PELLEAS ET MELISANDE
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Theater a.d. Wien
13.1.2009
Premiere

Musikalische Leitung: Bertrand de Billy

Inszenierung & Kostüme: Laurent Pelly
Bühne: Chantal Thomas
Licht: Joël Adam


Radio-Symphonieorchester Wien
Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)

Neuproduktion des Theater an der Wien

Mélisande - Natalie Dessay
Pelléas - Stéphane Degout
Golaud - Laurent Naouri
Arkel - Phillip Ens
Geneviève - Marie-Nicole Lemieux
Médecin / Le berger - Tim Mirfin
Yniold - Beate Ritter

 


Vibrierende Erregungszustände
(Dominik Troger)

Die Neuproduktion von „Pelleas et Mélisande“ im Theater an der Wien entdeckt vibrierende Erregungszustände hinter dem Schillern von Debussys-Partitur: eine spannende Aufführung, umgesetzt von sehr guten SängerInnen und einem bestens eingestellten RSO Wien unter Bertrand de Billy.

Wenn Mélisande ihren Ring verliert, dann versetzt er das Wasser in Bewegung, in das er eintaucht. Das „schlafende Wasser“ wird aufgeweckt, die Seelen von Mélisande und Pelleas bilden Strukturen der Zuneigung aus. Dieser Abend erzählte viel von der Strukturbildung psychischer Prozesse, gliederte den zeitlos erscheinenden Strom von Debussys Musik in Entwicklungslinien fataler zwischenmenschlicher Beziehungen.

Man mochte dabei an eine psychotherapeutische Sitzung denken, an das schicksalshafte Anprallen jenes berühmten Skarabäus mit dem Carl Gustav Jung sein Konzept der Synchronizität zu erläutern suchte – und man mag daran gedacht haben, dass Golauds Pferd in dem Augenblick scheut, in dem Mélisande den Ring verliert. Hier verschränkt sich das Banale mit dem Bedeutungsvollen – und irrt doch unaufgelöst durch die unbewussten traumatischen Erinnerungen des eigenen Lebens: es mag Zufall sein, dass Golaud auf Mélisande stößt, es ist kein Zufall, wie die Geschichte endet.

Das Inszenierungskonzept von Laurent Pelly beließ dem Werk optisch die Zwielichtigkeit albtraumhafter Unbestimmtheit in einer offenbar bürgerlichen, aber durch psychische Prozesse seltsam verfremdeten, kühlen Welt: der stilisierte Wald, der wie Säulenpfeiler aus Sockeln wächst; der Turm, von dem Mélisandes Haar wallt, karg aber deutlich in seiner Symbolik, gebaut aus kahlem Gestämm, hochstandähnlich, mit ein paar Aststummeln wie Überbleibsel dicker, abgeschlagener Arme; das Schiffswrack wie Teile eines angeschwemmten Walskeletts; das bürgerliche Schlafzimmer, mit den ungleich verlegten Bodenplatten, seltsame, Optik verzerrende Psychologie; dazu der Brunnen mit herbstlichem Laubengeäst, kein Blattgrün, nirgendwo – und die Drehbühne folgte den Stationen mit dem Fatalismus einer Automatik.

Eine agile und sehr „realismusnahe“ Personenregie löste die Figuren aus dem bläulichen Halbschatten des Bühnenraums. So wurde schmerzhaft deutlich, wie Golaud langsam sich selbst entgleitet, bis er mit harscher Brutalität gegen Mélisande und Pelleas agiert. Mélisande als mädchenhaftes, zartes Rätselwesen lockte Pelleas mit halbbewusstem Flirten oder verströmte eine stille Traurigkeit. Pelleas, ein Leidender selbst, gab verunsichert seiner Liebe nach und verlor sich im Rausch des tödlichen Stelldicheins. Pelly nahm die Handlung beim Wort und setzte sie sehr deutlich in Szene, was vor allem in einer starken Aufwertung von Golaud kulminierte, der von dem Augenblick, in dem Mélisande den Ring verliert, zunehmend aus seinem seelischen Gleichgewicht gerät. Er leistet sich schließlich körperliche Übergriffe, die in einer angedeuteten Vergewaltigung und in einem Mord enden. Zuletzt möchte er sogar der Sterbenden noch eine Absolution aus ihrem Leib schütteln.

Ebenso hat Bertrand de Billy mit dem vorzüglich aufspielenden RSO Wien der Partitur eine Dramaturgie des zeitlichen Wandels und der dramatischen Exposition verliehen, die nicht mehr die zeitlose „Klanghaftigkeit“ des Märchens, sondern die Prozesshaftigkeit der psychischen Entwicklung unterstützt. Das pulsierte dann wie Blut in unter der Haut bläulich schimmernden Adern – und in Momenten der höchsten Anspannung bebte und zuckte die Musik unter dem Schmerz der Protagonisten. De Billy suchte und fand den Musikdramatiker Debussy, er gab ihm Halt und Ziel und entging so der Gefahr eines sich verwässernden, sich im Unbestimmten auflösenden musikalischen Klangrausches. Man erkannte dann auch, wie nahe Debussy eigentlich bei Wagner liegt.

Vorzüglich war die Besetzung in Spiel und Gesang: Laurent Naouri als introvertierter, gefährlicher Golaud dem Stück für Stück der Boden unter den Füßen weggezogen wird; Natalie Dessay als Mélisande, zart und schüchtern, und dann doch von einer lasziven Verführungskunst und mit resignativer, kühler Traurigkeit im Sterben; Stéphane Degout, mit seinem hellen, jugendlichen Bariton, als scheuer und immer drängender werdender Liebhaber. Phillip Ens war als Arkel der ruhende Pol, ein altersweiser Rest humanen Empfindens in diesem seltsamen Haus; Beate Ritter schlüpfte in die Rolle eines Kindes und bot als Yniold gesanglich und schauspielerisch eine überzeugende Leistung. Marie-Nicole Lemieux (Geneviève), und Tim Mifrin als Arzt rundeten das Ensemble ab.

Dass es am Schluss ein paar Buhrufe gegen das Regieteam gab, kann wohl nur daran gelegen haben, dass es manchen Besuchern a) zu wenig progressiv oder b) zu wenig „symbolistisch“ gewesen ist. Das Ensemble sowie Dirigent und Orchester erhielten viel Beifall und Bravorufe. Die Aufführung dauerte inklusive einer Pause über drei Stunden.