ORFEO ED EURIDICE
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Museumsquartier Halle E
Premiere

11. Mai 2014

Dirigent: Jérémie Rhorer

Inszenierung, Bühne und Kostüme:
Romeo Castellucci
Kamera: Vincent Pinckaers
B’Rock – Baroque Orchestra Ghent

Arnold Schönberg Chor

Orfeo - Bejun Mehta
Euridice - Christiane Karg
Amor - Laurenz Sartena (Wiener Sängerknabe)
Stumme Rolle - Karin Anna Giselbrecht


„An der Grenze des Bewusstseins
(Dominik Troger)

Die wandernden Blicke der Wachkompatientin wird wohl kein Besucher der ersten Musiktheater-Premiere der Wiener Festwochen 2014, Glucks „Orfeo ed Euridice“, vergessen: Euridice in sich selbst gefangen, die Pupillen langsam tanzend, ganz groß auf der Projektionsfläche in der Halle E des Wiener Museumsquartiers.

Regisseur Romeo Castellucci hat sich dieses Szenario ausgedacht: Orfeo auf der leeren Bühne, dahinter die Leinwand, die die eigentliche Geschichte erzählt, die Geschichte von einer jungen Euridice, Karin Anna Giselbrecht, 1989 geboren, 2011 nach einem Herzstillstand ins Koma gefallen. Und während das Publikum diese „andere“ Euridice sah, groß in die Halle projiziert, lauschte die junge Frau selbst über Kopfhörer der Musik, die direkt aus der Halle in das Klinikzimmer übertragen wurde. Eine Versuchsanordnung, ein Experiment, ein Grenzgang zwischen Kunst und Wirklichkeit, ein Versuch, den antiken Orpheus-Mythos einer konkreten Erfahrbarkeit zuzuführen (wobei Castellucci in der Bildersprache der Übertragung viel Sensibilität walten ließ und meist mit verschwommenen Aufnahmen arbeitete).

Der künstliche Raum der „Oper“ wurde dadurch auf eine Weise aufgesprengt, die die Kunstform fast um ihre „Kunst“ gebracht hätte – und unter der Stärke des visuellen Eindrucks schwebten Musik und Gesang oft in der Gefahr, zum Soundtrack für diese andere Geschichte zu werden, deren hautnahe Realität den Besucherinnen und Besuchern keine Fluchtmöglichkeiten mehr offen ließ, außer jener, die Augen zu verschließen. Nun ist der Zustand des Wachkomas offenbar sogar seitens der Wissenschaft schwer begreifbar, und von Fall zu Fall individuell zu bewerten, auch was die Kommunikationsmöglichkeiten der Patienten mit der „Außenwelt“ betrifft. Insofern ist die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit dieses Experiments für Außenstehende nicht beantwortbar und weder das schmale Programmheft noch der Einführungsvortrag haben sich auf dieses Terrain vorgewagt.

Die Versuchsanordnung hatte natürlich eine Reihenfolge, die sich an den drei Akten von Glucks Werk orientierte, wobei Orfeo sich immer auf der dekorationslosen Bühne befand, ein Mikrofon vor sich. Im ersten Akt wurde zu Musik und Gesang die Lebensgeschichte von Karin Anna Giselbrecht auf die Leinwand projiziert, Satz für Satz, weiße Buchstaben auf dunklem Hintergrund, Häppchenweise, biographische Notwendigkeiten und kleine emotionale Anker, Kindheits- und Jugenderinnerungen, vom ersten Opernbesuch in Graz bis zur Herzattacke.

Im zweiten Akt transformierte die Kamera mit unscharfen Bildern den Weg des Orfeo in die Unterwelt, in dem sie optisch eine Anreise zur am Stadtrand gelegenen Klinik nachvollzog: großflächige Straßenstimmung und Autoscheinwerfer, meist verschwommene Bilder, der Klinikschranken, der sich langsam öffnet, Pavillons, eine Treppe, ein Gang, ein Zimmer voller Rollstühle, ein Türschild mit vier Namen und dann: Orfeo ist angekommen.

Und der dritte Akt gehört den beiden Euridices: Die Sängerin Christiane Karg steht hinter der transparent gewordenen Projektionsfläche, so als wäre sie ein Teil der anderen Euridice. Die Kamera wandert das Krankenbett entlang, hinauf zu Euridices Haar, ein medizinisches Gerät wirft regelmäßige Wellen auf ein Display, Datum und Uhrzeit werden angezeigt 11.5.14, 20:44 – und dann sehen die Besucher diese Augen, jetzt ganz scharf und groß, die Traumbewegungen der Pupillen, wie dunkle Lichter, die aus den Tiefen eines universumgroßen, unergründlichen Bewusstseins tauchen ...

Aber Euridice ist verloren. Es wird finster. Orfeo, bis dahin alleine vor dieser Projektionswand stehend, verschwindet selbst in der Schwärze des Todes, in der die ganze Welt verschwindet – und Orfeos Klage hebt an. Doch Amor hat ein Einsehen: große Verwandlung, Idylle, ein projizierter Theaterprospekt (!), links ein Stück vorspringend, der Tempel des Amor, rechts mitten in der Projektion Euridice (?), die nymphenhaft aus dem Wasser taucht und in romantisch drapiertem Strauchwerk verschwindet. Verblassen die Schrecken der Gegenwart vor der heilenden Kraft der Kunst und der Liebe? Doch dann ist die Oper zu Ende, und dieser anderen Euridice werden die Kopfhörer abgenommen, eine Hand fährt ihr streichelnd über das Haar. Das Publikum nimmt seine Emotionen mit in eine große, schwere Stille, die bald im Applaus zerspringt.

Zugegeben, die Ablenkung durch die Einspielung war groß. Der experimentelle Charakter macht die Würdigung der musikalischen Wiedergabe schwierig. Jedenfalls dürfte es nicht ratsam sein, die Maßstäbe anzulegen, mit denen einen zum Beispiel die Akustik des Theaters an der Wien verwöhnt. Bejun Methas starke Bühnenpräsenz hat tatkräftig Glucks Musik davor bewahrt, ganz von der Projektion aufgesogen zu werden. Aber seine Counterstimme klang mir im Vergleich zu seinen Auftritten im besagten Theater an der Wien einen Hauch zu grell, möglicherweise eine akustische Unausgewogenheit der Tonanlage (ohne die in dieser Halle leider gar nichts geht). Von Christiane Kargs Euridice, die weiter im Hintergrund postiert war, schwebte edler, klarer und eindringlicher Gesang ins Auditorium – eine Stimme, die für Gluck wie geschaffen ist. Laurenz Sartena, ein Wiener Sängerknabe gab den Amor – und benötigte einige Zeit, in den Fluss der Musik hineinzufinden. Der intensive und klangschöne Arnold Schönberg Chor sang aus dem Orchestergraben. Das Baroque Orchestra Gent unter Jérémie Rhorer sorgte nicht durchwegs für eine subtile „Klangrede“, klang teils auch etwas spröde, und setzte nach meinem Eindruck den starken filmischen Reizen den wenigsten Widerstand entgegen. Der Beifall war stark.