TRI SESTRI
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Staatsoper
6. März 2016
Premiere

Musikalische Leitung: Peter Eötvös, Jonathan Stockhammer

Regie: Yuval Sharon
Ausstattung: Esther Bialas
Video: Jason H. Thompson
Libretto: Claus H. Henneberg, Peter Eötvös

Orchester und Bühnenorchester der Wiener Staatsoper

Olga - Ilseyar Khayrullova
Mascha - Margarita Gritskova
Irina - Aida Garifullina
Natascha - Eric Jurenas
Andrej - Gabriel Bermúdez
Kulygin - Dan Paul Dumitrescu
Tusenbach - Boaz Daniel
Verschinin - Clemens Unterreiner
Doktor - Norbert Ernst

Soljony - Viktor Shevchenko
Fedotik - Jinxu Xiahou
Rodé - Jason Bridges
Anfissa - Marcus Pelz


Gefangen in den Erinnerungen
(Dominik Troger)


Die Wiener Staatsoper bemüht sich seit letzter Saison wieder stärker um zeitgenössische Werke. Nach der Shakespeare-Vertonung „The Tempest” von Thomas Adès hatte jetzt die Tschechow-Oper „Tri Sestri“ des ungarisch-rumänischen Komponisten Péter Eötvös Premiere.

„Tri Sestri“ wurde 1998 in Lyon uraufgeführt. Die Uraufführungsproduktion war 2002 im Theater an der Wien bei den Wiener Festwochen zu Gast. Im Gegensatz zur aktuellen Staatsopern-Fassung wurden damals die drei Schwestern von Countertenören und nicht von Frauen gesungen – es handelte sich also um eine reine „Männeroper“. Die Fassung für Countertenöre und die eigenartige japanisierende Inszenierung haben den Aufführungen im Theater an der Wien einen stark avantgardistischen Charakter verliehen. Der neuen Staatsopern-Produktion geht ein solcher Charakter durchwegs ab. Die Neuinszenierung in der Regie von Yuval Sharon setzt ganz auf die Melancholie Tschechows, der seine drei Schwestern mit Liebes- und Moskauträumen in einem Provinznest festgenagelt hat.

Den Wünschen des Komponisten kommt diese Haltung möglicherweise entgegen. Beginnt nicht die Oper mit einem Prolog, der sein Material dem vierten Akt des Stücks entnommen hat? Bei Peter Eötvös wird also schon der Prolog zur „Nachrede“ – und die drei Schwestern werden vom Beginn an festgehalten in ihrer Erinnerung und einer von Hoffnungslosigkeit durchdrungenen Sinnsuche. Eötvös hat alles dazu getan, diesen Eindruck zu verstärken: Das Libretto wurde aus dem Drama derart „destilliert“, dass in dem schon erwähnten Prolog und den drei folgenden „Sequenzen“ im Wesentlichen die selben Handlungsmomente – wie beispielsweise der Brand oder der Abzug des Regimentes – parallelisiert werden. Damit wird ein linearer Handlungsablauf vermieden – und die Geschichte landet in einer Endlosschleife, zeigt das Schicksal der Figuren wie Filmkameras, die das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen haben und deren Filme dann nacheinander abgespielt werden.

Die Inszenierung von Yuval Sharon hat diesen „Wiederholungseffekt“ visualisiert. Mehrere schmale Laufbänder queren die Bühne von links nach rechts (Blick vom Publikum aus). Auf ihnen stehen Ausstattungsgegenstände in breiter Auswahl (bis zu schmalen Birkenbäumchen oder Türen), aber auch handelndes Personal, das sich mal ein Stück mitnehmen lässt oder die Laufbänder für Auf- und Abtritte nützt. Die Bühne ist sonst leer. Nur an den beiden Seitenwänden hängen je drei Kerzenleuchter, deren abfließendes Wachs sich zu erstarrten Bächen gesammelt hat, deren dicke Säulen mehr an das gruselige Ambiente einer Erzählung von Edgar Allen Poe erinnern als an die Wohnstatt einer antriebslosen russische Bürgerfamilie. Das erstarrte Wachs hat aber starke symbolische Kraft – und was sich in seinem Umfeld bewegt, erinnert trotz emotionaler Sehnsüchte und Ausbrüche ein wenig an Untote, die in einem mit sedativen Brauntönen meist nur dezent ausgeleuchteten Bühnenraum vor sich hin dämmern. Die Bühne ist nicht sehr tief – weil dahinter ein großes Bühnenorchester platziert ist. Im Orchestergraben sitzt nur eine kleine Besetzung (mit umso größeren Schlagzeugbatterien), die vor allem kammermusikalisches Flair verströmt. (Gegen Schluss wurde das Bühnenorchester sichtbar – es saß dort mit Militärkäppchen behütet wie ein Armeeorchester.)

