WERTHER
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Staatsoper
Premiere
19.2.2005

Dirigent: Philippe Jordan
Inszenierung: Andrei Serban
Bühne: Peter Pabst

Kostüme: Peter Pabst und Petra Reinhardt

Werther - Marcelo Álvarez
Charlotte - Elina Garanca
Albert - Adrian Eröd
Sophie - Ileana Tonca
Le Bailli - Alfred Sramek
Johann - Marcus Pelz
Schmidt -
Peter Jelosits
Kätchen - Gabriella Bessenyei
Brühlmann - Clemens Unterreiner


Brot oder Schwedenbomben?
(Dominik Troger)

Wenn Werther Charlotte zum ersten Mal begegnet, verteilt sie Brot an ihre jungen Geschwister. An der Staatsoper wird dieses Brot in Form von üppigen Schwedenbomben gereicht. Was nach einem vernachlässigbaren Regieeinfall aussieht, offenbart die Problematik dieser Inszenierung. Die Utopie einfachen Lebensglücks weicht egoistischer, gefühlskalter Trieberfüllung.

Werther verliebt sich in Charlotte „auf den ersten Blick“. Aber er verliebt sich nicht eigentlich in sie. Charlotte ist ihm vom diesem ersten Moment an das Ideal seiner Lebensutopie. Wie schildert Goethe diese Begegnung? „In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, (...)“ Massenet hat diese „Brotszene“ nahezu identisch übernommen.

Diese erste Begegnung ist prägend. Werther, der eben noch die Natur besungen hat, der sich von der Stadt aufs Land begeben hat, um seine „Hütte“ zu suchen, ist empfänglich für solche Ideale. Es ist eine Mischung aus Idylle, harmonischer Sittlichkeit und mütterlicher Hingabe, die ihm in Lotte begegnet. Charlotte spendet Brot und Lebenskraft. In ihrer Einfachheit widerspiegelt sich Rousseaus’sches Gedankengut von der Rückkehr zu einer ursprünglichen „natürlichen“ Gesellschaftsordnung. Werther findet hier alles, was er sucht. Wie heißt es nicht bei Goethe in einem Brief vom 21. Junius? „So sehnt sich der unruhige Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er in der weiten Welt vergebens sucht.“ Auch Massenet ist die natürliche Einfachheit Charlottes wichtig. Er betont sie gegenüber Goethe sogar noch, wo Lotte immerhin eingesteht, Vergnügen am Tanze zu haben. Bei Massenet führt Sophie Charlotte mit folgenden Worten ein: „Sie näht am Kleide / Noch für den Ball / Sie bliebe gern zurück“. Freilich, das darf sie nicht, weil, wie Schmidt sagt „viele Tänzer auf sie zählen“.

Bei Andrei Serban, der für diese Produktion an der Staatsoper als Regisseur verantwortlich zeichnet, ist diese Idealisierung Charlottes von Anfang an korrumpiert. Sie sitzt gleich zu Beginn im Hintergrund auf der Bühne und schminkt sich. Sie hat ein weißes Kleid an, ist im 50er-Jahre Stil eher glamourhaft herausgeputzt. Sie scheint mit dem Kopf schon mehr beim Ball zu sein, als bei ihrem engen Familienkreise. Sie verteilt kein Brot, sondern die Kinder bekommen Schwedenbomben: einen süßen Happen, der ihr Ego befriedigt und keinen Hunger stillt. Mit den Gefühlen geht das genauso. Das Ideal, dem Werther auf den Leim geht, ist von Anfang an eine leere Versprechung, wie ein aus Werbung und Konsumzwang genährtes Wahnbild. (Dieser Schluss liegt insofern nahe, weil Serban die Handlung aus dem Jahr 1772 in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verlegt hat.) So wird nun jeder gleichsam selbst zur schwimmenden Insel, die zur Glücksuche verdammt durch das Leben treibt.

Laut Serban (wie im Programmheft nachzulesen ist) hat Charlotte auch den Schwur am Totenbett ihrer Mutter nur erfunden. Es sei nichts Anderes als eine „Ausrede“, so Serban, dass sie dieser unter Eid versprochen habe, Albert zu heiraten. Um Werther loswerden, ist Lotte sogar diese Lüge recht! Auf diese Weise betreibt Serban die Aushöhlung von Charlottes beispielgebendem Charakter. Auch die Beziehung zwischen Charlotte und Werther ist in den ersten beiden Akten ausgesprochen unterkühlt.

