DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL

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Volksoper
12. Juni 2010
Premiere

Dirigent: Sascha Goetzel
Inszenierung
: Helen Malkowsky
Ausstattung: Bernd Franke

Selim, Bassa - August Zirner
Konstanze - Kristiane Kaiser
Blonde, ihre Zofe - Andrea Bogner
Belmonte - Daniel Behle
Pedrillo, sein Diener - Karl-Michael Ebner
Osmin, Aufseher - Gregory Frank

Tschechow auf türkisch?“
(Dominik Troger)

Osmin als Insektensammler? Ist es aber nicht so, dass auch viele heutige Regisseure mit den bunten, märchenhaften Erscheinungen des Opernrepertoires ähnlich verfahren? Sie nadeln sie mit ihren Interpretationen fest, heften Etiketten daran und behaupten, nun wüsste das Publikum wirklich, was es davon zu halten habe!

Natürlich ist es eine hübsche Idee, wenn Osmin zu seinem Auftrittsliedlein „(...) Denn die losen Dinger haschen / Jeden Schmetterling und naschen (...)“ nach Käfern und gruselig großen Spinnen zwischen Farntöpfen krabbelt und diese dann in kleinen Kästchen zur allgemeinen Anschauung aufspießt, anstatt dass er unverfänglich Feigen erntet. Allerdings wird damit auch schon nach wenigen Minuten klar, dass hier das „Singspiel“ weniger zum „Spiel“ geraten wird, als erwartet ...

Persönlich würde ich dem Osmin die doch mehr wissenschaftlich anmutende Tätigkeit eines Entomologen oder Arachnologen eigentlich nicht zutrauen. Aber wahrscheinlich ist das ein Vorurteil. Und natürlich wird eine gewisse Grausamkeit ausgedrückt: der Schmetterling genadelt wie das Herz von Blondchen oder Konstanze. Doch gleichzeitig entpuppt sich hier schon das Grundproblem dieser Neuproduktion von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ an der Volksoper: Regisseuse Helen Malkowsky meint alles sehr ernst.

Vielleicht ist es wirklich so, dass zwei Dinge bei unserer heutigen Auseinandersetzung mit Mozart einfach nicht mehr wahrgenommen werden: seine Fähigkeit (und die Fähigkeit seiner Zeit) das Ernste und das Lustige nicht als Gegensätze zu begreifen, sondern als Spielarten des Lebens, die man – und dazu braucht es dann ein aufgeklärtes Gemüt – letztlich zu einer vernunftgeleiteten Symbiose und damit zu einem glücklichen Leben vereinigen kann. Strahlt der vernunftgeleitete Sieg des Bassa Selim über seine eigenen Emotionen und über die seiner Gefangenen und Untertanen nicht noch heute wie ein Leuchtturm aus dem 18. Jahrhundert in unsere Zeit? Müsste daraus nicht eine große Hoffnung und ein großer Ansporn zu schöpfen sein?

Doch zurück zum Beginn und zu Osmins „intellektuellen“ Grausamkeiten – auch die erste Szene zwischen Pedrillo und Osmin erschöpfte sich im Androhen von Gewaltdaten und in viel Bewegung, ohne den Figuren einen Weg ins Singspiel zu ermöglichen. Erst später, beim „Bacchus“-Duett, taute das Eis ein wenig auf. Das Reduzieren von „Lustig“ ebnete die Standesunterschiede ziemlich ein – die natürlich essentiell für den Charakter des Stückes sind. Achtet man zu wenig darauf, besteht rasch die Gefahr einer gewissen Einförmigkeit.

Dabei gab es gute Ansätze, in die ersten beiden Akte etwas „Leben“ und „Gegensätzlichkeit“ zu bringen. Die Janitscharen mit ihren Prophetenbärten und dem grimmigen Aussehen von Gotteskriegern, die vollständig verhüllten Frauen, das atmete schon „Aktualität“, ohne dabei Mozart in die Quere zu kommen. Der folgenden Auftritt Konstanzes, zuerst wie alle Haremsfrauen verhüllt, von Bassa Selim dann enthüllt wie ein kostbares Geschenk, zählte zu den spannendsten Momenten des Abends. Hätte man auf dieser Ebene weitergeforscht, das Ergebnis hätte sehr radikal ausfallen können – und der Volksoper wäre dann ein kleiner Skandal womöglich nicht erspart geblieben.

So aber zog sich der Abend letztlich ins weißgetünchte „Einheitskämmerlein“ des Bühnenbildes zurück, um die Beziehungskiste zu pflegen, wobei Blondchen und Pedrillo mit etwas magerem Witz Osmin Belehrungen machen durften und Bassa Selim die Quartett singenden Europäer belauschte. Es verwundert nicht, dass unter solchen Voraussetzungen das Erzählen einer „billigen“ Fluchtgeschichte wenig verlockend scheint: Also lässt man sie weg!

