ARMIDE
Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Gluck-Portal

Wiener Staatsoper
16. Oktober 2016
Premiere


Dirigent: Marc Minkowski

Regie: Ivan Alexandre
Ausstattung: Pierre-André Weitz
Licht: Bertrand Killy
Choreographie: Jean Renshaw

Les Musiciens du Louvre
Gustav Mahler Chor

Armide - Gaëlle Arquez
Hidraot - Paolo Rumetz
Renaud - Stanislas de Barbeyrac
Ubalde - Gabriel Bermúdez
Der Dänische Ritter - Bror Magnus Tødenes
Phénice - Olga Bezsmertna
Sidonie - Hila Fahima
Artémidore - Bror Magnus Tødenes
Aronte - Mihail Dogotari
Hass - Stephanie Houtzeel
Coryphéen - Laura Elligsen, Rani Hybner de Barros,
Panajotis Pratzos



„Ihr Busen wird vom Schleier nicht umfangen,
Und Zephyr spielt im Haar, das ihn umschwebt.
Sie schmachtet sanft, und die entflammten Wangen
Bleicht holder Schweiß, der ihr Gesicht belebt.
Im feuchten Auge funkelt voll Verlangen
Ein Lächeln, wie der Strahl im Wasser bebt.
Sie beugt sich über ihn; er hin sich gebend
Ruht ihr im Schoß, den Blick zum Blick erhebend.“
Torquato Tasso: „Das befreite Jerusalem“, XVI. Gesang.
(Übersetzung von Johann Diederich Gries, 1885)

„Gluck als Lückenbüßer?
(Dominik Troger)

2012 wurde Glucks „Alceste“ in den Staatsopern-Spielplan aufgenommen – jetzt folgte die „Armide“, erstmals in französischer Originalsprache. Die Oper ist zuletzt 1892 (!) im Haus am Ring gespielt worden.

Die Geschichte von der Zauberin Armida ist dem Epos „La Gerusalemme liberata“ von Torquato Tasso entnommen. Der Kreuzfahrer Rinaldo kreuzt die Wege Armidas, verfällt ihrem Zauber, wird von Gefährten aus diesem Zauber befreit, und verlässt sie. Armide bleibt verzweifelt zurück. Christoph Willibald Gluck komponierte seine Oper auf das gerühmte Libretto, das Philippe Quinault einstens für Jean-Babtiste Lully verfasst hat. Selbiges bietet Raum für großartige Effekte, hat aber auch seine Schwächen: etwa im vierten Akt, wenn den Befreiern Renaulds die dämonischen Gestalten ihrer Geliebten erscheinen, um sie von ihrem Plan abzulenken. Der Prolog wurde gestrichen, der hatte sich schon zu Glucks Zeiten überlebt.

Die Wiener Staatsoper hat im Vorfeld der Premiere für das Werk eifrig die Werbetrommel gerührt. Im Prolog, der Publikumszeitschrift der Wiener Staatsoper, liest man etwa, die Oper wäre in Wien während des 19. Jahrhunderts „immer wieder“ gegeben worden. Auf der Staatsopern-Homepage liest man, Glucks Werke wären am Ende des 19. Jahrhunderts noch ein „beliebter Bestandteil des Spielplans der Wiener Hofoper“ gewesen und die „umjubelten (!!) Kostbarkeiten“ wären dann auf Jahrzehnte aus dem Bewusstsein des hiesigen Publikums verschwunden.

Nun, es steht jedem Unternehmen frei, seine „Produkte“ zu loben. In Anbetracht des Staatsopern-Gastspiels in Japan bot sich jedenfalls die Chance, an die erfolgreiche „Alcina“-Premiere von 2010 anzuknüpfen. Damals wurde als Gastorchester Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski eingeladen, um an der Staatsoper seine historisch informierte Aufführungspraxis zu pflegen. Demselben Orchester, demselben Dirigenten, wurde jetzt die Ehre zuteil, Glucks „Armide“ zur Aufführung zu bringen.

Aber war die „Armide“ im 19. Jahrhundert wirklich eine „umjubelte Kostbarkeit“? Die Quellen lassen anderes vermuten – und die Oper wurde an der Hofoper auch nicht „immer wieder“ gegeben, sondern von 1809 bis 1869 überhaupt nicht. Die Oper war also im 19. Jahrhundert in Wien weder ein „Dauerbrenner“ noch ein „Zugstück“.

