LA BOHÉME

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Theater a.d. Wien
13.8.2002

Klangbogen Wien

Dirigent: Marco Guidarini
Inszenierung:Guy Joosten
Bühne: Johannes Leiacker

Kostüme: Jorge Jara

Marcello - Mikhail Davidoff
Rodolfo - Vittorio Vitelli
Schaunard - Urban Malmberg
Musette - Katja Lytting
Mimi - Juanita Lascarro
Visconte Paolo / Colline - Luis Ledesma
Gaudenzio / Durand - Anthony Mee
Barbemuche - Steven Gallop
Eufemia - Adrineh Simonian
Il Signore del primo piano - Johannes Thausig

Sommer-Oper II
(Dominik Troger)

La Bohéme von Ruggero Leoncavallo: Das bedeutet zwei Akte lang Opernparodie und zwei Akte lang Beziehungskrisen. Und an diesem „Schisma“ wird auch weiterhin eine glanzvolle „Wiederentdeckung“ des Werkes scheitern.

Das Problem ist wahrscheinlich, dass man bei Leoncavallo’s Fassung der Boheme-Geschichte keinen emotionalen Bezugspunkt findet. Bei Puccini ist die Sache nach dem ersten Akt klar, bei Leoncavallo beherrscht in den ersten beiden Akten das „Künstler“-Kollektiv die Bühne. Liebeserklärungen sind Mangelware und werden mehr angerissen als ausformuliert. Im dritten Akt jedoch, da öffnen sich plötzlich die emotionalen Abgründe, die Parodie verliert sich, und während Puccini von Anfang an um seine beiden Hauptdarsteller eine Gloriole romantischer Empfindsamkeit legt, zeichnet Leoncavallo mehr das Psychogramm einer zerfallenden Clique, ziemlich hart und ohne Verklärung. Er bedient sich dabei eines musikalischen „Synkretismus“, der sich nicht scheut im Vorspiel des dritten Aktes Wagner‘s Tristan taktelang zu reduplizieren, aber diesem fehlt genau jene das Publikum einnehmende Identifikationsmöglichkeit, die es gebraucht hätte. Und weil man ja als Publikum der „Wahrheit“ auch nicht so gerne ins Auge schaut, musste zwangsläufig Puccini siegen, der die – bei Leoncavallo sehr realistisch gezeichnete „Boheme“ – in das verführerische Zuckerwasser seiner schwelgenden Melodien getaucht hat.

Die Inszenierung versuchte es im ersten Teil mit parodistischem Schwung und verlor sich nach der Pause in einem nicht näher definierbaren Niemandsland, gebaut aus hohler Allerweltsgestik und getragen von einem deutlich sichtbaren Unvermögen, den einzelnen Figuren Charakter und Persönlichkeit zu verleihen. Denn der Schlüssel zu diesem dritten und vierten Akt wäre ohne Zweifel eine intensive Personenregie gewesen. Aber so wird der Abend immer trister, und endet im vierten Akt auf einer leeren Bühne. Kein Requisit verschönert die trostlose Weihnachtsstimmung. (Sogar der aus alten Holzsesseln errichtete „Scheiterhaufen“, der das Bühnenbild im dritten Akt zur Paraphrase eines Kellerabteils gemacht hat, ist verschwunden.) Da hocken dann vor einem virtuellen kalten Ofen und bei einem virtuellen kärglichen Mahle und bei virtuellem, vom Orchester Wagner’isch angefachtem, eisigem Wind, frierend die Künstler und ringen sich noch ein paar Scherzchen ab. Dann schaut Mimi vorbei, sehnt sich nach dem Weihnachtsfest vom vergangenen Jahr, und stirbt.

