L'ORFEO
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Staatsoper
16. 6. 2022
Premiere

Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado


Chorakademie der Wiener Staatsoper, Jugendkompanie der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, Europaballett St. Pölten

Die Musik / Die Hoffnung / Echo - Kate Lindsey
Orfeo - Georg Nigl
Euridice - Slávka Zámecníková
Botin / Proserpina - Christina Bock
Plutone - Andrea Mastroni
Caronte - Wolfgang Bankl
Apollo - Hiroshi Amako
Nymphe - Antigoni Chalkia
Ein Hirte - Iurii Iushkevich
Ein Hirte / Ein Geist - Narumi Hashioka
, Aaron McInnis


Zweite Annäherung, dritte Aufführung der Premierenserie
(Dominik Troger)

Das große Rätsel der Neuproduktion von Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ an der Wiener Staatsoper ist gelöst: Euridice stirbt an einer Partydroge. Offenbar ist es uncool, von einer Schlange gebissen zu werden?!

Welche Schlange könnte Euridice gebissen haben? Wahrscheinlich eine Hornotter (Vipera ammodytes). Die Mortalitätsrate nach einem unbehandelten Biss der Hornotter liegt laut Wikipedia bei rund fünf Prozent. Schlangenbisse sind zwar keine Alltäglichkeit, aber erst vor wenigen Wochen erregten zwei Meldungen von Bissen dunkel gefärbter Kreuzottern (Vipera berus) Aufsehen. Die Tiere wurde von den Medien mit Genuss als „Höllenottern“ beschlagzeilt. Todesfälle nach Schlangenbissen sind hierzulande allerdings rar.

Warum Regisseur Tom Morris auf Partydrogen statt auf Schlangen setzt, ist vor diesem Hintergrund schwer nachvollziehbar. Hat es ihm besser zu seinem „Kommt-alle-herein-wir-machen-jetzt-Hochzeit“-Konzept gepasst, das mit kasperlhaften Lautsprecherdurchsagen zuerst einmal gehörig nervt – sich dann aber zu einem flotten ersten Akt rundet? Doch wie Morris diese Geschichte erzählt, hat weitreichende Konsequenzen, die Messageria um ihre Aufgabe gebracht.

Orfeo und Euridice tanzen in der Staatsopernproduktion zu diesem Zeitpunkt auf zwei langen, zusammengeschobenen Tischen. Zuerst nimmt Orefo ein Schlückchen aus einem kleinen Fläschchen, das ihm ein Hirte reicht, dann Euridice. Orfeo bricht wenig später zusammen, erholt sich aber – Euridice bricht zusammen, sie erholt sich nicht. Als Orfeo den Tod seiner Braut realisiert, bricht er noch einmal zusammen. Allein den starke Effekt der körperlichen Schwäche in so kurzem Abstand zu wiederholen, spricht nicht für die Regie – und der Bericht der Botin vom Blumenpflücken und dem Schlangenbiss scheint vor diesem Bühnengeschehen ohne Sinn. Aber bei den Winkelzügen, mit denen die Regisseure und Dramaturgen heutzutage arbeiten, gibt es für den Schlangenbiss sogar eine zweite Erklärung: Laut Wikipedia wird in England eine Mischung aus Cider, hellem Bier und (optional) einem Schuss Schwarzer Johannisbeere als „Snakebite“ bezeichnet. Ob man davon tot umfällt? Aber wer weiß, was die Hirten dem Brautpaar an stimulierenden Substanzen alles hineingemischt haben.