Zu Beginn des dritten Aktes sitzen die vier Europäer von Reisekoffern begleitet vor einer Ruine (!) des weißgetünchten Einheitskämmerleins und lauschen Pedrillos „Mohrenland“-Lied. Die Stimmung ist gedrückt, es scheint, als wären die Fremden schon längst wieder eingefangen worden. Unvermutet stehen sie auf und plötzlich kommt Osmin vorbei. Pedrillo hat einen Koffer umgestoßen, der kluge Aufseher hat das Rumpeln gehört. Er erkennt wahrscheinlich am Gepäck, dass die Sklaven abreisen wollen, und schlägt Alarm.

Dann geht es wie gehabt ins Finale – aber zum Chor der Janitscharen bringt Osmin ein paar blutige Stofffetzen auf die Bühne und wirft sie vor dem seelisch gebrochenen Bassa Selim auf den Boden. Hat man die vier „Sklaven“ nur zum Schein freigelassen und dann doch gemeuchelt? Diese Schlusspointe hatte den fahlen Beigeschmack einer schlechten Ausrede für ein letztlich doch zu inkonsequent umgesetztes Inszenierungskonzept.

Das Einheitsbühnenbild zeigte die weißen Holzwände einer Art von Atrium in Bassa Selims Landhaus, im Vordergrund ein Rechteck, mal Teich, mal Garten, mal Konstanzen-Bett, je nach Bedarf. Im dritten Aufzug war die Rückwand aufgesprengt, eine Erdhalde (?) dahinter und die Katastrophe schon passiert: das kaputte Haus als Symbol für ein unabwendbares Schicksal, für uneingelöste Wünsche und verlorene Hoffnungen?

Die Bühne wurde funktional gehandhabt, so manches entschwebte (wie die den Garten vorstellenden Farntöpfe) oder wurde herabgelassen (wie die zwei großen Weinkaraffen). Die hellen, in Summe etwas einförmigen Kostüme brachten auch nicht viel Kontrast in die Optik. Das ganze atmete insgesamt ein wenig die gepflegte Langweile eines russischen Landsitzes in der tieferen Provinz auf dem gerade ein Tschechow-Stück aufgeführt wird. Das „Serail“ war nur punktuell präsent – wie bereits ausgeführt.

Musikalisch zeigte der Abend deutlich mehr Konturen und wusste bei realistischer Erwartungshaltung durchaus positiv zu überraschen. Schade, dass der Spielwitz eines Karl-Michael Ebner (Pedrillo, kurzfristig für Cosim Ifrim einfsprungen, der sich bei der Generalprobe am Fuß verletzt hat), und einer Andrea Bogner von Seiten der Regie nicht stärker forciert wurde. Stimmlich brachten beide ihre Partien mit viel Frische und der gebotenen Keckheit zu Gehör. Beim „Frisch zum Kampfe“ musste Ebner allerdings schon etwas stärker auf die Stimme drücken (aber es geht ja „zum Kampfe“).

Gregory Frank als Osmin passte mit seinem anglophilen Deutsch nicht unbedingt in die Rolle eines türkischen Aufsehers. Der Volksoperndebütant ließ keinen voluminösen Bass hören, war aber profund genug unterwegs, um einen glaubhaften, im Witz eher schaumgebremsten Osmin vorzustellen.

Daniel Behle überzeugte mit schönem, jugendlich-gewachsenen Mozarttenor, der gut die Balance zwischen Feinfühligkeit und männlichem Auftreten zu wahren wusste. Für Kristiane Kaiser lag nicht alles, was sich Mozart für „geläufige Konstanze-Gurgeln“ ausgedacht hat, im locker singbaren Bereich. Ihr Sopran klang an diesem Abend für solche „Bravour“ eine Spur zu zart, dafür stand stärker Konstanzes seelische Zerrissenheit im Vordergrund, die feinfühlig vorgetragene Klage – ein Aspekt, der sehr gut mit dem Regiekonzept harmonierte.

August Zirner war inszenierungsbedingt als Bassa Selim kaum erkennbar – europäisch gewandet, ohne Hauch von Exotik, in Spiel und Sprache ein ziemlich einfach gestrickter Nebenbuhler Belmontes.

Sascha Goetzel am Pult legte viel Wert auf die einzelnen Orchesterstimmen. Die Streicher durften schön ausmusizieren, moderne Transparenz wurde von ein angenehm anzufühlenden, leicht „erwärmten Klangbild“ begleitet. In den Ensembles, vornehmlich im Quartett des zweiten Aktes, ahnte man den späteren Mozart deutlich. Die Spannung hielt nicht den ganzen Abend lang, auch Goetzel war, wie mir schien, weniger auf das „Singspiel“ fokussiert. Das „Bacchus“-Duett führte er zu einer bemerkenswerten, energiegeladenen dionysischen Steigerung.

Das Publikum urteilte beim Schlussapplaus über die Inszenierung mit mildgestimmter Kenntnisnahme – so wie man das rauschende Trommeln des Gewitterregens auf dem Volksoperndach als Begleitmusik zum zweiten Akt hatte hinnehmen müssen: es gab keine Bravorufe und kein Missfallen. Die Sänger, Dirigent und Orchester wurden teils recht heftig beklatscht. Ein einsamer Buhrufer vom zweiten Rang meldete beim Dirigenten und bei Bassa Selim Widerspruch an.