Vom postmodernen Café Momus im ersten Akt bis zu diesem leeren Raum, der nur noch Seiten- und Rückwand des Café‘s stehen lässt (wie aus hellen, kühlen Marmorplatten gebaut), findet eine zielgerichtete szenische Abstraktion statt, die die Sänger in ihrem darzustellenden Schmerz und die Zuschauer in ihrem Mitgefühl zunehmend alleine lässt. Gewonnen wird dadurch nichts, aber viel verloren, weil Leoncavallo ohnedies genug Schwierigkeiten hat, auf die notwendige Dosis an Sentimentalität zu kommen. Das soll aber jetzt nicht heißen, dass die Inszenierung vor der Pause besser gewesen wäre. Schon die Anordnung der Tische im Café Momus war kaum nachvollziehbar: Denn die waren aufgestellt wie in einer Schulklasse, die Tischchen hinter- die Reihen nebeneinander, mit jeweils nur einem (!) Sitzplatz. Rodolfo, Schaunard, Mimi undsoweiter müssen sich quer über die Bühne von Tischchen zu Tischchen unterhalten, und manchmal steigen sie auch auf diese und hüpfen pupertär herum. (In dem Café sitzen auch zwei – oder waren es drei – schwarze Puppen, stumme Gäste, deren Funktion völlig rätselhaft bleibt.) Angereichert wurde der erste Akt durch die Einbindung der Damen- und Herrentoiletten am rechten Bühnenrand. Nein, natürlich nur der Türen. Aber das ist insoferne wichtig, weil sich dadurch innovative „Abgangsmöglichkeiten“ ergaben: entweder zum Kotzen (Eufemia) oder Pinkeln (Barbemuche), was die Szene ungemein psychologisch verfeinerte. Also, eine lobende Erwähnung für Guy Joosten, Inszenierung, wird sich hier wohl kaum ausgehen – eher so ziemlich das Gegenteil. (Dasselbe Produktionsteam hatte vor zwei Jahren im Rahmen des Klangbogens den „Werther“ auf die Bretter des Theaters an der Wien gestellt. Auch damals spielte das letzte Bild ohne Requisiten auf einer leeren Bühne. Allerdings war die Inszenierung damals in Summe um einiges schlüssiger.)

Es wäre aber unfair, alle Schuld der Regie aufzubürden. Die Herausforderung war sicher eine große, und in Anbetracht der dramaturgischen Unausgewogenheit des Werkes schwer zu meistern. Das trifft auch die Sänger. Denn im dritten und vierten Akt sollen sie plötzlich die Parodie durch Leidenschaft ersetzen. Das Ensemble gab sich Mühe, hier zu einer klaren Linie zu finden, aber die Inhomogenität der Stimmen begann schon auf technischer Seite. Da war viel Ungeschliffenes zu hören, viel Kraftmeierei und wenig nuancierter Ausdruck, teilweise wirkten die Stimmen sogar für das Theater an der Wien schon fast zu klein – und dabei waren zwar jüngere, aber keineswegs unerfahrene Sänger am Werk.

Katja Lytting (Musette) besitzt einen schön-temperierten Mezzosopran, der aber nicht sehr durchschlagskräftig ist, forciertes Singen schlecht verträgt, und nur über eine gepresste Höhe verfügt.

Mikhail Davidoff (Marcello) hat einen etwas unaustarierten Tenor, der in der Mittellage eng wirkt und auch nicht immer ganz sauber klingt. Die Höhe will auch oft erzwungen werden. In der Attacke entwickelt er aber durchaus Charakter und seine Stimme klingt befreiter. In der Staatsoper ging er als Kalaf ziemlich unter, im Theater an der Wien konnte er sich ganz gut durchsetzen.

Juanita Lascarra konnte erst am Schluss den „Mimi“-Bonus für sich gewinnen. Zu Beginn wirkte sie ziemlich soubrettenhaft. Auch sie musste ihrer Stimme oft Gewalt antun, begleitet von einer gefährdeten Höhe. In der Sterbeszene fand sie zu einem lyrisch dahinströmendem Melos, und dann passte es.

Der Schaunard von Urban Malmberg wirkte ziemlich konturlos und blieb einem kaum in Erinnerung.

Der Rodolfo von Vittorio Vitelli konnte sich auf einen schönen, italienischen Bariton berufen, Punkteabzüge gibt es hier für fehlende dramatische Akzente.

Wahrscheinlich ist es Marco Guidarini am Pult zu danken, dass der Abend vor der Pause doch einigen Schwung erzeugte und nach der Pause nicht ganz in den Halbschlaf verfiel. Er dirigierte unauffällig, aber konsequent, und hielt Leoncavallos manchmal fast stenographisch angerissene Themen ganz gut am Zügel. Große Detailverliebtheit ließ er nicht erkennen, aber hier galt es wohl, das Gesamte eingermaßen zu retten und über die Runden zu bringen.

Da Publikum applaudierte, Bravos gab es auch. Wem es gar nicht gefallen hatte, der war ohnehin schon zur Pause gegangen.