SANCTA SUSANNA

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Mueumsquartier
10.6.2024
Premiere

Musikalische Leitung: Marit Strindlund

Regie; Choreographie, Performance: Florentina Holzinger

Licht:  Anne Meeussen, Max Kraußmüller
Video: Maya Čule
Ton: Olivia Oyama

Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin
Sängerinnen ds Opernchors des Mecklenburgischen Staatstheaters

Produktion Florentina Holzinger / Spirit, neon lobster, Mecklenburgisches Staatstheater (Schwerin), Staatsoper Stuttgart; Koproduktion Wiener Festwochen, Volksbühne Berlin in Kooperation mit Komische Oper Berlin, Opera Ballet Vlaanderen, Julidans, Theater Rotterdam

Susanna - Cornelia Zink
Klementia - Andrea Baker
Alte Nonne - Emma Rothmann

Weitere Mitwirkende:
Annina Machaz, Blathin Eckhardt, Born in Flamez, Fibi Eyewalker, Fleshpiece, Florentina Holzinger, Gibrana Cervantes, Helena Botelho Jørgensen, Jasko Fide, Laura London, Luci Fire Tusk, Luz De Luna Duran, Malin Nilsson, Netti Nüganen, otay:onii, Paige A. Flash, Renée Copraij, Saioa Alvarez Ruiz, Sara Lancerio, Sophie Duncan, Veronica Thompson, Xana Novais

Messe Komposition, Arrangement: Johanna Doderer;  Komposition, Supervision Bühnenmusik: Born in Flamez;  Komposition, Sound Design: Stefan Schneider;  Komposition, Produktion: Nadine Neven Raihani;  Komposition, Arrangement: Christopher Kandelin, Gibrana Cervantes, Josephinex Ashley Hansis, Karl-Johann Ankarblom, Odette T. Waller, otay:onii;  Bühnenmusik: Blathin Eckhardt, Born in Flamez, Gibrana Cervantes, otay:onii, Page A. Flash

„Hosianna Holzinger
(Dominik Troger)

Paul Hindemiths „Sancta Susanna“ bildet den Ausgangspunkt für die von Florentina Holzinger kreierte Musiktheater-Perfomance „Sancta“, die sich über zweieinhalb pausenlose Stunden lang am „Katholizismus“ abarbeitet: ein etwas langwieriges Unterfangen.

In Zeiten, in denen die katholische Kirche hierzulande die Funktion eines Brauchtumsvereins übernommen hat, besitzen nackte Nonnen ein sehr laues Provokationspotential. Aber dieser Befund trifft schon den Hindemith-Einakter, der diesem Musiktheaterprojekt zugrunde liegt. Das Werk wurde 1922 in Frankfurt am Main uraufgeführt und bildete zusammen mit „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und „Das Nuschi-Nuschi“ ein „Tryptichon“ voll „skandalöser“ Botschaft.

Vor knapp fünf Jahren hat man dem rund halbstündigen Werk in einer konzertanten Aufführung im Konzerthaus begegnen können. Die Geschichte von der Nonne Susanna, die vor dem Altar von fleischlicher Versuchung angefochten wird, erwies sich dabei dank Hindemiths sachlich berechnender Komposition als spannende Kuriosität, als Zeitstück, das den schwülen Dunst des Expressionismus atmet. Und es war interessant zu beobachten, dass Holzinger die erste halbe Stunde Hindemith wirklich gegönnt hat – auf eine geradezu erfrischend werkbezogene Weise.

Die Nonnen waren als Nonnen erkennbar, das kleine Licht auf dem großen Greifarm vermittelte ein Mindestmaß an Sakralität und ein Mauerviereck rechts wies auf das Susanna drohende Schicksal hin: eingemauert zu werden wie einst die Nonne Beata, weil sie den Gekreuzigten nackt am Altar umarmt hat. Weit im Hintergrund an einer Art Kletterwand gaben sich zwei Akteurinnen akrobatisch der Liebe hin, so wie der Knecht und die Magd, die sich in „Sancta Susanna“ unter Fliederstauden lieben. Sobald die Begierde Susanna packt, wurde ein riesiges, hängendes Kruzifix erotisch
erturnt“. Musikalisch war diese erste halbe Stunde von konzentriertem Spiel und Gesang geprägt, Marit Strindlund am Pult der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin sorgte für klare Konturen und ausreichende Spannung.  Bei den Solisten und beim  Opernchor des Mecklenburgischen Staatstheaters spürte man viel Engagement in dieses ungewöhnliche Projekt eingebunden zu sein.

