LUCIA DI LAMMERMOOR

Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Donizetti-Portal

Wiener Staatsoper
24. Juni 2012


Dirigent: Guillermo Garcia Calvo

Enrico - Marco Caria
Lucia - Diana Damrau
Edgardo - Piotr Beczala
Arturo - Ho-yoon Chung
Raimondo - Sorin Coliban
Alisa - Juliette Mars
Normanno - Peter Jelosits


„Psychopathologische Fallstudie“

(Dominik Troger)

Diana Damrau gelang nicht nur das Kunststück, für sich selbst einzuspringen, sie sorgte auch dafür, dass den Wiener „Lucia“-Fans ganz heiß und kalt ums Herz wurde. Ein Bericht von einem außergewöhnlichen Opernabend.

Recht turbulent entwickelte sich die Besetzung der Titelpartie um die laufende Serie von „Lucia di Lammermoor“ an der Wiener Staatsoper. Ursprünglich war Diana Damrau für die vier Vorstellungen mit ihrem Wiener Rollendebüt als Lucia angesetzt. Dann wurde gemeldet, dass Damrau wegen Erkrankung nur die beiden letzten Vorstellungen am 27. und 30. Juni singen werde. Die russische Sopranistin Hibla Gerzmava sollte einspringen, erkrankte, und sagte beide Termine ab. So kam die amerikanische und in Frankfurt engagierte Sängerin Brenda Rae am 20. Juni unverhofft zu ihrem Staatsoperndebüt. Für die Aufführung am 24. Juni stand Rae aber nicht zu Verfügung und plötzlich las man Diana Damrau auf dem Besetzungszettel: die Sängerin war zu ihrer eigenen Einspringerin geworden. Inzwischen hat Damrau allerdings die Vorstellungen am 27. und am 30. Juni abgesagt und es kommt wieder Brenda Rae zum Zug.

Die Absage von Damrau, die zudem bereits recht deutlich die erkennbaren Rundungen ihres bevorstehenden Mutterglücks mit sich trägt, kam nach der Vorstellung am Sonntag nicht ganz überraschend. Die Sängerin, die mit einer gänzlich anderen Rollenauffassung als die schwärmerisch-zurückhaltende Brenda Rae die Lucia anging, schonte weder sich noch die Empfindungen der Zuschauer, und lieferte eine psychopathologische Fallstudie, wie man sie an der Staatsoper als Lucia wohl noch nicht gesehen hat. Allerdings war schon im zweiten Bild bei der Kavatine deutlich geworden, dass Damrau nicht ganz fit angetreten war – das deutlich hörbare Atemholen weckte schon ärgere Befürchtungen, die dann aber glücklicherweise nicht eintrafen. Damrau wurde allerdings erst nach (!) diesem zweiten Bild als rekonvaleszent angesagt.

Die Sopranistin lieh der Lucia einen stark selbstbestimmten Charakter. Schon bei ihrem Zwiegespräch mit Alisa im Schlosspark wirkte sie im Spiel vergleichsweise unruhig, schien mir manche Geste ein wenig überzogen. Die Art wie sie im Hochzeitsbild ihre Unterschrift auf das Pergament „fetzte“, war eine theatralisch stark überzeichnete wütend-verzweifelte Aufwallung. Die ganze Wahnsinnsarie war im Spiel so realistisch angelegt, dass der melodiöse, natürliche Belcanto-Fluss für meinen Geschmack schon darunter zu leiden hatte. Außerdem machten der nur ganz kurz „anprobierte“ Spitzenton im Abschluss des „Il dolce suono“ und der erhöhte „Atembedarf“ deutlich, dass die Sängerin mit diesem Auftritt ein gewisses Risiko eingegangen war. Ihr Sopran wirkte auf mich etwas kurzatmig, wenn er auch mit kräftiger Lyrik erklang. Aber was Damrau unter den gegebenen Bedingungen aus sich herausholte, diese Expressivität, diese körperbetonte „Bodengymnastik“ in der Wahnsinnsszene, das ergab in Summe eine Art von Grenzüberschreitung und emotionaler Direktheit, wie sie wahrscheinlich nur die ganz bestimmten „Umstände“ dieser Vorstellung erzeugen konnten: Oper als nicht mehr genau berechenbare Extremsituation.

Blendet man diese „Umstände“ aus, dann ergeben sich allerdings ein paar Fragen. Es ist gewiss schwierig, in der Darstellung einen Kompromiss zu finden, in dem sich Lucias aufbegehrender Wunsch, an der Liebe zu Edgardo festzuhalten, und der Druck, der auf sie ausgeübt wird, schlüssig ergänzen und zu einem glaubhaften Finale führen. Aber wenn man Lucia zu selbstbewusst zeichnet, bleibt dann der „psychotische Schub“ – und einem solchen scheint Lucia zu erliegen – die einzig mögliche Entwicklung? Werden nicht andere Lösungen der misslichen Situation denkbar, als den ungeliebten Ehemann im Hochzeitsbette zu erdolchen – beziehungsweise hätte Lucia diese Tat dann nicht planvoller ausgeführt? Wie weit passt solch „veristische Expressivität“ in Gesang und Spiel zum Stilgefühl der romantischen italienischen Oper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?

Piotr Beczalas schlanker Tenor hatte die Partie gesanglich sehr gut im Griff. Sein Tenor erschien mir in der Vorstellung am Mittwoch allerdings eine Spur „leichtgängiger“. Sein helles Timbre mit biegsamem, strahlendem Kern verleiht dem Edgardo einen soldatischen Stolz, kehrt weniger den verzweifelten Liebhaber heraus. Beczala ist kein „südländischer Tenor“, hat seinen „slawischen Stahl“ aber so elegant und gekonnt zurecht geschmiedet, dass er Donizettis Belacanto wie einen Degen mit geschmeidiger Klinge führt. Das gibt der Figur einen „lyrischen Heroismus“, der auch das Finale bestimmt.

Marco Caria (Enrico) hat einen etwas rauen Bariton, mit dem er aber guten Effekt macht. So richtig kam er wieder im Turmbild in Fahrt, das an diesem Abend mit viel Schwung gelang. Sorin Coliban hat nach der Vorstellung am Mittwoch diesmal die Partie dynamisch besser ausbalanciert, die priesterliche Würde wird ihm womöglich noch zuwachsen. Das Orchester unter Guillermo Gracia Calvo ging nicht gerade feinfühlig, aber animiert und flott ans Werk.

Der Schlussapplaus dauerte rund acht Minuten – mit vielen Bravorufen angereichert.