Die Zweitbegegnung bestärkte mich in meiner Vermutung, dass das Bühnenbild und die Kostüme die eigentlichen „Matchwinner“ dieser Produktion sind. Wenn sich ein ganzer „Bühnenstreifen“ mit Getöse ablöst und in die Höhe hebt, um Orfeo in die Unterwelt zu versetzen, wenn Wurzeln als schwarze Silhouetten herabhängen und sich in eine dunkelblaue, höhlenartige Landschaft kräuseln, dann hat nicht nur das Auge was zu schauen, sondern jetzt wird auch endlich der Umschlag der Stimmung deutlich spürbar. Nur hätte diese einschneidende Verdüsterung der Hochzeitsfröhlichkeit dem Publikum schon bei der Todesnachricht der Botin einen Kälteschauer über den Rücken jagen müssen.

Orfeo hat nach der Pause in diesem blauen Dämmerlicht seinen großen Auftritt – und Morris pfuscht ihm nicht hinein. Aber dass Euridice nicht in der Unterwelt verbleibt, dass Orfeo sie im fünften Akt in körperlicher Gegenwart beklagen darf, schafft weitere Unklarheiten. Was hat Euridice – ob tot oder lebendig – im fünften Akt auf der Bühne verloren? Und bei Apollo handelt es sich – dem Kostüm nach zu schließen – offenbar wirklich um den Hirten vom Beginn. Die Verklärung des Orfeo findet nicht statt, er steigt nicht mit Apollo in den Himmel auf. Die Inszenierung befindet sich hier wieder in deutlichem Gegensatz zum Libretto.

Auf musikalischer Seite hat sich der Gesamteindruck verfestigt: Sie ist letztlich doch ein Kompromiss mit der Größe des Hauses, auch wenn es sich in vielen Punkten um einen gelungenen Kompromiss handelt. Der um zusätzliche Mitwirkende erweiterte Concentus Musicus unter Pablo Heras-Casado packte seine ganze Spielfreude aus, mit stampfenden Tänzen und reizvoll dargebrachter „Unterweltsmusik”. Das Detail wird mit großer Geste nachgezeichnet und Monteverdi entwickelt stellenweise ungewohnte „symphonische“ Qualitäten, auf die man sich als Zuhörer erst einstellen muss.

Der Orfeo von Georg Nigl reichert im Forte seine Klage manchmal mit einem „Zuviel“ an Expressivität an, Momente in denen sein Gesang etwas „überbelichtet“ wirkt. Dann regt sich in Orfeo die gequälte Kreatur eines späteren, mythenfernen Zeitalters, das auf keinen göttlichen Beistand mehr hofft. Slávka Zámecniková erzählt als Euridice mit ihrem Sopran von der Reinheit einer untadeligen Geliebten, die vor allem als Projektionsfläche für Orfeos Empfindungen herhalten muss. Morris wollte Euridice darstellerisch „aufwerten“, der „Snakebite“ zu Euridices „Tabledance“ ist insofern Mittel zum Zweck.

Kate Lindsey ist auch als „Allegorie“ mit der Ausdruckskraft gesegnet, die letzte Saison ihren Nerone in „L'incoronazione di Poppea“ zur zwiespältigen Herrscherfigur gekrönt hat. Ob die „Musik“, die „Hoffnung“, das „Echo“ dadurch ein „zu viel“ an Selbstbewusstsein gewinnen? Sie führt ihre Stimme immer ein wenig wie zu einem „Turnier“ auf die Bühne, mit aggressiver Kante bereit zur Attacke. Bei Monteverdi fällt mir das weniger störend auf als bei ihrem Mozart. Die Botin der Christina Bock wird durch die Regie um ihren Erfolg gebracht und es klingt dann alles viel zu flach. Als Proserpina ist die Sängerin überzeugender. Ob man sich vor dem Charon des Wolfgang Bankl fürchtet? Und Andrea Mastroni lieh dem Plutone eine angenehm füllige Bassstimme, die Plutones Düsternis mit Charme umspielte. Die solistisch-gesanglichen Beiträge der Hirten und Nymphen schwächelten ein wenig, die Stimmen sind für das Haus etwas klein, dafür wird mit Engagement getanzt und gesungen.

Das Publikum reagierte wieder mit viel Applaus, an die zehn Minuten lang.