Nach dem vermeintlichen Schluss von Hindemiths Oper durchbrach die eingemauerte Nonne die Wand – und das war für mich der Zeitpunkt, wegen der zunehmenden Laustärke der musikalischen Beiträge die Ohrenstöpsel aus dem Sakko zu kramen. Der musikalische Anteil glitt in den folgenden zwei Stunden stark ins oberflächlich-populäre ab, spannte sich von Bach bis zum Rockmusical. Unterbrochen wurden die zu einer attraktiven Bühnenshow aufgemotzten musikalischen Passagen von (zu langen) Sprechpassagen, vom kabarettartigen Auftritt eines  Jesus-Sandlers, von der Predigt einer  Päpstin (beeindruckend Saioa Alvarez Ruiz!) bis hin zu einer biographischen „Selbsthilfegruppe“ nach dem Motto „Als ich 12 Jahre alt war ...“. Den dramaturgischen Rahmen gaben die Abschnitte einer katholischen Messfeier vor. Das Publikum wurde sogar angehalten, coram publico eine Beichte abzulegen. Und wenn Holzinger die Sixtinische Kapelle illusionistisch von nackten Performancekünstlerinnen „demolieren“ lässt, dann verkrampft sich zumindest des Kunstfreunds Herz.

In den Medien und Rezensionen wird bei Holzingers Projekten immer die Nacktheit der diversen Protagonisten herausgestrichen, dabei mutiert diese Nacktheit schnell zur selbstverständlichen, unerotischen  „Uniform“ einer sportlichen Athletik, die vor allem mit ihrer Action die Show am Leben erhält. Ob sich nun zwei Akteurinnen auf  Karabiner hängen lassen, die an ihrem Muskelfleisch fixiert sind, oder ob sich die Agape aus einem Fleischstückchen generiert, das unter eifriger Videobeobachtung einer Protagonistin aus dem Brustkorb geschnitten wird (als Hinweis auf die Speerwunde am Leib des Gekreuzigten, die Holzinger später für eine „Thomas-Paraphrase“ nützt) ist dabei eigentlich sekundär. Gesiegt hat vor allem die gut auf den Effekt berechnete Show mit ausgefeilter Bühnenlogistik: der E-Zigaretten-süchtige Jesus-Sandler auf einem Turm aus elf oder zwölf Bierkisten, die rollschuhfahrenden Nonnen auf der Half Pipe, eine Darstellerin als Glockenschwengel (und wenn man dazu die Verwandlungsmusik aus dem „Parsifal“ gespielt hätte, wäre der Eindruck noch ein viel stärkerer gewesen), eine Bühnenmagierin, die biblische Wunder aus ihrer Trickkiste zaubert et cetera, et cetera...

Künstlerisch dockt Holzinger beim Wiener Aktionismus und beim Orgienmysterientheater eines Hermann Nitsch an (sogar mit „Schüttbildreferenz“), transformiert deren Radikalität in ein, auch für ein breites Publikum nachvollziehbares „Bewegungstheater“, garniert mit auf dezente Selbstverstümmelung abzielenden „Gruseleffekten“, die schon lange aus „Subkulturen“ bekannt sind und inzwischen breitere gesellschaftliche Akzeptanz gefunden haben. Was Holzinger von vielen anderen „Theatermachern“ unterscheidet ist das geschickte Vermischen von (zugegeben etwas verwässertem) ideologischem Anspruch, Show und – ganz wichtig! – Authentizität.

Auf diese Weise hat sich Holzinger schlussendlich bilderreich, aber ziemlich ausufernd, an christlicher Symbolwelt bedient, um damit ihre eigene künstlerische  Botschaft auszustaffieren, die einem neuen „feminin-diversen Evangelium“ der Selbstermächtigung das Wort redet. Seine zentrale „Botschaft“ durfte am Schluss sogar das Publikum mitsingen: „Don’t dream it, be it!“ Ein großer Teil der Anwesenden schien am Schluss enthusiasmiert und spendete viel Applaus.

PS: Sich den Katholizismus vorzunehmen ist heutzutage eine risikolose Übung, mit der man ein paar Lacher und wohlwollendes Schulterklopfen Gleichgesinnter ausfasst. Vor ein paar Jahrzehnten ist die Herausforderung noch größer gewesen: 1980 haben konservative katholische Kreise die Festwochen-Uraufführung von „Jesu Hochzeit“ (Komponist: Gottfried von Einem, Libretto: Lotte Ingrisch)  zu einem Skandal aufgeplustert. Damals wurde vor dem Theater an der Wien der Rosenkranz gebetet, um vermeintlicher Blasphemie Einhalt zu gebieten, und die Aufführung wurde massiv durch Zwischenrufe gestört. Bei „Sancta“ war keine Rede davon – und die Nonnen, die sich vor der Aufführung im Foyer unter das einströmende Publikum gemischt haben, gehörten zum Aufführungsteam.

PPS: Für den Besuch besteht eine Altersbeschränkung von 18 Jahren, aber die restlichen Vorstellungen sind ohnehin ausverkauft.