AUS EINEM TOTENHAUS
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Theater an der Wien
Premiere
12.5.2007

Dirigent: Pierre Boulez
Inszenierung: Patrice Chéreau

Bühnenbild: Richard Peduzzi
Kostüme: Caroline de Vivaise
Licht: Bertrand Couderc

Choreinstudierung: Jordi Casals

Mahler Chamber Orchestra
Arnold Schönberg Chor

Produktion der Wiener Festwochen in Koproduktion mit Holland Festival, Festival d´Aix-en-Provence, Metropolitan Opera, Teatro alla Scala

Alexander Petrowitsch Gorjantschikow - Olaf Bär
Aleja, ein junger Tartar - Eric Stokloßa
Filka Morozow alias Luka Kusmitsch - Stefan Margita
Der große Sträfling - Peter Straka
Der kleine Sträfling - Vladimir Chmelo
Der Platzkommandant - Jiri Sulzenko
Der ganz alte Sträfling - Heinz Zednik
Skuratow - John Mark Ainsley
Tschekunow - Jan Galla
Der betrunkene Sträfling - Tomas Krejcirik
Der Koch - Martin Barta
Der Pope - Vratislav Kriz
Der junge Sträfling - Olivier Dumait
Dirne - Susannah Haberfeld
Häftling als Don Juan und Brahmine - Ales Jenis
Kedril - Marian Pavlovic
Schapkin - Peter Hoare
Schischkow - Gerd Grochowski
Tscherewin - Andreas Conrad


Gelungener Festwochenstart
(Dominik Troger)

Leos Janáceks letztem Bühnenwerk ist die einzige Opernproduktion der diesjährigen Wiener Festwochen gewidmet. „Aus einem Totenhaus“ führt in die Schrecknisse eines Straflagers im zaristischen Russland. Pierre Boulez und Patrice Chéreau sorgten für die musikalische und szenische Umsetzung.

Leos Janácek hat das Libretto nach einer Vorlage von Dostojewski gefertigt („Aufzeichnungen aus einem Toten Hause“). Es gibt keine Hauptpersonen im klassischen Sinn, aber immer wieder treten einzelne Figuren aus dem Kollektiv und berichten von ihrem Leben. Eine sehr locker gespannte erzählerische Klammer bildet die Figur des Alexander Petrowitsch Gorjantschikow: man erlebt am Beginn des Werkes seine Ankunft im Lager, am Schluss seine Freilassung. Nähere Hintergründe erfährt nicht. In diesem Lageralltag (der in der Partitur mit grellen Rhythmen, Kettengerassel und Ostinatostrecken herausgestrichen wird) ereignen sich einige Episoden, die in kurzer, protokollhafter Darstellung am Zuseher vorüberziehen als Bestandsaufnahme menschlichen Leidens. Die Spieldauer des 1930 uraufgeführten Werkes liegt bei knapp eindreiviertel Stunden.

Betrachtet man das „Totenhaus“ im zeitlichen Kontext, dann fallen einem Parallelen zu Alban Bergs „Wozzeck“ auf (ein Punkt, der auch im Programmheft zur Aufführung in einem Beitrag von Gavon Plumley angesprochen wird). Bei Janácek wird der Wozzeck’sche Existentialismus ins Kollektive umgegossen – das Leid der Kreatur hat sich in das Leid des modernen Massenmenschen verwandelt. Der einzelne treibt in diesem Kollektiv dahin, gestoßen und getreten – manchmal wird er auf den Wellenkamm gespült und aus dem uniformen Meer herausgehoben: sei es durch eine einzelne Tat oder dadurch, dass er diese Tat in exhibitionistischer Weise vor einer Zuhörerschar noch einmal erzählerisch durchlebt. Danach wird er wieder von der dumpfen Lebensqual des (Lager-)Alltags verschluckt. Botschaften einer darüber hinausweisenden Humanität sind rar gestreut (etwa der Satz des Alten Sträflings im dritten Akt: „Auch ihn hat eine Mutter geboren!“), im Mittelpunkt steht die Wirkung einer aus der unmittelbaren Anschauung gewonnenen Betroffenheit, die keiner erklärenden oder ideologisierenden Ausführungen bedarf.

