IL PRIGIONIERO (DER GEFANGENE)
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Wiener Volksoper
5.3.2003
(Premiere 28.2.2003)

Musikalische Leitung: Thomas Hengelbrock

Inszenierung: Tatjana Gürbaca
Bühnenbild: Werner Hutterli
Kostüme: Ingrid Erb

Die Mutter - Foula Dimitriadis
Der Gefangene - Morten Frank Larsen
Der Kerkermeister / Großinquisitor - Kurt Schreibmayer
1. Priester - Frederick Greene
2. Priester - Pavel Kudinov
Kind - Clemens Bauer


"Vom Staub der 50er Jahre und wie man ihn leider nicht losgeworden ist"
(Dominik Troger)

Als recht zugkräftig hat sich Dallapiccolas „Il Prigioniero“ für die Volksoper anscheinend nicht erwiesen. Die dritte Aufführung, keine Woche nach der Premiere, ging vor einem beschämend schlecht gefüllten Haus über die Bühne.

(1) Der zweite Rang fasst schätzomatisch knapp 400 Sitzplätze, plus rund 50 Stehplätze. An diesem Abend haben sich keine 50 Besucher auf den II. Rang verirrt – das meiste davon waren als Opernenthusiasten bekannte Stehplatzbesucher. Zumindest die Randzonen der I. Rangplätze waren ebenfalls großflächig leer, ebenso die meisten Logen. Parkett und Paterre waren einigermaßen zufriedenstellend gefüllt – das war zumindest mein Eindruck, soweit ich das Haus überblicken konnte.

(2) Dabei ist Dallapiccolas „Il Prigioniero“ auch schon wieder über 50 Jahre alt und dank softiger 12-Tonpartitur mit packend-barbarischen Einsprengseln ein für die Zuhörer musikalisch sehr dankbares und fesselndes Werk. Die Geschichte vom Gefangenen der spanischen Inquisition, der sich an einer von seinem Gefängniswärter in Folterabsicht geschürten Hoffnung auf Freiheit nährt, um am Ende des rund 50 minütigen Werkes zu erkennen, dass das alles nur Trug war (der Scheiterhaufen wartet!), hat Dallapiccola sehr kompakt und mit visionärer Kraft in Musik gesetzt. Dabei hat er sich auch eine gewisse Leichtigkeit bewahrt, einen Hang zum ariosen Aussingen, zu einer musikalischen Dramatik, die bei aller klanglichen Verdichtung und existentiellen Parabelhaftigkeit des Genres sich einen letzten Rest südländischen Temperaments bewahrt – so wie die Harfenistin immer wieder mit ein paar Zupfern ein letztes Nachklingen von jener Hoffnung beschwört, die dem Gefangenen die Erlösung aus seinen Kerkerqualen vorgaukelt.

(3) Als Zuhörer wird man zwischen ausgewogener lyrischer Betroffenheit und wahren Klanggebirgen hin- und hergerissen, und das ansprechende Niveau der musikalischen Umsetzung mag einen durchaus überrascht haben. Mit der Hauptfigur des „Gefangenen“ verfügt das Werk über eine dankbare Rolle, die auch dem Zuseher eine Identifikationsmöglichkeit bietet und einen persönlichen Zugang erleichtert. Zwar hat die schon angesprochene „Parabelhaftigkeit“ samt dem „Ur-Existentialismus“ der fünfziger Jahre, der da zu Tragen kommt, schon ein bisschen Staub angesetzt, aber die Verbindung von Musik und „Dramaturgie“ ist sehr gut gelungen und hat eine abstrahierte Zeitlosigkeit. Dazu kommt der individuelle musikalische Stil Dallapiccolas, der – wie schon angesprochen – die Stringenz der 12-Tontechnik mit einem gesanglichen Melos versieht, was einer Oper ja nur nützen kann.

