PELLEAS ET MELISANDE
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Wiener Staatsoper
18. Juni 2017
Premiere

Musikalische Leitung: Alain Altinoglu

Regie, Bühne und Licht: Marco Arturo Marelli Kostüme: Dagmar Niefind

Arkel - Franz-Josef Selig
Geneviève - Bernarda Fink
Pelléas - Adrian Eröd
Golaud - Simon Keenlyside
Mélisande - Olga Bezsmertna
Der kleine Yniold - Maria Nazarova
Arzt - Marcus Pelz

 


Nicht Fisch, nicht Fleisch
(Dominik Troger)

Kurz vor Saisonschluss hat die Wiener Staatsoper noch eine Premiere angesetzt: Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ kehrte nach rund einem Vierteljahrhundert Abwesenheit ins Haus am Ring zurück.

Die Wiener Staatsoper hat Marco Arturo Marelli mit der Inszenierung beauftragt – und Marelli hat sein für die Deutsche Oper Berlin entwickeltes Regie- und Bühnenbildkonzept (Premiere im Jahr 2004) nach Wien transferiert. Das Einheitsbühnenbild zeigt altersschwache, betongraue Gebäudefundamente, die eine große Wasserfläche umgeben. Diese Fläche ist immerhin so tief und so groß, dass sie mit einem weißen Ruderboot befahren werden kann. Es gibt keine Bäume, keinen Wald, keinen Garten. Schon am Beginn wird Gouloud mit Gummistiefeln und Flinte wie auf Entenjagd durch das Wasser stapfen – und Mélisande finden. Berührungsängste mit dem feuchten Element dürfen die Sängerinnen und Sänger also keine haben.

Der größte Nachteil der Inszenierung liegt darin, dass sich Marelli offenbar nicht hat entscheiden können, was er möchte: eine moderne psychoanalytische Deutung oder eine symbolistisch-märchenhafte Umsetzung. Golaud ist zum Beispiel Bestandteil einer analytischen Deutung. Er ist offenbar schon am Beginn psychisch schwer angeschlagen, richtet die Flinte gegen sich selbst. Außerdem ist er ein notorischer Trinker und süffelt immer wieder aus einem Flachmann. Die Chance, die langsame Zerrüttung Golauds in seinem Verhältnis zu Melisande aufzuzeigen, hat Marelli dadurch vertan.

Und Simon Keenlyside, als Golaud stimmlich bestens in Schuss, ist auch nicht gerade ein „Märchenerzähler“, sondern inzwischen gewissermaßen der Bühnenneurotiker vom Dienst. Wenn er sich im Finale bloßfüßig und völlig gebrochen der sterbenden Mélisande nähert, sind sein Macbeth oder sein Rigoletto nicht mehr sehr weit entfernt. Zu guter Letzt erfolgt mit besagter Flinte noch ein angedeuteter Selbstmordversuch, aber Ynold hindert ihn daran. Dieser Ynold ist vor allem ein hyperaktives Kind, das verhaltensauffällig durch die starre Betonlandschaft wirbelt.

Dem psychisch angeschlagenen Golaud steht eine eher blass gezeichnete Mélisande gegenüber, die kaum jene Aura entwickelt, die man dieser nixenhaften Frau mit ihrer wunderbaren Haarpracht gerne zuschreiben möchte. Auch hat Olga Bezsmertna als Mélisande in ihren schönen Gesang kaum ein ausdrucksmäßig gestaltetes Geheimnis eingeschlossen. Die Todesszene, wenn Dienerinnen bedeutungsvoll herbei kommen und Mélisande in diesem weißen Ruderboot über den Teich in eine Morgen- oder Abendrot verhangene Ferne entführen, bringt eine kitschig anmutende Traumwelt in die Inszenierung ein. Die optische Diskrepanz zum Flachmannträger ließ sich dann nur mehr schwer überbrücken – war Melisánde vielleicht eine Botin aus einer besseren Welt, eine Art von Lohengrin, der auf Erden nichts vermochte?

Pelléas steht dazwischen, sehnt sich nach der Traumwelt von Mélisande als Fluchtpunkt. Adrian Eröds Bariton zeigte sich wasserfest und höhensicher, und der Sänger konnte sich als naiv-leichtfüßiger Gegenspieler zu Golaud sehr gut in Szene setzen. Das Traumland hat er freilich auch nur gestreift, von Mélisande nicht wirklich herausgefordert. (Dass die Regie die erotisch-nächtliche Haarszene zu einer leicht läppische wirkenden Pantomime auf dem Kiel des am Strand geparkten und umgestürzten Ruderbootes umfunktioniert hat, ist ohnehin ein schwer verzeihlicher Fauxpas.)

Das Orchester unter Alain Altinoglu erreichte nicht die schillernde Farbskala symbolistischer Träume, klang fast ein wenig nüchtern, manchmal ein bisschen „wagnerisch“ aufwallend. Neben längeren, wenig animierenden Phasen, gab auch einige starke Szenen – wie jene zwischen Golaud und Ynold, als dieser den Knaben dazu nötigt, Mélisande ins Schlafzimmerfenster zu schauen. Dort wo die Oper ganz offensichtlich „bühnendramatisch“ wird, war Spannung vorhanden. Aber es gelang zu wenig deutlich, die Seelenzustände der Figuren aus der Musik gleichsam mit dem Spürsinn für subkutane Erdbeben zu modellieren.

Bernarda Fink gab als unauffällige Geneviève ihr spätes Hausdebüt im Haus am Ring. Franz-Josef Selig steuerte ebenfalls eine versierte Stimme bei, Maria Nazarova gab einen springvergnügten, stimmsicheren Ynold. Der Arzt, Markus Pelz, befleißigt sich übrigens moderner Heilkünste, hat dem im Rollstuhl sitzenden Arkel im zweiten Bild immerhin eine Infusion verordnet. Aber trotz durchwegs guter bis sehr guter Gesangesleistungen vermochte mich der Abend wenig zu fesseln. Der Schlussapplaus dauerte rund 11 Minuten lang.

PS: Der blendenartig ineinander verschachtelte, aus mehreren Teilen bestehende Bühnenvorhang verhedderte sich beim Öffnen im dritten Akt nach der Szene in den unterirdischen Gewölben und öffnete sich nur zum Teil. Pelléas sang sein „Ah! Je respiere enfin!“– und dann wurde die Aufführung für einige Minuten unterbrochen, um die Kalamität zu beseitigen. Das Publikum wartete die Unterbrechung ruhig ab.