ANNA BOLENA

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Wiener Staatsoper
19. Februar 2022


Dirigent: Giacomo Sagripanti

Enrico VIII - Erwin Schrott
Anna Bolena - Diana Damrau
Lord Riccardo Percy - Pene Pati
Giovanna Seymour - Ekaterina Semenchuk
Lord Rochefort - Dan Paul Dumitrescu
Smeton - Szilvia Vörös
Sir Hervey - Carlos Osuna


„Manon am englischen Hof?“

(Dominik Troger)

Die Wiener Staatsoper hat in den letzten Wochen dem Publikum gleich vier Wiederaufnahmen präsentiert: Auf „Peter Grimes“, „Manon Lescaut“ und „Die tote Stadt“ folgte Gaetano Donizettis „Anna Bolena“. Nachstehende Zeilen widmen sich der dritten Vorstellung der Aufführungsserie.

Weil der Schreiber der Zeilen eine COVID-bedingte Auszeit nehmen musste, konnten „Manon Lescaut“ und „Die tote Stadt“ nicht besucht werden. Aber das ist im Vergleich zur Geschichte um Anna Bolena natürlich nicht der Rede wert. Denn mit Henry VIII. hat sich Frau besser nicht vermählt. Ein englischer Auszählreim fasst das Schicksal seiner Gemahlinnen prägnant zusammen: „Divorced, Beheaded, Died – Divorced, Beheaded, Survived“. Anna Bolena hatte leider nicht das Glück, beim Auszählen mit dem Leben davonzukommen, aber immerhin – das ist für sie wahrscheinlich nur ein schwacher Trost – hat Gaetano Donizetti auf ihr Schicksal eine seiner besten Opern komponiert.

Im Haus am Ring kam „Anna Bolena“ vor elf Jahren zu Erstaufführung, die luxuriöse Besetzung mit Anna Netrebko und Elina Garanca wurde auch auf DVD verewigt. Edita Gruberova sang die letzte Aufführungsserie im Herbst 2015. Obwohl die Produktion in der Regie von Eric Génovèse erst 21. Aufführungen „alt“ ist, ist sie durch die genannten Namen geadelt und praktisch schon „historisch“ geworden. Und wer auch immer jetzt und in Zukunft an der Wiener Staatsoper in die geschmackvollen Kostüme der Anna Bolena schlüpft, der Schatten solcher Vergangenheit ist lang.

Diana Damrau ist eine frischgebackene Anna Bolena und als solche von ihrem Rollendebüt Ende letzten Jahres in Zürich nach Wien „weitergereist“. Damraus wendiger Sopran glitzert hell und fein vor manchmal leicht soubrettigem Hintergrund – aber soll das opernhafte Schicksal kräftiger und zupackender gemalt werden, können nicht nur die Spitzentöne schnell gestresst klingen. Die Sängerin hat sich die Partie jedoch gut zurecht gelegt. Ihre Anna Bolena wurde von einer mädchenhaft anmutenden Selbstgewissheit getragen, die durch die misslichen Umstände mit dem Fortschreiten der Handlung zunehmend verloren geht. Mit leicht manieriert anmutender Gestik unterstrich sie ihren stark auf Ausdruck bedachten Gesang. Sie fand ihre Stärken in den zarten Momenten, wo sie mit naiver Unschuld ihre Klage an Gott richtete oder sich im Wahnsinn der brutalen Realität versagte. Die heroischen Steigerungsmomente waren weniger ihre Sache und verblassten wie das finale „Coppia iniquia“. In diesen Passagen fehlte es der Stimme zu deutlich an dramatischem Impetus.

Wo Damrau klug mit ihren Ressourcen haushielt, gab ihre Gegenspielerin Ekaterina Semenchuk Vollgas. Nach einem „unrunden“ Beginn hatte die Sängerin ihren Mezzo soweit bezähmt, dass man sich von ihr eine Azucena gewünscht hätte oder sonst einen „saftigen“ Verdi. Semenchuck hat die Giovanna Seymour bereits 2015 in Wien gesungen – und mein Eindruck von damals hat sich an diesem Abend nicht nur bestätigt, sondern „potenziert“: Ihr kraftvoller, satter Mezzo ist der Partie entwachsen und er stand in starkem Kontrast zu Damraus gesanglichem Spitzenklöppeln. Die leidende Energie mit der Giovanna Anna Bolena um Vergebung bat, hätte die Mauern von Windsor Castle sprengen können.

Enrico VIII. war an diesem Abend ein Raubein, ein von Leidenschaften getriebener und hintertriebener Bühnencharakter. Wahrscheinlich haben alle Wiener Rollenvorgänger diese Partie „schöner“ gesungen, aber keiner hat wie Erwin Schrott die Figur derart mit brachialer Wahrhaftigkeit verkörpert. Die dramaturgische Funktion hat er bestens ausgefüllt und mit seinem lauten, nicht gerade belcantesken Organ hat er die lyrischen Avancen Annas wie eine zarte Hand zerdrückt.

Es war spannend zu hören und zu sehen, dass sich Pene Pati, den es aus der fernen Südsee auf die Opernbühnen der Welt getragen hat, als Percy gegenüber diesem dominanten Herrscher gut zu behaupten wusste. Der Sänger bewies Mut und eine sichere Höhe – was in dieser Partie nicht ganz unwichtig ist, in der man sich mit gelungenen Acuti viele Fans erobern kann. Der Stimmfarbe haftete da und dort noch leicht „nemorinohaftes“ an, aber die Naivität, mit der Percy in Liebesdingen agiert, und seine romantische Todessehnsucht lassen das schon zu. Patis Sinn für Italianità wog zudem manch leichte nasale Verfärbung und eine leichte Verengung bei den Spitzentönen auf. Fazit: ein interessante Erstbegegnung. Der Sänger kam sehr sympathisch über die Rampe, seine körperliche Statur vermittelte viel darstellerische Gemütlichkeit und wenig Lust auf „Action“.

Mit Szilvia Vörös steuerte eine gediegene Ensemblekraft den unglücklichen Smeton bei, Dan Paul Dumitrescu einen „großväterlich“ wirkenden Lord Rochefort. Dazu gesellten sich noch Carlos Osuna (Sir Hervey) als Stichwortgeber und der bewährte Staatsopernchor. Eher ein Schwachpunkt des Abends war das Orchester unter Giacomo Sagripanti, der vieles verschleppte und keinen Esprit entfachte. Dergleichen würde man sich von einer Wiederaufnahmen-Serie nicht erwartet haben, aber vielleicht lag es an COVID-bedingten Dispositionsproblemen.

Das Publikum war offensichtlich sehr zufrieden, Damrau wurde allen voran bejubelt, die Applauslänge war mit knapp zehn Minuten recht ansprechend. Das Haus war – bis auf einige Randplätze – sehr gut gefüllt, auch der Stehplatz (der wegen COVID immer noch eingeschränkt verfügbar und mit Stühlen bestückt ist): Erste Touristen haben ihn bereits wieder für sich entdeckt. Die vor zwei Wochen verkündete Lockerung bei den COVID-bedingten Zutrittsbedingungen zeigt Wirkung.

PS: Ist es nicht tröstlich, wenn man über die Inszenierung kein Wort verlieren muss? Gut, über dieses „szenische Arrangement“ muss man wirklich kein Wort verlieren – und außerdem stand mit Diana Damrau ohnehin eine versierte Singschauspielerin auf der Bühne.

Die Besprechung ist zuerst in leicht veränderter Form auf der Website des Onlinemerker erschienen.