Abends aber alte Tugenden zurück und verdiente sich zuletzt mit der „Baumeisterarie“ den erhofften „Zuspruch“ des Publikums. Das Buffopaar verströmte mäßige Heiterkeit: Michael Laurenz hat gesanglich schon stärker reüssiert als im rosa Pedrillokostüm; Regula Mühlemann, mit dünnen Spitzentönen, bemühte sich immerhin phasenweise erfolgreich der Blonde frischen, ungezwungen Esprit „einzuwirken“. Der Osmin war mit Goran Juric stimmlich unterbesetzt. Der Bassa Selim von Christian Nickel erfüllte seine Aufgabe, ohne besonders zu glänzen.

Beim Schlussvorhang lieferten sich Befürworter und Gegner der Inszenierung einen Schlagabtausch, wobei nach meinem Dafürhalten die Ablehnung überwog. Der Regisseur nahm die Buhrufe an die Rampe tretend mit stoischer Ruhe entgegen. Konstanze und Belmonte heimsten den meisten Applaus ein. Aber der Premierenjubel dauerte keine zehn Minuten lang.