Die Herausforderung bei der szenischen Umsetzung liegt in diesem Spannungsfeld zwischen Kollektiv und Individuum, dem nur ein beiläufiges, aber kein über das gesamte Werk hinweg entwickeltes Identifikationspotential zukommt. In diesen kleinräumigen Erzählungen, wo Janácek musikalisch auf Streicher setzt und melodiöse Ahnungen wie Erinnerungen weckt, die durch eine verhärtete Kruste brechen (so wie sich hin und wieder seelische Regungen unter vom Lagerleben, Arbeit und Wetter gegerbter Gesichtshaut abzeichnen mögen), steht dann für diese einzelnen Figuren alles auf dem Spiel. Egal ob sie nun Schischkow, Skuratow oder Luka Kusmitsch heißen: in diesen Berichten passiert zwar für kurze Zeit die Rückkehr zu ihrer eigenen Geschichte und Identität, aber sie ziehen so schnell vorüber, dass der Zuseher dieses Leben in seiner Eigenart kaum begreifen kann. Zurück bleibt nur ihr Statistendasein in einem fortschreitenden Prozess der Entmenschlichung.

Patrice Chéreau entwickelte seine Deutung mit leicht abstrahiertem Realismus. Der Bühnenbau besteht aus beweglichen grauen, betonartigen Wänden an den Seiten oder im Hintergrund, bietet zweckmäßige Gefängnishofatmosphäre und sparsamen Requisitengebrauch nach Bedarf. Die Gefangenen sind nicht uniformiert, sondern unterschiedlich, aber dem Orte entsprechend schäbig gekleidet. Uniformen tragen nur die Wärter. Es gibt zwei Gefangene mit Armbinden, die offenbar Ordnungsfunktionen für das Wachpersonal ausführen: ein Hinweis auf Hierarchien unter den Gefangenen. Am Schluss des ersten Aktes regnet es eine Riesenladung Altkarton und -papier (Plakatreste etc.) auf die Bühne, die von den Gefangenen am Beginn des zweiten Aktes „aufgearbeitet“ wird: eine staubige Sache, aber sehr effektvoll. Chéreau inszeniert die einzelnen „Outings“ der Schischkows, Skuratows oder Luka Kusmitschs einfühlsam, versucht, durch das Kollektiv einen Lageralltag auszudrücken: Ankunft von der Arbeit, Abmarsch zur Arbeit, der Feiertag mit der Theateraufführung ... Das klingt alles nach bestem Handwerk – und es würde einen auch sehr verwundert haben, wenn es nicht so gewesen wäre – und trotzdem: persönlich hat mich diese Inszenierung kaum angesprochen und die Unerbittlichkeit von Janáceks Entwurf tönte mir nur beklemmend aus dem Orchestergraben.

Nicht zum ersten Mal stellte sich mir die Frage, wo heute die Grenzen einer herkömmlichen Bühnensprache liegen – und welche Mittel und Wege man findet müsste, um bei der Darstellung von menschlichem Leid sich nicht von vornherein in eine Konkurrenzsituation zu der drastischen, perspektivischen Nähe von Film und Fernsehen zu bringen. Die „Emanzipation der Straflager“ im 20.Jahrhundert ist bestens dokumentiert und es könnte einen in der Art wie Chéreau hier das Bühnenpersonal agieren lässt fast ein Hauch von Gemütlichkeit anfliegen. Die körperlich gut trainierten (oder auch nur gut genährten) Choristen, die gerade von der Dusche kommen, mit eingeschlossen. Mir war das Gebotene zu leichte Kost, um erkenntnishafte Betroffenheit zu evozieren, viel zu deutlich aus dem Standardrepertoire eines gut gepflegten „Regie-Baukastens“ gefertigt.

Pierre Boulez hingegen vereinigte den Mikrokosmos und den Makrokosmos von Janáceks Partitur zu einem durchscheinenden, gläsernen Klang. Boulez ist Komponist und Dirigent in Personalunion und schöpft daraus einen intimen Zugang zur Musik, der sich in diesem Fall von Janáceks „Primitivität“ gespeist zu vibrierender Spannung auflud (vgl. dazu das Interview betreffend Janáceks Musik mit Pierre Boulez im Programmheft). Die Ecken und Kanten dieses Lagerlebens und des entwürdigten Daseins schillerten gewalttätig durch die Musik – aber dabei immer transparent, hellhörig für Details, ein musikdurchfluteter Kristall, mal in grellere, mal in etwas abgemildertere Farben getaucht, abstoßend, irritierend und in seinem Pulsieren von fortreißender Gewalt. Boulez errichtete das Gefängnis aus Tönen, durch das einzelne Menschen wie Schatten geistern und deren violinumflorte Klagen wie Geisterstimmen an den eisernen Gitterstäben zerbrechen.

Auf der Bühne herrschte ein einsatzfreudiges Miteinander, den einen oder anderen Sänger herauszugreifen, scheint mir insofern nicht opportun. Der Applaus war stark und zustimmend, ein voller Erfolg. Schade, dass insgesamt nur vier Aufführungen geplant sind.

In Wien stand das Werk schon lange nicht mehr auf dem Spielplan. An der Volksoper gab es im Juni 1981 eine Neuinszenierung mit positiver Resonanz bei eher geringem Publikumsinteresse.