Es mag seltsam anmuten, das Eötvös so viel „formalen“ Aufwand betrieben hat (die eigenartige Form des Librettos, zwei getrennte Klangkörper), um vor allem den eher banalen Gefühlen dieser verlorenen Gesellschaft auf die Sprünge zu helfen. Und im Vergleich der beiden Fassungen – Uraufführung und Wiener Staatsoper – hat sich für meinen Geschmack die reine Männerfassung als zwingender erwiesen – weil abstrahierender. In der Neufassung für Sopran, Mezzo und Mezzo/Alt – und durch diese Inszenierung doppelt unterstrichen – reduzierte sich der Gesamteindruck auf eine „Literaturoper“, die den Anspruch der erwähnten formalen Kunstgriffe nur bedingt einlöst, und die sich im Gestus nur mehr wenig von einer spätromantischen Oper des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts unterscheidet. (Aber vielleicht macht das gerade ihren Erfolg aus?)

Diese Premiere war zwar sehr gut und schlüssig gearbeitet, sie hat aber Tschechow vor allem „reproduziert“. Interessanter Weise hat sich auch Eötvös Komposition diesem Eindruck nicht wirklich entgegengestellt. Die flächige Streicheremotion des Bühnenorchesters in der „Berg-Nachfolge“ oder eine an Olivier Messiaen erinnernde kammermusikalische Klangsprache im Orchestergraben erreichten zu selten (das kurze „Häferlkonzert in der dritten Sequenz ausgenommen) eine deutliche ironische Brechung der psychologisch ausgeleuchteten Seelenräume.

Die Besetzung war gediegen. Die drei aus dem russischen Sprachraum stammenden Schwestern mit starker und jugendlich aufblühender Bühnenpräsenz – Aida Garifullina als Irina mit leicht metallische funkelndem lyrischen Sopran, Margarita Gritskova als Mascha mit erotischem Mezzo und Ilseyar Khayrullova als Olga mit vielleicht ein bisschen zu wenig „altigem“ Mezzo – sind in dieser Kombination für diese Oper ein seltener Glücksfall. (Eötvös hat das Libretto seiner „Tri Sestri“ nicht übersetzt, sondern im russischen Original belassen.) Die Gesangstimmen der Schwestern hat der Komponist nur punktuell „überstrapaziert“, meist bewegen sie sich in der Mittellage mit starkem Textbezug. Das ergibt (vor allem für Irina und Mascha) reizvolle, auch stark am Figurencharakter orientierte Rollen. Den Schwestern stand Natascha gegenüber – gesungen von Eric Jurenas mit Hausdebüt: ein stimmkräftiger Countertenor, der dieser von Eötvös sehr überdreht in Szene gesetzten Gestalt viel abzugewinnen vermochte und der die Handlung dann und wann etwas durcheinanderwirbeln durfte.

An möglichen Liebhabern ist bei drei Schwestern kein Mangel: jeweils einen starken Eindruck hinterließen Boaz Daniel als Tusenbach und Clemens Unterreiner als Verschinin, und Norbert Ernst machte aus dem Doktor eine treffliche Studie russischer Charaktertenorkunst. Marcus Pelz war trefflich in das Kostüm der alten Amme Anfissa geschlüpft, um sich von der Countertenor-Natascha sekkieren zu lassen. Auch Gabriel Bermudez musste als Andrei Natascha standhalten. Viktor Shevchenko, ein Neuzugang im Staatsopern-Ensemble, hinterließ mit dem Soljony stimmlich einen deutlich besseren Eindruck als unlängst in Gounods „Romeo und Julia“ in der Rolle des Le Duc. Dan Paul Dumitrescu gab einen leicht ironisierenden Kulygin mit seinem weichen Bass. Das Staatsopernensemble hat sich mit dieser Produktion insgesamt ausgezeichnet. Der Komponist fungierte als Dirigent, sorgte für eine ausgewogene dynamische Balance zwischen den beiden Orchestern – und bei den Gesangssolisten für den nötigen Rückhalt beim Manövrieren durch diese komplexe Partitur.

Das Publikum applaudierte rund 13 Minuten lang, wobei zuletzt nur mehr ein kleines Grüppchen klatschender Weise der drohenden Herablassung des Eisernen Vorhangs trotzte. Für das Regieteam gab es einen Buhruf und viel Applaus. Der Galeriestehplatz war mäßig besucht. Und nach der Pause gab es mehrere frei gewordene Sitzplätze – vor allem auf dem Balkon und auf der Galerie.