WERTHER
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Staatsoper
15. April 2012

Erstaufführung der Baritonfassung an der Wiener Staatsoper

Dirigent: Michael Güttler

Werther - Ludovic Tézier
Albert - Tae-Joong Yang
Le Bailli - Andreas Hörl
Charlotte - Vesselina Kasarova
Sophie - Daniela Fally
Schmidt - Peter Jelosits
Johann - James Roser


Es muss nicht immer ein Tenor sein
(Dominik Troger)

Die Erstaufführung der Baritonfassung von Jules Massenets „Werther“ an der Wiener Staatsoper erwies sich als interessante Hörerfahrung. Man sollte diese „Rarität“ nicht versäumen: diese Oper funktioniert auch ohne „Tenor“.

Wie es zu dieser Aufführung kam, das erläuterte Staatsoperndirektor Dominique Meyer am Beginn der Vorstellung. Nach der Absage von Roberto Saccà habe man so schnell keinen geeigneten Ersatz gefunden – und der Bariton Ludovico Tézier habe nicht nur den „Werther“ schon gesungen, sondern wegen Proben ohnehin am Hause geweilt. Weiters dankte Meyer dem Orchester, dass es diese Fassung so schnell einstudiert habe. Und der Abend sollte zeigen: Das Risiko, dem Publikum den Tenor „vorzuenthalten“, hat sich gelohnt.

Als Jules Massenet Anfang des 20. Jahrhunderts die Partie des Werther für den führenden Bariton seiner Zeit, Mattia Battistini, eingerichtet hat, wird er natürlich nicht daran gedacht haben, wie die Wiener Staatsoper im Jahr 2012 ihre Besetzungsprobleme löst. Spannender ist die Frage, welche Änderungen Massenet vorgenommen hat. Eine 2009 in englischer Übersetzung von Jacques Chuilon verfasste Sängerbiographie („Mattia Battistini. King of Baritons and Baritone of Kings“) gibt darüber Auskunft. Demnach habe Massenet die Partie nicht transponiert, sondern da und dort wäre eine Note leicht abgeändert und tiefer gesetzt worden. Weiters heißt es, die Partie würde trotzdem für einen Bariton sehr hoch liegen, und ein vom Autor zitierter zeitgenössischer Rezensent war der Meinung, nur Battistini könne das als Bariton singen. (Seite 139) Diese Stelle korrespondiert mit einer Anmerkung auf Seite 136, wonach die Änderungen von Massenet nicht darauf abzielten, eine Neufassung zu erstellen, um etwa auch die Tessitura anzupassen – weshalb die Orchesterbegleitung (Bläser!) stellenweise für eine Baritonstimme zu laut sei.

Wer sich zu den „Quellen“ begeben möchte, der wird in der Diskographie von Mattia Battistini mit Aufnahmen aus dem Jahre 1911 fündig. Es gibt zudem eine Einspielung des „Werther“ mit Thomas Hampson. Mit Ludovico Tézier hat nun die Bariton-Fassung des „Werther“ einen „Verfechter“ gefunden, der in der Linie französischer Gesanges-Tradition steht – und der mit kultiviertem Stil ein sehr reichhaltiges und textnahes Portrait des Mannes (!) Werther auf die Bühne stellte.

