LUCIA DI LAMMERMOOR

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Wiener Staatsoper
16. und 24. April 2022



Dirigent: Evelino Pidō

Enrico - George Petean
Lucia - Lisette Oropesa
Edgardo - Benjamin Bernheim
Arturo - Josh Lovell
Raimondo - Roberto Tagliavini
Alisa - Patricia Nolz
Normanno - Hiroshi Amako


Emphatische Lucia

(Dominik Troger)

Kalt ist es in Schottland, Lucia friert. Alisa bringt ihr ein Paar Wollhandschuhe vorbei. Der weiße Bühnenschnee erstarrt in emotionaler Kälte. Bei diesem trostlosen Wetter muss man ja wahnsinnig werden.

Die aktuelle „Lucia di Lammermoor“-Produktion der Wiener Staatsoper ist ein Erbstück der Direktion Dominique Meyer. Es handelt sich um eine Inszenierung von Laurent Pelly, die von der Opera Philadelphia nach Wien geholt wurde. Premiere war im Februar 2019. Seither wurde das Werk nicht mehr an der Staatsoper gespielt. Doch auch nach drei Jahren hat sich der Eindruck, den die Inszenierung hinterlässt, nicht gebessert. Pellys Sicht der Dinge ist die auf eine Winterlandschaft. Kalt ist es in Schottland. Vielleicht phantasiert sich Lucia im eisigen Gefühlsnotstand eine Liebesgeschichte herbei?

Dazu gesellen sich allerhand handwerkliche Missgriffe wie die durch Kulissenelemente künstlich verkleinerte Bühne im Hochzeitsbild, das dem Chor zu wenig Platz lässt (Bühne: Chantal Thomas) oder der „Zwischenvorhang“ im Turmbild. Die Auftritte des Chores sind durchwegs schlecht gelöst. Die wichtigen Personen halten sich zu oft am Bühnenrand auf. Das Bühnenbild bildet zudem zur rechten Seite hin einen kleinen Hügel. Als Landschaftselement ist er verständlich, als Teil der Schlossarchitektur seltsam – und die Sänger werden im Spiel behindert und müssen aufpassen, dass sie nicht ausrutschen.

Die Wahnsinnsszene enthält ein paar unnötige „Beigaben“. Warum muss sich Lucia auf den Boden legen, warum über Sessel balancieren? Dabei strauchelt sie fast – ein Regiegag in die Koloraturen eingepasst. Aber vor dem Hintergrund der fragwürdigen Regiemoden, denen sich die derzeitige Staatsopern-Direktion geneigt zeigt, handelt es sich um eine geradezu handzahme Produktion und der Inhalt bleibt erkennbar. Trotzdem werden sich viele Besucher noch an die alte Inszenierung von Boleslaw Barlog in den Bühnenbildern von Pantelis Dessyllas erinnern. Sie stammte aus dem Jahr 1978 und wurde bis 2012 über 150mal gespielt – und würde immer noch gute Dienste leisten.

Musikalisch kann sich diese „Lucia“-Serie aber hören lassen (nachstehende Eindrücke beziehen sich auf die erste und dritte Vorstellung). Lisette Oropesa ist eine Lucia zum Mitfühlen: Im zweiten Bild noch gedrängt von der Ungeduld und romantisierenden Melancholie eines verliebten Teenagers, macht sich bei ihr im dritten Bild schnell eine schreckliche Hoffnungslosigkeit breit. Immer stärker bedrückt Lucia die fatale Familiensituation, bis es zur Katastrophe kommt. Oropesa ist eine unglaublich emphatische Sängerin, gestaltet Lucias Schicksal so richtig zum Mitfühlen.

Ihr lyrischer Koloratursopran stützt sich auf eine leicht dunkle, mit feinem Seidenglanz getönte Mittellage, die frei zu strömen vermag, und dem Publikum einen direkten Weg zum Herzen des verkörperten Bühnencharakters eröffnet. Die Stimme trägt gut, aber sie ist nicht groß. Ihre Spitzentöne scheinen bereits ein wenig außerhalb dieser „Komfortzone“ liegen, können auch etwas eng und manchmal zu stark forciert klingen. Ihre Lucia ist eine ältere Schwester der Gilda, ohne primadonnenhafte Allüren bleibt sie ihrem Charakter treu.

