FAUST
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Live-Stream der Premiere

Staatsoper
29
. April 2021

Musikalische Leitung: Bertrand de Billy

Inszenierung: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Lothar Baumgarte
Videoregie: Martin Andersson
Kamera/Bildgestaltung: Tobias Dusche, Daniel Keller

Faust - Juan Diego Flórez
Méphistophélès - Adam Palka
Valentin - Étienne Dupuis
Wagner - Martin Häßler
Marguerite - Nicole Car
Siébel - Kate Lindsey
Marthe -
Monika Bohinec



„Pariser Walpurgisnacht

(Dominik Troger)

Frank Castorf an der Wiener Staatsoper?! Der neue Direktor wird sich diesen Termin rot im Kalender angestrichen haben: Endlich ist dieser „Bilderstürmer“ auch im Haus am Ring angekommen und darf, was sich hier noch „bürgerlich“ zu nennen traut, mit seiner Interpretation des Gounod'schen Faust verstören.

Bogdan Roščić, seit  dieser Saison im Amt, scheint den Einsatz von Video-Installationen auf Opernbühnen zu schätzen. Nach „La traviata“ und „Parsifal“ setzt jetzt auch der Gonoud'sche „Faust“ in der Castorf'schen Deutung auf Video, Video und noch mal Video. Dass die Sache mit den Videos längst ein alter Hut ist, durch dessen dekorative Löcher metaphorisch der Regen rinnt, so wie in des alten Dr. Faustens Schuhe (siehe erste Szene dieser Produktion) sei nur am Rande vermerkt.

Oper und Video, Oper und Fernsehen, Oper und Film, das ist ein schwieriges Verhältnis, und in Zeiten, in denen sich die Liebhaber der Opernkunst von Streams mangelernähren, können solche mit Videos angereicherte Produktionen schwerste
Depressionen auslösen. Man muss erst gar nicht auf Theodor W. Adorno zurückgreifen, der schon der „Fernsehoper“ sehr skeptisch gegenüberstand: „Das Fernsehen als ein optisches Medium steht der Musik, die wesentlich akustisch ist, einigermaßen fremd gegenüber.“ (Interview mit dem SPIEGEL, Ausgabe 9/1968).

Sondern es liegt auf der Hand, dass die Überfrachtung der Oper und des Theaters mit Video-Installationen einen zusätzlichen Faktor der Ablenkung schafft: Es wird dem Publikum schwer gemacht, sich zu konzentrieren, der Inhalt wird collageartig aufgedröselt. Anstatt Orte der Ruhe zu schaffen und der Fokussierung, bauen videogenerierte Bilderfluten und socialmedia-gesteuerte Dauererregung auf der Bühne Räume der Verwirrung und Verstörung, was eine sinnstiftende Erfahrung von Kunst im Allgemeinen unterminiert. Zurück bleiben dann zerstörte Bühnenfiguren – wie die Margarethe dieser Produktion – ein dem Kommerz ausgeliefertes Zombie-Wesen, dem seitens der Regie jede Chance auf eine Himmelfahrt verweigert wird.

Aber hat der Staatsoperndirektor nicht ohnehin einen „zahmen“ Castorf aus Stuttgart (Premiere 2016) nach Wien geholt? Der „Faust“, dessen Handlung in die französische Hauptstadt verlegt worden war, geriet ihm zu einer Pariser Walpurgisnacht, einem mit Live-Videos angereicherten multimedialen Spektakel, das im Haus ganz anders wirken wird, als im Stream, der durch die in voller Größe hineingeschnittenen Videos von allerhand Nebenschauplätzen cineastisch erweitert wurde.

Das Bühnenbild war ganz im Sinne der Verwirrung und Verstörung gebaut: eine drehbühnengerechte, verwinkelte Pariser Straßenszene mit aufgesetztem Kirchenportal. Zwei Videomacher folgten auf ihm eifrig treppauf-treppab den Singenden. Sie bezeugten derart Mephistos nicht artgerechte Schlangenhaltung und seine Vodoo-Püppchen im zwielichtigen Kaufmannsladen. Eine Telefonzelle diente Margarethe als Kommunikationstool und dem armem Valentin als blutverschmiertes Sterbebett. In der Mansarde darüber rauchten Margarethe und Marthe ihr Opiumpfeifchen.