Tenöre unter den Lesern mögen die nächsten Zeilen überspringen, aber das „Image“ des „romantischen“ Werther als ernst zu nehmender Geliebter Charlottes und Nebenbuhler Alberts gewinnt in der Bariton-Fassung für meinen Geschmack deutlich. Zwar bedarf es einen Akt lang der Eingewöhnung (und auch Tézier schien hier noch etwas nervös und vorsichtig), um die Erinnerungen an „juvenilere“ Tenorstimmen zur Seite zu schieben, dann aber spürte man die virile Leidenschaftlichkeit dahinter stärker, als bei der poetischen Verliebtheit der Tenöre, die sich zusätzlich oft noch in ein neurotisches Mäntelchen kleidet. Zudem habe ich es als sehr angenehm empfunden, dass Tézier darstellerisch eine noble Zurückhaltung zeigte, ohne „veristischen Aktionismus“. Bei ihm – und das scheint der Vorteil der Bariton-Fassung überhaupt zu sein – wirkte Werther charakterlich reifer, auch in der Wahl der Todesart überlegter. Dadurch wurde sogar Charlotte noch aufgewertet, weil ihre Gefühle jetzt zwischen „Mann“ und „Pflicht“ zu wählen haben – und es entwickelte sich ein Beziehungsdreieck mit emotional gleichwertigen Partnern. Oder, um es ein wenig pointierter zu formulieren: Ein Tenor macht Charlotte mehr Mitleid abspenstig als Leidenschaft. Téziers Bariton schien nicht übermäßig einschmeichelnd timbriert, klang manchmal ein wenig gepresst, ließ aber eine gute Höhe hören und war ausreichend durchschlagskräftig.

Vesselina Kasarova war schon öfter als Charlotte in Wien zu Gast. Ihr Mezzo klang an diesem Abend homogener und das tiefe Register war deutlich besser eingebunden als schon gehört. In Interviews denkt Kasarova derzeit über einen Fachwechsel nach, die großen „Verdi-Partien“ locken. Die Stimme ist, wie mir scheint, eine Spur dunkler und dramatischer geworden. Ihre Charlotte verströmte an diesem Abend den etwas herben Charme der Tragödie, weit entfernt von der psychologisch recht kühl sezierenden Feinzeichnung dieser Inszenierung (die ich persönlich allerdings schon bei der Premiere für ein Missverständnis gehalten habe). Charlottes Charakter wurde von Kasarova nicht wirklich sympathisch dargestellt, eher kantig, verhärmt, getrieben, ihre Seele schien von der ersten Szene an von einem Schatten überdeckt. Überhaupt hatte die emotionale Befindlichkeit des Abends ein bisschen etwas vom Fluidum eines nordischen Gesellschaftsstücks, die Höllen einer Ehe und die Gespenster der Vergangenheit, die man nicht mehr los wird – oder so ähnlich.

Michael Güttler am Pult, der dann und wann fast wagnerisch aufspielen ließ, zeitweise dramatisch drängend, hat diese Komponente noch verstärkt, wobei die Streicher natürlich in gewohnter Üppigkeit für die passenden „Gefühle“ sorgten.

Tae-Joong Yang debütierte als etwas hart timbrierter, solider Albert. An Rollenvorgänger darf man ihn (noch) nicht messen. Daniela Fally (ebenfalls Rollendebüt) brachte mit ihrem leicht soubrettenhaften Tonfall eine lebendige Leichtigkeit in die Rolle der Sophie ein, die für meinen Geschmack zu ihren stimmlich meist dunkler gefärbten Rollenvorgängerinnen einen Mehrgewinn darstellte. Sophie gewann dadurch eine Frische, die sinnfällig mit Charlotte kontrastierte – und deutlich machte, warum Werther keinen Gedanken daran verschwendet, die jüngere gegen die ältere Schwester einzutauschen: viel zu unterschiedlich ist ihr Naturell. Die paar Koloraturen und Spitzentöne absolvierte Fally mit der gewohnten Leichtigkeit.

Wenn die Staatsoper schon bei Tenören so hohe Qualitätsmaßstäbe setzt, dass sie auf der Suche nach einem passenden Rollenvertreter auf einen Bariton „kommt“, dann sollte man auch der „Peripherie“ mehr Augenmerk widmen. Die Eingangsszene mit der Weihnachtslied-Probe war unter diesem Aspekt wohl kaum dem Image einer Wiener Staatsoper würdig.

Der Schlussapplaus dauerte rund sechs Minuten lang. Ludovico Tézier wurde beim Solovorhang stark akklamiert und war sichtlich erfreut über diesen Erfolg.