Im dritten Akt nagt plötzlich Liebe in Lottes Brust, sie nimmt sich Werthers Briefe zu Herzen. Aber Serban nützt diese Szene sowie Sophies Erscheinen, um Charlotte weiter in die psychische Enge zu treiben: sie nippt „aus Kummer“ am Cognac und raucht sich eine Zigarette an. Dass Charlotte den Ausweg in Suchtmitteln sucht, wirft ein bezeichnendes Licht auf diesen Charakter, so wie Serban ihn sieht. Mit der Aufgabe ihrer Passivität, dem Kuss, den sie Werther gibt, bevor sie davonstürzt, unterstreicht er ihre persönliche Inkongruenz doppelt und dreifach. Hier gibt es nicht einmal mehr eine Heroik der Pflichterfüllung. Serban destabilisiert Charlottes Persönlichkeit, er treibt sie so weit, dass sie im letzten Akt den waidwundgeschossenen Werther in gieriger und unnatürlicher Vereinnahmung bedrängt. Die Verinnerlichung dieser Liebe zu suchen, ihr metaphysisches Ziel – eine „Tristansche-Vereinigung“ – fällt einem letzten Ausleben banaler menschlicher Triebstrukturen zum Opfer. Aber diese Todesszene ist – die Inszenierung in ihrer Gesamtheit betrachtet – nur konsequent. Das „Brot der Liebe“ ist zur „Schwedenbombe“ geworden. Menschen sind wie Süßstoff, ein austauschbares Surrogat gegenseitiger Lusterfüllung. Werthers Tod wird zur Trotzreaktion eines kindlichen Gemüts, dem das Leben eine Tafel Schokolade verwehrt hat.

Ich habe vorhin von diesen einsamen Menscheninseln gesprochen, die beziehungslos dahintreiben. Serban zeigt das, in dem er am Schluss beispielsweise Albert und Sophie auf die Bühne bringt. Statt den beiden Liebenden, Charlotte und Werther, ihre Intimität zu lassen, werden sie belauscht. Albert erscheint wie ein blasses Vampir, dass seine Gefühlskälte an Charlottes und Werthers blutverschmierten Umarmungen aufwärmt. Albert ist ohnehin von Akt zu Akt unsympathischer geworden, ein Mann ohne viel Leben, mehr eine Puppe, und rachedurstig noch dazu. Werther kann diesem Umfeld nichts entgegenstellen. Serban hat ihn auch nicht gerade mit ausgefeilten Lebensäußerungen durchpulst. Werther ist von Anbeginn dem Tode verfallen, mit seiner schwülstigen, kindischen Schwärmerei, die sich vor allem in Versuchen äußert, Charlotte gegenüber zudringlich zu werden. Nicht nur hier hat die Personenregie versagt. Kein Wunder, dass Teile des Publikums dieser Aufführung ziemlich kühl bis ablehnend begegneten. Andrei Serban musste am Schluss neben Bravorufen eine ganze Menge an Missfallensbezeugungen entgegennehmen.

Dirigent Philippe Jordan teilte das Schicksal des Regisseurs, unterschiedliche Meinungen hervorzurufen. Um einige deutliche Buhrufe kam auch er nicht herum. Jordan vollzog im Ochestergraben, was Serban auf der Bühne vorgegeben hatte. Er forcierte das mit kühler Analytik. Sentimentalitäten wurden gemieden: nur ja kein pastellöses Weichzeichnen, keine verführerischen Emotionen oder Klangfarben. Und wenn es gar nicht anders geht mit den Streichern, dann dezent bitte, zurückgenommen, nur keine Tränen! Jordan lud zu keinem Gefühlsbad, er lud zur kalten Dusche. Massenet wurde von hinten aufgezäumt, immer wieder mit ruppigem Effekt. Die Höhepunkte ließ Jordan ziemlich abrupt losknallen, um danach weiter den musikalischen Fluß mehr zu zerhacken als in Gang zu bringen. Eisstoß um Eisstoß. Die genreartigen Szenen (Amtmann, Schmidt, Johann...) gingen unter, dienten sowohl musikalisch als auch der Regie als Längen produzierender Lückenbüßer.

Das Bühnenbild verströmte die kleinbürgerliche Idylle eines städtischen Naherholungsgebietes mit angrenzendem Freibad. Es hatte eine einschläfernde Wirkung – und gerne wäre man in den ersten beiden Akten in angenehme Nachmittagsruhe verfallen, ausgestreckt unter dem mächtigen Baum, dessen meterdicken, bühnebeherrschenden Stamm eine Aussichtsplattform umspannte. Durch den Baum konnte man den Gang der Jahreszeiten gut nachvollziehen: grüne Blätter, braunes Laub, Schnee. Der Baum blieb allerdings immer präsent: auch im dritten und vierten Akt. Da wurde nur davor Charlottes Zimmer aufgebaut (mit stilechter S/W-Fernseher-Radio-Garnitur), sowie am Schluss, wenn Werther in seiner Stube auf seinem Bett im Schnee liegt (Koffer und Schreibmaschine daneben) und Albert sich hinter dem Stamm versteckt. Das wirkte dann schon ziemlich eigenartig. Am Beginn sangen die Kinder (mindestens ein Dutzend) ihre Weihnachtslieder in Badeanzügen. Wenig originelle Harmlosigkeiten moderner Opernregie.