Als „Armide“ 1869 in den Spielplan des neuen Hauses an der Ringstraßen aufgenommen wurde, erläuterte Eduard Hanslick in seiner Premierenbesprechung in der Neuen Freien Presse (24. November 1869), dass „Armida“ hinter die Opern Glucks zurückfalle, die sich auf antike Stoffe beziehen. In der „Armida“ sammle sich, neben einigen Perlen, auch viel „musikalisch Dürftiges“. Während der gebildete Musikfreund an der Gluck’schen Musik immer noch außerordentliches Interesse zeige, würde sich das Publikum mitunter herzlich langweilen. Zum Glück erreichte die Produktion 1869 einen großen szenischen Erfolg und – so Hanslick: „Ein fortwährender Wechsel neuer Decorationen und Verwandlungen, glänzender Costüme und Tänze beschäftigt das Auge des Zuschauers.“

1878 wurde die Oper wieder in das Repertoire aufgenommen. Die Presse (16. Februar 1878) notierte damals: „Am Sonntag Abends fand in unserm Opernhaus ein überraschendes Ereignis statt: Gluck’s ‚Armida‘ tauchte plötzlich nach einer mehrjährigen Ruhe wieder vor den Rampen auf. Die Vorführung dieser Oper war umso überraschender, als sich für sie kein recht vollgiltiges Motiv auffinden ließ: sie hat sich, wie bekannt, nicht als zugkräftig bewiesen (...).“

Die Aufführungszahlen hielten sich auch in Folge in Grenzen. Das Online-Staatsopernarchiv weist zwischen 1869 und 1892 insgesamt 29 Aufführungen der Oper auf, im 20. Jahrhundert keine einzige. Und der Premierenabend im Jahr 2016 hat gezeigt, dass das Urteil Hanslicks durchaus Bestand hat. Haben Gluck bei seinen „Antiken-Opern“ hohe moralische Ansprüche und das Tugendideal der Aufklärung beflügelt, so geriet ihm die Liebeshandlung zwischen Armide und Renauld behübschend lieblich, mehr pastoral als dramatisch. Auch bei der „Armide“ liegen Glucks Stärken in den festlich-repräsentativen und in den expressiven Momenten wie der Ouvertüre, dem Auftreten des Hasses im dritten Akt oder dem Finale der Oper. Hingegen fällt zum Beispiel der vierten Akt mit den schon erwähnten Erscheinungen der Geliebten oder die hübsche, aber den Handlungsfortschritt wenig beflügelnde Ballettmusik im fünften Akt stark dagegen ab.

Umso stärker müssen diese Gegensätze auffallen, wenn ein Regisseur meint, alles verdrehen zu müssen und die Handlung auf den Kopf stellt. Armide ist in der Inszenierung von Ivan Alexandre ein junger Soldat, der sich als Frau verkleidet, um Renauld zur Strecke zu bringen. Als Frauen kostümierte Balletttänzer ergänzen die „Liebesfalle“, in der das muslimische Heer die christlichen Kreuzfahrer fangen möchte. Vergessen ist das Lied von Heldenpflicht und Liebeswahn, mit dem die Dichtkunst Torquato Tassos den Armiden-Stoff wie einen Gobelin bestickt hat. Alexandre denkt hingegen an Spionagegeschichten, und er meint, die Liebe zwischen den beiden würde ohnehin nicht „funktionieren“. Hätte Alexandre seine Interpretation psychoanalytisch fundiert, man hätte darüber diskutieren können – aber der Versuch, Liebe als Finte in einem gewalttätigen Krieg zu inszenieren, musste fast zwangsläufig schief gehen, weil damit nicht plausibel erklärt werden konnte, warum Armide ein von einer Frau gespielter Mann sein soll, der sich als Frau verkleidet, um sich plötzlich in einen Mann zu verlieben.

Vielleicht hätte eine bezwingendere szenische Umsetzung Alexandres Deutung zu mehr Wirkung verholfen (der natürlich auch die Ouvertüre bebildert hat), aber die an der Rampe orientierte Personenführung und ein rostiges Käfiggerüst als Blickfang, das in goldenes Licht getaucht einen „Zaubergarten“ vorstellen sollte, haben das Publikum nicht gerade ergötzt. Zudem litt die Akustik, wenn sich die Sängerinnen und Sänger auf dem Gerüst aufhalten mussten. In den Balletteinlagen erzählten halbnackte Tänzer in wenig überzeugender Choreographie Subtexte von Verführung und spielten sogar auf Renaulds Kindheit an. Es war mir nicht möglich zu erkennen, welcher Bezug zu einer Oper namens „Armide“ von Christoph Willibald Gluck hier gegeben war.

