HÄNSEL UND GRETEL
Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Humperdinck-Portal

Staatsoper
19.11.2015
Premiere


Dirigent:
Christian Thielemann

Regie: Adrian Noble
Ausstattung: Anthony Ward
Licht: Jean Kalman
Video: Andrzej Goulding
Choreographie: Denni Sayers
Kinderchorleitung: Johannes Mertl

Peter, Besenbinder - Clemens Unterreiner
Gertrud, sein Weib - Janina Baechle
Hänsel - Daniela Sindram
Gretel - Ileana Tonca
Die Knusperhexe - Michaela Schuster
Sandmännchen
- Annika Gerhards
Taumännchen - Annika Gerhards


Ein philharmonisches Märchen
(Dominik Troger)

Zum ersten Mal seit der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper im Jahr 1955 wird im Haus am Ring Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ gespielt – offenbar auf ausdrücklichen Wunsch von Christian Thielemann, der mit diesem Werk seine zweite Premiere am Haus bestritt.

Wo Christian Thielemann drauf steht, ist auch Christian Thielemann drin: ein orchestraler Klangzauber, der den Wagner im Humperdinck so recht zu würdigen weiß. Empfindsames Streicherraunen und berückende Solophrasen paarten sich mit gewichtigen Einwürfen der Blechbläser. Das Raffinement von Humperdincks volkstümlicher Liedhaftigkeit wogte zwischen „Meistersinger“, „Walküre“ und „Waldweben“. Der „Abendsegen“ vor der Pause formte sich unter Thielemanns Dirigat zur Apotheose schwerblütiger Spätromantik, die dem Traum der Kinder von den 14 Engeln ein musikalisches Himmelszelt von gerade zu imperialer Pracht zur Seite stellte. Der dunkle Orchesterklang, ein Hang zur majestätischen Wiedergabe von Musik, den kann Thielemann nicht verleugnen – und so sorgte er an diesem Abend für ein üppig ausmusiziertes „philharmonisches Märchen“, bei dem die naive Frohsinnigkeit des musikdramatischen Entwurfs in Summe aber doch ein wenig zu kurz kam.

Aber vielleicht zähle ich auch nur zu jener „Fraktion“ des Stammpublikums, die sich gerade von Thielemann einen „Palestrina“ gewünscht hätte – und die die Meinung vertritt, dass „Hänsel und Gretel“ an der Volksoper ohnehin viel besser aufgehoben ist. Die dortige Inszenierung mit ihrer märchenhaft-kitschigen und lebkuchen-hexenbösen Ausstattung ist dermaßen gelungen, dass beim Marktbegleiter Staatsoper nur ein radikaler Gegenentwurf Sinn gemacht hätte – aber welches Publikum will sich einen solchen wirklich antun?

Die Besetzung des Premierenabends hatte noch eine überraschende Veränderung erfahren: Adrian Eröd musste seinen Auftritt wenige Stunden vor Vorstellungsbeginn absagen. Clemens Unterreiner übernahm kurzfristigst und gab einen sing- und spielfreudigen Peter Besenbinder. Janina Baechle wirkte als darstellerisch resolute Mutter stimmlich nicht allzu frisch, ihre Bühnenkinder Hänsel (Daniela Sindram) und Gretel (Ileana Tonca) spielten und sangen beherzt den Besenbindernachwuchs. Sindram war selbst während der Proben erkrankt, und erst in den letzten Tagen wieder fit geworden, Ileana Tonca mit warm timbriertem lyrischen Sopran (der in der Höhe allerdings etwas unter „Stress“ geriet), war für die erkrankte Chen Reiss eingesprungen. Annika Gerhards, die das Sandmännchen / Taumännchen in Personalunion auf die Bühne stellte, sang mit etwas schmaler und leicht flackriger Stimme, die Mühe hatte, sich gegenüber dem Orchester zu behaupten. Michaela Schuster hinterließ als Hexe einen zu unausgewogenen Eindruck – gesanglich und darstellerisch.

Die Inszenierung von Adrian Noble ist konventionell märchenhaft. Zum Vorspiel versammelt sich eine viktorianische Familie (um 1890) zu Weihnachten, um einer Projektion von Fotografien beizuwohnen. Die Kinder schleichen sich nach der Darbietung noch einmal in das Zimmer mit dem Projektor – und die Projektion gewinnt ein märchenhaftes Eigenleben. Durch diesen Trick kann Noble die Geschichte ohne große Veränderungen erzählen – doch die Sache hat einen großen Nachteil: Die Bühne ist mit einer schwarzen Blende versehen, die in Fortführung dieser Idee dem Publikum das Bühnengeschehen als „Projektion“ vorstellen soll. Diese Blende deckt oben und an der Seite einen relativ großen Ausschnitt ab. Bereits von der Galerie Seite erste Reihe sieht man nicht mehr ganz in den Bühnenhintergrund – wodurch mir die Projektion der Hexe beim Knusperhäuschen entging.

Noble arbeitet immer wieder mit Projektionen: humorvoll der große Mond mit sprechender Mimik, griffig der filmanimierte Hexenritt. Im stimmungsvoll ausgeleuchteten und recht luftig bestückten Scherenschnittwald lebt aber auch ein Sandmännchen, das mit Schirm ausgestattet einer Mary Poppins ähnelt. Haben Noble und sein Ausstatter Anthony Ward womöglich ein paar Anspielungen an die klassische englische Kinder- und Jugendliteratur in den deutschen Märchenwald geschmuggelt? Die Hexe hatte im Aussehen zumindest mehr von „Harry Potter“ als von Lebkuchen. Im Programmheft wird sie von Noble als „Killerin“ bezeichnet. Das ist schon eine sehr moderne Sichtweise, die aber erklärt, warum die Hexe auf der Bühne nicht mit rosa Zuckerguss hantiert, sondern warum ein blutiger Fleischwolf zu ihrer Küchenausstattung zählt.

Die Darstellung der Hexe ist die Achillesferse dieser Produktion, die nach der Pause dadurch deutlich an Wirkung einbüßte. Aber vielleicht können sich „moderne“ Kinder Hexen ohnehin nur mehr als „Killerin“ vorstellen. Das kleine Kuchenhäuschen, das aus dem Bühnenboden emporwächst, ist außerdem enttäuschend – und trotz großen Hänsel-Käfigs und großen Hexen-Ofens: eine Knusperhexe braucht ein ordentliches Lebkuchenhaus!!! Und wenn statt der 14 Engel viele Kinder auf die Bühne kommen (sehr engagiert die Kinder der Opernschule und Studierende der Ballettakademie der Staatsoper) und mit weißen Luftballons tanzen, dann ist das lieb, aber viel zu wenig kitschig. Der recht begeisterte Schlussapplaus dauerte fast eine Viertelstunde lang. Ein paar Buhrufe gab es für das Regieteam – aber nicht beim ersten Vorhang, sondern etwas später.

Fazit: ein großartiges Orchester, eine für die Staatsoper doch zu unausgewogene Ensembleleistung und eine nette Inszenierung, die zumindest nahe an der Handlung bleibt.