THE TURN OF THE SCREW
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Theater an der Wien
14.9.2011
Premiere

Musikalische Leitung: Cornelius Meister

Inszenierung: Robert Carsen
Ausstattung: Robert Carsen, Luis Carvalho
Licht: Robert Carsen, Peter van Praet
Video: Finn Ross

ORF Radio-Symphonieorchester Wien

The Prologue | Peter Quint - Nikolai Schukoff
The Governess - Sally Matthews
Mrs. Grose - Ann Murray
Miss Jessel - Jennifer Larmore
Flora - Eleanor Burke | Julia Storm (abwechselnd)
Miles - Teddy Favre-Gilly | Stefan Leadbeater

(Am Premiereabend war nicht zu eruieren, welche Besetzung zum Zug kam)


Gespenstergeschichte mit doppeltem Boden

(Dominik Troger)

Brittens vermeintliche „Gruseloper“ steht nach fast zehn Jahren wieder auf dem Spielplan eines Wiener Opernhauses. Das Theater an der Wien setzte damit seinen verdienstvollen Britten-Zyklus fort.

Selten wird Britten in seinem Opernwerk so eindeutig-uneindeutig wie in „The Turn of the Screw“, 1954 uraufgeführt. Hinter einer Geistergeschichte, die auf einer Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Henry James beruht, lauern in einem abgelegenen englischen Landhaus Mitte des 19. Jahrhunderts sexuelle Abgründe und Kindesmissbrauch. Dort treiben zwei Geister ihr Unwesen, die sich an die Kinder Flora und Miles heranmachen. Die Gouvernante möchte die Kinder beschützen, aber Miles stirbt in Folge ihrer Bemühungen. Unbewältigte Traumen verdichten sich zu einer Atmosphäre des Schreckens. Oder entspringt alles nur der Einbildung einer überspannten Gouvernante? (Wer meint, es könnte mehr dahinter stecken, der sei unter Fußnote 1 auf einen interessanten Link verwiesen.)

In der Produktion des Theaters an der Wien unter der Federführung von Robert Carsen wird die Doppelbödigkeit des Stücks weitgehend aufrecht erhalten. Carsen, erstmals auch für die Ausstattung verantwortlich, brachte ein starkes cineastisches Moment in seine Inszenierung ein. Ein schwarzer, veränderlicher Rahmen schuf mal kleine, mal große Bühnenausschnitte, wie unterschiedliche Kameraperspektiven. Die Farbgebung erinnerte an einen zaghaft kolorierten Schwarzweiß-Film, und in einem Interview im Programmheft spricht er das hitchcockartige seiner Inszenierung an. Die gesamte Handlung wurde von ihm in das Haus verlegt. (Das förderte klaustrophobische Zustände, begrenzte aber die räumliche Wirksamkeit der beiden Gespenster – man denke an den von Britten intendierten spektakulären Auftritt von Miss Jessel im ersten Akt.)

Schon zum Prolog wurden altertümlich wirkende Dias, später Filmszenen eingeblendet, die der Vortragende alias Quint wie eine Präsentation vorführte. Sie zeigten, wie die Gouvernante den Vormund der Kinder trifft, den Auftrag erhält, wie sie zum Landsitz reist: oft Großaufnahmen des Gesichtes, ein wenig expressionistisch übersteigert. (Aus ihrer Bahnreise und ihrer Bekleidung lässt sich schließen, dass Carsen die Handlung etwas „nachdatiert“ hat, ohne aber britischen Charme und Zeitgefühl zu verletzen.) Das Finale des ersten Aktes wurde ebenfalls von einer Videosequenz begleitet, in der die sexuellen Bezüge vielleicht schon zu deutlich herausgearbeitet wurden.

So konnte man sich als Zuschauer weitgehend selbst einen Reim auf die Sache machen. Halluziniert die Gouvernante und wird dadurch zu einer Bedrohung für die Kinder? Oder ahnt sie, was mit den Kindern wirklich passiert ist und kleidet diese Erfahrungen aus Hilflosigkeit in eine bildhafte Symbolik ein? Liest man das Stück als sozialrevolutionäre Anklage puritanischer Moral und stellt den Verführungskünsten Quints dadurch einen „Persilschein“ aus? Oder berichtet die Geschichte aus der Perspektive der Erzieherin über die traumatischen Folgewirkungen eines Kindesmissbrauchs?

Carsen gelang vor allem ein packender erster Teil. Seine prägnante Personenführung und die kinoähnliche Vorgangsweise erzeugten die knisternde Atmosphäre eines düsteren Kriminalfilms – dem es im zweiten Akt aber an der ultimativen Steigerung ermangelte. Warum? Vielleicht hat Carsen die verführerischen Geister von Quint und Miss Jessel zu stark als „Personen“ gezeichnet. Sie waren in ihrer Gewandung und ihrem Auftreten zu greifbar, um sich als psychische Projektionen oder als Symbole sexueller Verführbarkeit zu erweisen. Wenn das „Böse“ zu deutlich Gestalt annimmt, erkennt man zu viel Menschliches an ihm.

Das Ensemble hinterließ – wie meist im Theater an der Wien – einen sehr geschlossen Eindruck. Die Governess der Sally Matthews, erklang mit beherztem und manchmal etwas harschem Sopran. Man mag das einem Rollenverständnis zurechnen, das laut Carsen eine Person „mit starken Verdrängungsmechanismen“ charakterisieren soll. Ihr Spiel war beeindruckend, von innerer Unruhe getrieben, stellte sie eine durch die Vorgänge zunehmend irritierte junge Frau dar.

Ein ebenso starke Bühnenpersönlichkeit präsentierte sich in der von Ann Murray gegebenen Mrs. Grose. Doch von einer alten „Haushälterin“ wird man keinen blumig-jungen Mezzo erwarten dürfen, in einigen Passagen klang ihre Stimme schon sehr „markant“.

Nikolai Schukoff ließ einen für meinen Geschmack zu nüchternen Tenor hören, wodurch sich die „reale Präsenz“ der Geister noch verstärkte. Hier wäre ein feinsinnigeres Timbre von Vorteil gewesen, um die gespenstische Verführungskraft, die dieser Figur innewohnt, deutlicher herauszustreichen. Jennifer Larmore hatte als Miss Jessel eine kurze und etwas undankbare Aufgabe, die sie passend umsetzte. Die beiden Kinder erfüllten ihre Aufgaben mit jugendlicher Frische, gesanglich sollte man die Maßstäbe nicht zu eng anlegen.

Die klangsinnliche Verführungskraft von Brittens Musik kam weniger zur Geltung. Das RSO Wien unter Cornelius Meister vermittelte die knisternde Spannung eines Kriminalromans, packend im Zugriff, aber ohne „romantisches Schaudern“. Das blieb ein bisschen einförmig und unpersönlich, obwohl entsprechend Brittens Intentionen sehr differenziert und „solistisch“ agiert wurde. Die „Schraube“ saß schon von Anfang an recht fest, anstatt sich im Laufe des Abends immer weiter zuzudrehen.

Das Publikum spendete viel Applaus. Man sollte die Aufführung nicht versäumen.

(1) In diesem Zusammehang ist ein Text besonders interessant, der sich mit den lateinischen Librettostellen beschäftigt, etwa Miles „Malo“-Lied und seiner Aufzählung lateinischer Hauptwörter in der Unterrichtsstunde: http://www.guardian.co.uk/education/2002/jan/05/arts.highereducation