Der Chor sang oft aus dem Orchestergraben, in den linken Zugang hineingepfropft. Es führte eine Treppe von der Bühne in den Orchestergraben, über die einige Auf- und Abtritte absolviert wurden. An Renaulds Mannen wurden ein paar Garstigkeiten verübt, die wohl auf islamistische Interaktion hindeuten sollten. Insgesamt handelte es sich – so mein Eindruck – um eine der schwächsten Regiearbeiten in der an misslungenen Inszenierungen reichen Ära Meyer.

Musikalisch sah die Sache schon besser aus, auch wenn Les Musiciens du Louvre nicht mehr diesen federnden Esprit zu entwickeln scheinen wie in früheren Jahren. Der Klang ist härter geworden, Marc Minkowski neigt inzwischen dazu, auf das Tempo zu drücken. Das vergröbert die Effekte und wischt über Nuancen hinweg. Allerdings sind die Räumlichkeiten der Staatsoper für solche ohnehin weniger geeignet – und deshalb ist Gluck in historischer Aufführungspraxis im Theater an der Wien viel besser aufgehoben (und die Inszenierungen sind dort in der Regel viel besser durchgearbeitet als an der Staatsoper). Ein besonderes Verdienst erwarben sich an diesem Abend die Holzbläser. Eine Flötistin durfte sich im fünften Akt sogar auf die Treppenstufen setzen, um sich solistisch vom Orchester abzuheben.

Gaëlle Arquez hat vor drei Jahren im Theater an der Wien einen trefflichen Idamante gesungen. Ihr Mezzo scheint seither nachgedunkelt zu sein. Sie fand für meinen Geschmack aber erst im Finale zu jener tragischen Größe, die Glucks Frauengestalten haben sollten. Überhaupt hätte die zauberische Verführerin einen Schuss „Diva“ noch gut vertragen. Das spinnenhafte Element an Armidens Charakter blieb unentdeckt, die unterschwellige, selbstverliebt-hysterische Gefährlichkeit ihrer Liebesleidenschaft – aber wie sollte selbiges unter den gegebenen Regieumständen auch zur Wirkung gebracht werden. Arquez steigerte sich nach der Pause zu einem starken Finale, in welchem Hass und Schmerz Armidens Liebesgefühle einäschern. Der kleinere Raum des Theaters an der Wien hätte es der Sängerin erleichtert, ihre Bühnenpräsenz auszubauen – und wenn sie vom Gerüst zu singen gezwungen war, musste sie die Lockerheit ihres Organs gegen etwas Druck austauschen. Insgesamt scheint mir ihre Stimme nach wie vor mehr lyrisch bestimmt.

Stanislas de Barbeyrac ließ einen interessant timbrierten, metallischen Tenor hören, der dem Ritter Renauld gut anstand, dem Liebenden weniger gut, weil die Stimme hier an Präsenz und Schmelz verlor. Barbeyrac musste im fünften Akt die meiste Zeit in der Unterhose herumsitzen und ein läppisch choreographiertes Ballett über sich ergehen lassen. Im übrigen sind nackte Männerbrüste inzwischen die neue Regiemode und haben die leidigen Koffer abgelöst. Aber das Liebespaar hinterließ insgesamt einen sehr sympathischen Eindruck – und der Zuspruch des Publikums war ihm beim Schlussvorhang sicher.

Ansonsten war das Staatsopernensemble redlich bemüht, seinen Beitrag zu abliefern, wobei Paolo Rumetz als Hidraot eher weniger, Bror Magnus Tødenes als Ritter eher mehr zu überzeugen wusste. Hila Fahima steuerte ihren leichten Sopran bei, der im vierten Akt die dämonischen Erscheinungen in einen zu harmlosen Stoff kleidete – stimmlich harmlos auch der Hass, gesungen von Stephanie Houtzeel.

Das Regieteam fasste beim Schlussapplaus überraschend wenige Buhrufe aus, ansonsten herrschte im Haus rund zehn Minuten lang eitle Wonne.

Fazit: Das Finale ist musikalisch grandios, der Weg dorthin aber ein sehr langer.