Für mich haben die SängerInnen durch diese Inszenierung mehr verloren als gewonnen. Wenn sich Charlotte nicht als gefühlvolles Wesen zeigen darf, was bleibt dann übrig? Ein kalter Backfisch? Mag sein, dass Elina Garancas Stimme für die Partie noch ein wenig zu leicht ist. In Schwung kam sie jedenfalls erst so richtig ab dem dritten Akt. Auch im Ausdruck gibt es sicher noch Potential, wenn sich das seltsame Regiekonzept einmal abgeschliffen hat. Marcelo Alvarez war sehr gut bei Stimme und einsatzfreudig. Ob er ein „idealer Werther“ ist, darüber kann man streiten. Im dritten Akt war er nahezu großartig, da ist auch das Publikum aufgewacht. Das war alles sehr gut studiert und höhensicher. An emotionalen Schattierungen brachte er hingegen wenig über die Rampe.

Adrian Eröd erfüllte die ihm zugedachte Rolle mit Beflissenheit, ebenso Ileana Tonca als Sophie. Der Albert musste wohl so blass sein, die Sophie hätte noch spritziger, soubrettenhafter agieren können. Das restliche Ensemble verschwand schon fast hinter der Wahrnehmbarkeitsschwelle einer von bürgerlicher Langeweile und Biergartendunst geschwängerten Parklandschaft – angesiedelt zwischen Freibad, Würstlverkäufer und Kapelle, behütet von einem trägen, schattenspendenden Riesenbaum.

Garanca und Alvarez räumten nachher viele Bravorufe ab, die Meinungen zum Regisseur waren sehr geteilt. Aber begonnen hatte die Vorstellung mit einer Gedenkminute für den vor wenigen Tagen verstorbenen Marcello Viotti...

Die Kritiken zur "Werther"-Premiere zeigen sich gegenüber der Inszenierung ziemlich skeptisch.

„Unter dem Mammutbaum“ titelt Derek Weber in den Salzburger Nachrichten (21.2.) seine Besprechung der Aufführung. Ihn hat die Oper „kalt“ gelassen und erfindet, dass es gerade an "Personenführung und Rollenzeichnung“ gemangelt habe. Elina Garanca wirkte für ihn im ersten Akt „wie eine ausgekocht-betuliche Abart von Grace Kelly“. Und er findet an diesem Abend viel „Leerlauf“: „Die Spannung hängt durch. Die Nebenfiguren bleiben Schablonen.“ Musikalisch kann er sich mit Jordan vorsichtig anfreunden, Garanca, Álvarez und Eröd werden für ihre gesanglichen Leistungen gelobt.

„Musik ohne Flair“ findet Peter Vujica im Standard (21.2.): „Schwer zu sagen, wer da wen nicht mag. Der Dirigent nicht Massenet. Oder das Orchester nicht den Dirigenten.“ Der Bühnenbaum ist für ihn ein „botanisches Monster“. Das Spiel finde im „miefigen Outfit der Fünzigerjahre“ statt. Álvarez und Garance haben für ihn „zwei Akte lang mehr oder weniger unverbindlich aneinander vorbei agiert“. Erst der Schlussakt hat ihn überzeugt und „mitreißendes Theater“ geboten. Da ist für ihn auch Álvarez zu „bewunderswerter stimmlicher Hochform“ aufgelaufen.

Für Wilhelm Sinkovicz in der Presse hat vor allem Elina Garanca gegen die Intentionen der Inszenierung (auch hier fällt der Vergleich mit Grace Kelly) eine „herausragende Leistung modelliert“ mit „sympathischer Natürlichkeit“. Álvarez hat bei ihm weniger gepunktet und er findet, das er den stilistischen Anforderungen der frz. Spieloper in „Agilität und Geschmeidigkeit der Phrasierung“ nur in „Ansätzen gerecht“ wird. Wiewohl er die Arie im dritten Akt „wirkungsvoll“ gesungen habe. Philippe Jordan habe am Pult „für extreme Pianissimi und beredte Artikulation“ gesorgt. Er findet aber, dass hin und wieder eine „natürliche Phrasierung über die Taktstriche hinweg gut täte“. Die Inszenierung bewegte sich für ihn „am Rande der Lächerlichkeit“.

Irmgard Steiner im Neuen Volksblatt lobt Jordans „umsichtigen“ und „transparenten Orchesterklang“. Marcelo Álvarez war für sie der „stimmliche Dominator“. Die Inszenierung wird von der „weniger glücklichen Idee“ beeinträchtigt, „die Liebesgeschichte ins 20. Jahrhundert zu verlegen“.