Margarethes Charakter ist verzeichnet, sie hat eine „halbseidene“ Vergangenheit, ihre Unschuld ist fragwürdig – die ganze Beziehungskiste mit Faust und deren fatale Auswirkungen steht auf dramaturgisch wackeligen Beinen. Castorf schiebt das Schicksal der beiden auf Mephisto – und der Teufel dürfte schlussendlich auch Recht behalten. Mit einem Teufel lässt sich szenisch immer etwas anfangen, beißt er doch gleich am Beginn den alten Faust so fest in den Arm, dass man in ihm Nosferatus Vetter erkennen könnte. Der greisenhafte Faust wird vor allem durch spastisches Zittern markiert, der verjüngte Faust fungiert als Beiwagerl des Teufels. Ansonsten passieren ein paar seltsame Dinge – und Siebel, ja Siebel ist eine lesbische Frau, zitiert Liebeslyrik und ist ganz schwer in Margarethe verknallt.

Kritik am Algerienkrieg und Kolonialismus zierte den berühmten Soldatenchor, ausstaffiert mit den Trophäenköpfen erschlagener Feinde. Dass die Faust-Gretchen-Story in anderen soziokulturellen Milieus immer noch erhebliche Sprengkraft haben könnte, wurde aber nicht ausformuliert. Die Einblendung von alten Werbefilmen (Waschmittel & Co) symbolisierte und ironisierte Margarethes bigotte Sehnsucht nach Familienglück. Zugegeben, die Vorgängerinszenierung des Staatsopern-„Faust“ war ein Torso, die Vorvorgänger-Inszenierung von Ken Russel ein Skandal. An Exzentrikern war auf dem Theater schon damals kein Mangel.

Die Bewertung des musikalischen Teils fällt mir schwer, die optische Ablenkung war enorm.  Bertrand de Billy hat am Pult das klanglich schön aufspielende Staatsopernorchester recht flott durch den Abend geführt, vor der Pause fast zu flott, aber wie immer mit packender Zuspitzung. Dass die Lyrismen nicht immer so gut zur Geltung kamen, hat auch mit Nicole Car, der Margarethe des Abends, zu tun, deren Sopran ein wenig „kristallin“ angekantet nicht das naive Mädchenherz nach außen kehrte und mehr in den dramatischen Passagen überzeugte. Adam Palka sang einen jugendlichen, undämonischen und stimmlich kräftigen, aber zu einförmigen Mephisto, der gut in das Ambiente dieser Inszenierung passte.

Juan Diego Florez ist nach meinem Dafürhalten im französischen Fach stimmlich besser aufgehoben als bei Verdi. Es war beeindruckend, wie er in lyrischen Nuancen schwelgte. Beim Wandel vom alten Greis (der wenig glaubwürdig wirkte) zum jungen Mann blühte sein Tenor sonneerstrahlend auf und das langgehaltene
hohe C im Salut, demeure chaste et purekostete er so richtig aus. Es ist allerdings zu erwarten, dass die Stimme im Haus weniger präsent klingt – und dann würde man sich wahrscheinlich wieder einen Schuss mehr an stimmlicher Virilität wünschen und einen Hang zum Forcieren in dramatischen Passagen negativer anmerken. Étienne Dupuis als etwas raubeiniger Valetin,  Kate Lindse als etwas nüchtern timbierter Siebel und Monika Bohinec als Marthe sowie Martin Häßler als Wagner, ergänzten den Figurekatalog. Der Staatsopernchor bewies nicht nur seine stimmliche, sondern auch seine schauspielerische Kompetenz.

Nach der Vorstellung gab es sogar Applaus, der Vorhang blieb nicht geschlossen.