In der Vorstellung am 16. April wurde sie im ersten Teil der Wahnsinnsarie von einer Indisposition gestreift, worauf sie diesen ohne Spitzenton abschloss, um sich danach mit einem schnellen Schluck aus einer Wasserflasche zu behelfen, die ihr Edgardo auf die Bühne geschmuggelt haben dürfte. Im Finale riskierte sie dann doch noch kurz das vom Publikum erwartete „hohe Es“. In der Aufführung vom 24. April nützte die Sängerin praktisch alle Möglichkeiten, um hohe Effekttöne einzulegen. In der Kavatine des zweiten Bildes hat sie in dieser Vorstellung noch ein wenig die Bestform gesucht, ehe ihr dann eine souverän durchgestaltete Wahnsinnsszene gelang.

Benjamin Bernheim gab den Edgardo. Bernheims Tenor besitzt ein leicht baritonales Leuchten und viel Energie. Sein Edgardo beschwor volltönend die Virilität von glanzvollen Tenorstimmen alter Opernzeiten – und alleine das ist heutzutage schon ein rares Vergnügen. Aber sein Wiener Rollendebüt als Lucias Lover kam vielleicht um ein paar Jahre zu spät. Die belkanteske Eleganz eines Juan Diego Florez, der die Premiere gesungen hat, besitzt die Stimme nicht, dafür kann Bernheim seine Emotionen viel kräftiger ins Auditorium verströmen. Ob man dabei nicht eher an einen Don José denkt, an einen Don Carlo(s), an einen Hoffmann? Das Ausmalen fragiler Seelenregungen war an diesem Abend Lisette Oropesa vorbehalten. Darstellerisch war Bernheim von der Inszenierung nicht gefordert. Die Regie hat sich vor allem auf Lucia konzentriert.

George Petean singt seit vielen Jahren auf hohem Niveau und hat vor drei Jahren bereits die Premiere bestritten. Petean gelang es dieses Mal, dem Bühnencharakter mehr Intensität und sattere Spitzentöne abzugewinnen. Nicht nur das Turmbild geriet in Kooperation mit Benjamin Bernheim recht fein, auch schon das erste Bild mit dem „Cruda, funesta smania”. Roberto Tagliavini sang einen gepflegten Raimondo. Josh Lovell sang den Arturo mit seinem jugendlich, lyrischhellen Tenor zu gut, um nach der Hochzeit gleich „abserviert“ zu werden. Sein Arturo war sympathisch, machte einen um Lucia besorgten Eindruck. Dass er wegen Edgardo nachfrägt, kann man ihm nicht vorwerfen. (Könnte man in der nächsten „Lucia“-Neuproduktion Arturo nicht überleben lassen und die Wahnsinnsarie für Tenor einrichten? Achtung! Die Staatsoperndramaturgie spitzt bei dieser Idee sofort die Ohren!) Patricia Nolz gab eine Alisa mit Stimmqualität. Für den Normanno sorgte Hiroshi Amako.

Evelino Pidò hat bereits die Premiere dirigiert. In der Wahnsinnsszene bekommt man eine Glasharmonika zu hören, in deren schwingendem, schwebendtrübem Klang sich die der Welt entziehende Gemütsverfassung Lucias widerzuspiegeln scheint. Das Staatsopernochester klingt unter Pidò meist ein wenig nüchtern. Hat man in der Vorstellung vom 16. April etwas animierter gespielt? Vielleicht. Das Publikum war von Oropesa und Bernheim in beiden Vorstellungen sehr angetan, am 24. April gab es zehn Minuten langen Schlussapplaus.

PS: FFP-2 Masken müssen seit Mitte April keine mehr getragen werden. Es wird nur empfohlen, welche zu tragen. Das Haus war sehr gut besucht.