(4) Das Werk ist natürlich sehr kurz und dauert nicht einmal ein Stunde. In der Volksoper hat man sich nicht dafür entschieden, zwei Einakter zu koppeln und einen zeitgenössischen Opern-Abend daraus zu machen. Ich weiß nicht, was dagegen gesprochen hat. Vielleicht wollte man dem Publikum nicht zuviel zumuten. Aber wenn, dann war das eine Fehleinschätzung, weil anscheinend kommen auch zu einem „modernen Opern-Sprint“ nicht mehr Leute. Viel seltsamer mutet es an, dass man meinte, Dallapiccolas kompakte Opern-Parabel mit dem Eingangschor der Matthäus-Passion Rahmen zu müssen: der zu Beginn mit Chor als eine Art „Prolog“ und nach Ende des „Gefangenen“ als nur von den Instrumenten gespielte „Coda“ erklingt. Zwar wird dadurch eine emotionale Verstärkung der „Zuhörer-Betroffenheit“ erreicht, aber der Bach als Schlusspunkt saugt die 50 Minuten Dallapiccola in sich auf wie ein trockener Schwamm einen Wassertropfen. Und mit welcher Musik im Kopf geht man jetzt nach Hause? Die Idee wurde, so das Programmheft, vom musikalischen Leiter Thomas Hengelbrock und der Regisseurin Tatjana Gürbaca, geboren. Die Begründung für dieses Unterfangen, so Gürbaca, liegt darin, dass „sich die beiden Werke sehr gut ergänzen.“ Der Text dieses Eingangschores der Matthäuspassion schildere auch eine „Endzeitstimmung“: „Der Mensch hat sich durch eigenes Verschulden in eine schlimme Situation gebracht. Auf der anderen Seite ist die Musik Bachs immer geprägt von einer tiefen Liebe zur Kreatur.“ Einen besonders zwingenden Grund für diesen Mix kann ich daraus nicht ablesen. Dass es die Emotionalität verstärkt, gestehe ich zu. Dass es aber der Aneignung von „Il Prigioniero“ von Dallapiccola mehr schadet als nützt, liegt für mich ebenso auf der Hand.

(5) Während man über dieses Arrangement geteilter Meinung sein kann, zeugte die musikalische Umsetzung von sehr viel Engagement, und Thomas Hengelbrock hat es wieder verstanden, alle vorhandenen Ressourcen zu einem kompakten und dabei doch überraschend differenzierten musikalischen Ausdruck zu bündeln. Der Chor ist natürlich erprobt an der Bühnen-Dramatik und nicht gewohnt, sich die ätherische Vergeistigung einer kirchengesangsmäßigen Bach-Interpretation einzuverleiben.

(6) Sängerseitig durfte sich Morten Frank Larsen über einen persönlichen Erfolg freuen, abgesehen davon, dass die Partie des „Gefangenen“ auch von der musikdramatischen Wirkung her für jeden Sänger wirkungsvolle Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Als Kerkermeister verstand es Kurt Schreibmayer zu beeindrucken, auch wenn diese Rolle nicht so im Zentrum steht, wie die des „Gefangenen“. In der zweiten Szene hat der Kerkermeister eine „Arie“ zu singen, die ein starkes Differenzierungsvermögen erfordert, bis zum Einsatz des Falsetts, sowie eine starke Expressivität. Foula Dimitriadis war als Mutter kurzfristig eingesprungen.

(7) Die Inszenierung von Tatjana Gürbaca hat sich der zeitlosen Parabel verschrieben, die hier erzählt wird, auch wenn laut Dallapiccola die Handlung zur Zeit der Inquisition in Spanien spielt – und sie spielt in einem Bühnenraum, der eine Autostraße darstellt. Auf dieser Straße, die sich in einer nicht mehr einsehbaren Ferne des Bühnenhintergrundes verliert, durch eine sanfte Hügelkuppe optisch gegliedert, wird die Handlung dargestellt. Bei den Kostümen handelt es sich um graue Gewänder, Gummistiefel, ein wenig soldatisch angehaucht. Die Farbgebung ist überhaupt ziemlich grautönig, die Depression einer Schnellstraße, die mitten durch die Lebenswüste schneidet und auf der ein paar Menschen ihre Existenz „erleben“. Als „roter Faden“ dient ein kleiner weißer Papierflieger, die symbolisierte „Freiheit“, der am Schluss von einem Buben „weggetragen“ wird. Die Personenführung ist ein wenig stereotyp, die Chor-Choreographie, mit einem Scheinwerfer im Bühnenhintergrund, der zwischen den einzelne Sängern mal abgedeckt, mal eine Lücke erspähend, in den Zuschauerraum strahlte, angemessen. Man konnte sich aber es Eindrucks nicht erwehren, dass man den herrschenden Konflikt zwischen Gefangenen und Kerkermeister, dass man die ausweglose Gefängnis-Situation auch drastischer und mit einprägsameren Bildern und Gesten hätte umsetzen können. Das Parabelhafte lässt viel Freiraum für beklemmende Visualisierungen. Die gewählte Lösung zeichnet in den erwähnten „Staub der Fünfziger Jahre“ ein paar ganz hübsche Assoziationen, anstatt ihn einfach wegzublasen und gemäß der Dramatik des Werkes eine mitreißende szenische Entsprechung hinzumalen. Wahrscheinlich wäre das die einzige Chance gewesen, das Werk eines hierzulande nicht wirklich bekannten Komponisten für eine breiteren Besucherkreis interessant zu machen.

(8) Das Publikum spendete vielen und dankbaren Applaus, Larsen wurde mit Bravorufen bedacht.